Ein Auszug aus - kassiber 45 - Mai 2001

Die Tutte Bianches, Zapatismus und Widerstandskultur in Italien

"Wir sind keine Armee von Träumern ..."


Spätestens seit den Protesten in Prag anläßlich des IWF/Weltbankgipfels sind die Bilder der Tutte Bianches, der weiß gekleideten und gepolsterten AktivistInnen aus Italien, wie ein Mythos um die ganze Welt gegangen. Hinter der Aktionsform verbirgt sich eine Suche nach einem Befreiungsprozeß aus den Zwängen der kapitalistischen Welt.

"Wir sind eine Armee von Träumern, deshalb sind wir unbesiegbar", schreiben die AktivistInnen auf ihren Transparenten und Broschüren. Nach Prag sind fast 900 AktivistInnen aus Italien mit einem Zug, dem Global Express, gekommen. Davon haben sich rund 100 aktiv an der Aktion der Tutte Bianches beteiligt. Hinter ihnen eine große Menschenmenge zur Unterstützung, neben ihnen die Medien der ganzen Welt und vor ihnen die Robocops des Staates mit Panzern, Wasserwerfern, Schlagstöcken und Pfefferspray. Die sogenannte Demokratie des IWF und der Weltbank hinter Panzer und Gitter.


Der Körper als Waffe des Zivilen Ungehorsams

"Wenn die Welt zu verkaufen ist, ist rebellieren selbstverständlich." Die Tutte Bianches sind gut ausgerüstet und benutzen dazu hauptsächlich billige Materialien und ihre Kreativität: Matratzen, alte Reifen, Baustellenhelme, Rettungsjacken, Armpolster aus Isomatten und Isolierband, Gasmasken, aber auch Luftballons, Wasserpistolen oder selbstgemachte Schutzschilder kann mensch in ihrem Repertoire finden.

"Gegen eine Welt in der das Geld alles regiert, bleiben uns nur noch unsere Körper, um gegen die Ungerechtigkeit zu rebellieren", meint Don Vitaliano, ein Pfarrer, der auch unter den Tutte Bianches zu finden ist. "Wir sind nicht bewaffnet, wir agieren als Menschen und setzen unsere Person ins Spiel. Wir fürchten uns vor der Polizeigewalt, deshalb schützen wir uns."

Diese Aktionsform begann vor knapp einem Jahr in Italien und überraschte alle durch ihren Erfolg. Im Januar 2000 gab es landesweite Mobilisierungen gegen Abschiebeknäste in Italien. Mehrere zehntausend Menschen sind dafür auf die Straße gegangen.

Die Demonstration gegen den Abschiebeknast Via Corelli war ein besonderer Erfolg. Die Tutte Bianches hatten ihre Entschlossenheit angekündigt, in den Abschiebeknast einzudringen und diesen zu schließen. Die mehreren Tausend Tutte Bianches marschierten vorne und mußten stundenlang Auseinandersetzungen mit der Polizei aushalten, bevor diese schließlich aufgeben mußte und die Leute ins Lager eindringen konnten. Abends kündigte der Innenminister die Schließung von Via Corelli an.

Die aufgeblasenen Reifen dienen dazu die Schlagstöcke der Robocops zurückprallen zu lassen. "Über 150 Tränengaspatronen haben wir bei dieser Aktion gezählt", grinst ein junger Aktivist. Die rauchenden Tränengaspatronen werden in Kisten oder unter Eimer geworfen, um sie zu neutralisieren. Es erinnert an eine Beschreibung Ghandis des zivilen Ungehorsams: "Feuer mit Wasser löschen." Seit dem sind Tutte Bianches auf vielen Mobilisierungen zu sehen: Antifaschistische Demos, Mobilisierungen gegen den OECD-Gipfel in Bologna oder gegen die Eröffnung der Gentech-Weltausstellung in Genua, bei der sie bis zum Eingang eingedrungen sind und die Ausstellung zum Fiasko werden ließen und eine nationalen Debatte erzwungen haben.


Zapatismus, Ya Basta und die Tutte Bianches

Ya Basta ist nicht gleich Tutte Bianches. Tutte Bianches ist hauptsächlich eine Aktionsform und ein Selbstverständnis. In ihr erkennen sich verschiedene Menschen, Gruppierungen und politische Strömungen und prägen somit die Gestaltung der Form. Ya Basta ist ein Netzwerk von Gruppen, die sich mit dem Aufstand der Zapatistas in mehreren Städten Italiens gebildet haben und eine der politischen Strömungen die zur Kristallisierung der Tutte Bianches beigetragen haben: "Die Zapatistas haben einen wichtigen Beitrag geleistet, mit ihren Ideen Politik zu machen, ohne um die Macht zu kämpfen. Wir versuchen diese Botschaft zu übersetzen und unsere eigene Ausdrucksform zu finden." Inspiriert wurden die AktivistInnen, als sie selbst bis in den chiapanekischen Dschungel Südmexikos anläßlich eines interkontinentalen Encuentros gereist sind. "Am Anfang haben wir vorhergehende Formen der Direkten Aktion diskutiert, der Sabotage, der revolutionären Gewalt usw. Wir haben daraus geschlossen, daß unter den aktuellen Bedingungen der Zivilgesellschaft, der Gebrauch unserer Körper als Waffe die Kräfte derjenigen Menschen freisetzen könnte, die zu den alten Formen und Schemen nicht geantwortet haben. Es ist eine kreative Form die andere Seite in ein Problem mit einzubeziehen. Mit gewaltfreien Mittel der Direkten Aktion, bleibt die Sprache der Gewalt auf der Seite der Polizei und des Staates. Klassische Demonstrationen beeindrucken sie nicht mehr, jetzt sind wir als BürgerInnen ungehorsam, sie schlagen zurück, aber wir verteidigen uns. Das zieht die Aufmerksamkeit der Menschen und gibt unserem Protest Echo."

Diese konfrontative Haltung macht Sinn: Das tiefverwurzelte (Selbst)Bild des Staates als Institution, welche die Interessen aller vereint, ist im neoliberalen Zeitalter stark am bröckeln, in Italien auf jeden Fall früher als in der BRD. Ein offen in Erscheinung tretender Interessengegensatz zwischen legitimen Bedürfnissen von BürgerInnen und staatlichen Maßnahmen ist eine gute Voraussetzung für emanzipative Prozesse, weg von der Forderung an den Staat, sozial abfedernd zu agieren oder ökonomisch steuernd zu intervenieren mit dem Anspruch, einen Wohlstand für alle zu sichern.

"Unser Beitrag ist eine radikale Form der Konfrontation, die über die klassischen Formen der Demonstration hinaus geht und die Möglichkeit einer Massenbeteiligung mit sichereren Methoden ermöglicht. Junge Leute sehen, daß der Einsatz ihres vor der Polizei geschützten Körpers klare Wirkungen hat. Die Bewegung wächst. Wir sind nicht eine politische Gruppe, es handelt sich um eine horizontale Bewegung, in der jede Person auf ihre besondere Weise zur Debatte und Organisation beiträgt. Alles ist untereinander verstrickt, es gibt Leute allen Alters. Alte Modelle von Avantgarden und Anführer sind vorbei."

In einem Flugblatt schreiben sie: "Wir haben uns eine neue Herausforderung gesetzt: aus dem Boden zu sprießen, um uns auf diese Weise in den Aufbau der Gesellschaft einzubringen, um die Selbstverwaltung und Selbstorganisation zu fördern, die in den letzten Jahren aufgebaut wurde. Wir wollen uns vom Widerstand in eine Offensive bewegen, hin in die Arena der Träume, der Rechte, der Freiheit, für die Eroberung der Zukunft, die heute den neuen Generationen verweigert wird." Wie die Zapatistas erkennt Ya Basta, daß die Befreiungsprozesse notwendigerweise kontinuierlich in Frage gestellt und neu definiert werden müssen . "Wir gehen mit Fragen auf unseren Lippen", sagen sie, "nicht mit Befreiungsstrategien, die als absolute Wahrheit festgelegt werden. Diese Tabus, die die Bewegungen der Vergangenheit charakterisiert haben, müssen hinter uns gelassen werden".


Die Rolle der Kommunikation: Die Unsichtbaren sichtbar machen

Die weißen Overalls werden als Symbol der Unsichtbarkeit getragen, als Idee der "nicht-Identität" (siehe "sans papiers"). Die Aktionsform hat eine stark symbolische Wirkung und kommunikative Stärke. Für sie entspricht der Aufbau einer Gesellschaft der Praxis einer sicheren Identität, aber mit offenen Beziehungen. Sie versuchen viele anzusprechen und in den Konflikt mit einzubeziehen, dazu wollen sie "Kommunikationsräume erobern".


Organisation und "Centri Soziale"

Organisisiert sind die AktivistInnen zum größten Teil in ihren "sozialen Zentren", besetzte und selbstverwaltete Häuser oder Gelände, die in vielen Städten zu finden sind. Wie schon erwähnt, findet mensch hier Leute, die sich zu Ya Basta zählen oder nur zum sozialen Zentrum oder beides. Auf der Straße sind aber alle unter "Tutte Bianches" zu finden. Das wohl größte und beeindruckendste Centro Soziale ist das Leoncavallo in Mailand, das eine lange Widerstandsgeschichte hat. Das Gelände ist enorm: mehrere Räume, Cafés, Bühnen, eine Kantine, ein Buchladen, Büro- und Plenumsräume, ein Konzertraum in dem Konzerte für 5.000 Leute veranstaltet werden können und noch viel mehr. Alles selbstverwaltet. Auffällig ist, daß mensch nicht nur junge Leute sieht, sondern alle Generationen. Eine Kontinuität in der Widerstandsgeschichte ist spürbar.

Eine ältere Frau, die hier als "la madre" vorgestellt wird, erzählt Geschichten, unter anderem, wie sie in Argentinien war und die "madres de la plaza de mayo" getroffen hat. Sie sagt, daß über 1.000 Gerichtsverfahren gegen etwa 200 Leute aus dem Centro Soziale am laufen sind, daß sich aber alle kollektiv den Ermittlungen entgegenstellen. "Wir machen weiter", sagt sie mit einem strahlenden Lächeln, während sie die Kippenfilter von einer Veranstaltung wegfegt. Sie scheint jede und jeden im Haus zu kennen. Die Centri Soziale sind alle untereinander vernetzt und mobilisieren oft gemeinsam, wie zum Beispiel nach Prag. In jedem Centro Soziale bestehen kleine Bezugsgruppen, die bestimmte Rollen in der Aktion der Tutte Biaches üben und sich Gedanken zur Schutzkleidung machen.


Grüne Züge

Einer der Erfolge der Italienischen AktivistInnen ist es, mit "Grünen Zügen" zu Protesten reisen zu können. Erkämpft haben sie sich dieses Recht durch Direkte Aktion. Die Überlegung ist unkompliziert: "Wir wollen dort protestieren, wo sich die Macht konzentriert und viele sich gemeinsam artikulieren wollen. Wir sehen es als legitim an, dorthin mit öffentlichem Transport billig oder umsonst reisen zu dürfen." Die AktivistInnen verhandeln mit der Bahn über einen Zug. Die Leute, die mitfahren, können nach Selbsteinschätzung einen Beitrag zahlen oder auch nicht, das Geld wird dann an die Bahn gegeben. In anderen Ländern wie Frankreich und den Niederlanden hat die Idee auch schon Fuß gefaßt. Der Transport ist innerhalb Italiens immer erfolgreich, nach anderen europäischen Städten manchmal problematisch wie zuletzt nach Nizza, wo der Global Express von der französischen Armee und den CRS angehalten wurde.


Perspektiven

Die Tutte Bianches sind gerade dabei, ihre Aktionsform auf "internationalen Bühnen" wie Prag, Nizza (gescheitert) und Davos vorzustellen. Sie gewinnen an Dynamik und Unterstützung. Die Aktionsform greift auch schon auf andere Länder über. In Spanien sind kurz nach Prag im Rahmen von den Antirepressionsaktionen gegen den tschechischen Staat auch weiß gepanzerte Menschen auf den Straßen von Madrid zu sehen gewesen. Englische Reclaim-the-Streets-AktivistInnen haben schon überlegt, ganz durchsichtige Rüstungen zu bauen, in denen nackte Frauen auf die Polizei losgehen - um die Polizisten mit der Idee zu konfrontieren, eine nackte Frau zu schlagen - und die Rüstungen mit kleinen drahtlosen Kameras auszurüsten, die dann die Bilder aus ihrer Sicht live ins Internet einspeisen. Was auf jeden Fall deutlich wird ist, daß die Aktionsform ausgebaut werden kann und daß mehr Menschen sie sich aneignen können. Im Juni 2001 tagt der G7 in Genua, und mit anderen italienischen Gruppierungen haben die Tutte Bianchi auch dort vor, Präsenz zu zeigen.

"Wenn die ItalienerInnen sich gut anlegen, können die das ganze Land blockieren", meinte ein Aktivist in Prag. Ob das stimmt, werden wir sehen. Im Frühjahr findet in Mailand ein europäisches Encuentro (Treffen) statt, zu dem Ya Basta und Reclaim the Streets aufrufen. Dort sollen weitere Schritte in der europäischen Vernetzung und in der inhaltlichen Auseinandersetzung diskutiert werden.


el desaparecido


Quellen
* Artikel von Jess Ramrez Cuevas in La Jornada (Mexiko): "Der Körper als Waffe des Zivilen Ungehorsams?", Oktober 2000.
* "Das Zeitalter der Klandestinität" - Gedanken und Aktionen von Ya Basta vorgeschlagen.


Kontakt
Associazione Ya Basta ! For peoples dignity and against neoliberalism CSOA Leonkavallo, Via Watteau 7, 20125 Milano, Italienwww.yabasta.it oder www.ecn.org/yabasta.milano


Veranstaltung am 1. Mai 2001 in Bremen
Antirassistische und Antikapitalistische Kämpfe in Italien: Eine Aktivistin von YaBasta/Centro sociale Leoncavallo aus Mailand berichtet. Lagerhaus-Café, Schildstraße, 19.30 Uhr.


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kombo(p) - 16.05.2001