Ein Auszug aus - kassiber 45 - Mai 2001

Interview mit zwei Anti-AKW-AktivistInnen

Tolle Pflicht und Kür, müdes Schaulaufen


kassiber: Wie schätzt ihr diesen Castor-Transport und den Widerstand dagegen politisch ein?

Charlie Schotter: Entscheidend an diesem Castor finde ich, daß es der erste Castor unter Rot-Grün war, der erste nach dem Atomkonsens. Und durch den Widerstand, der massiv und entschlossen war, ist klar geworden, daß der Atomkonsens als zentrales Projekt von Rot-Grün nicht angenommen wurde. Dieser Konsens existiert nur zwischen den Regierenden und den Atomfirmen. Diese entsetzliche Lethargie unter Rot-Grün, als z.B. Deutschland im Kosovo als Kriegspartei auftrat und einfach nichts passierte, hat sich an diesem Punkt nicht durchsetzen können. Nur Rot-Grün konnte den Kosovokrieg so verkaufen: ein Fischer, der sich hinsetzt und den Krieg mit Auschwitz begründet, ist etwas, was viele Leute ziemlich beeindruckt hat - und damit gelähmt. Auf so etwas Ähnliches haben sie auch beim Castor spekuliert. Das ist aber nicht aufgegangen. An Widerstand ist nichts gebrochen.


kassiber: Es ist auch geschafft worden, die Kosten für den Castor-Transport nach Gorleben noch weiter in die Höhe zu treiben ...

Grete Gleis: Es ist immer ein ganz wichtiges Ziel der Aktionen gewesen, den politischen und materiellen Preis so hoch wie möglich zu treiben, und ich finde, da ist 220 Millionen eine Summe, vor der man sich nicht verstecken muß. Ein Erfolg der Aktionen in ihrer Gesamtheit war natürlich auch, daß wir den Castor um 24 Stunden verzögert haben. Daß er erstmalig ein Stück zurückfahren mußte, weil es nach vorne nicht weiterging.

Charlie: Es geht aber nicht nur darum, den Staat mit immer teureren Castor-Transporten in den Ruin zu treiben. Das weniger Ziel als Indikator dafür, was sie aufwenden müssen, um überhaupt ein Bein an den Boden zu kriegen gegen den Widerstand.


kassiber: Die Kostenfrage ist verbunden mit der Frage nach der politischen Durchsetzbarkeit. Umgekehrt könnte es möglich sein, daß sie irgendwann sagen: "Okay, dann fahren wir nur noch zu den neu zu bauenden Zwischenlagern an den AKWs."

Charlie: Das versuchen sie ja gerade, und das werden sie auch tun. Aber es gibt Transporte, die sie nach Gorleben fahren müssen: Bisher ist Gorleben das einzige Zwischenlager, das eine Genehmigung hat für die Rücknahme von dem Müll aus den "Wiederaufbereitungs-Anlagen" (WAAs). Unser Ziel ist, auch andere Transporte anzugreifen als den nach Gorleben.


kassiber: Was hattet ihr dieses Jahr für ein Konzept, und wie ist es gelaufen?

Grete: Unser Konzept war diesmal, nicht nur die letzten 20 Kilometer Straßenstrecke von Dannenberg nach Gorleben anzugehen, sondern auch die 50 Kilometer Schiene, die davor liegen. Und es für unterschiedlichste Menschen möglich zu machen, sich an den Schienenaktionen zu beteiligen. Nicht nur in gut vorbereiteten kleineren Aktionsgruppen. Bei den letzten Malen gab es eine relativ große Hemmschwelle, auf die Schienen zu gehen. Gerade wegen der Kriminalisierungsangst - es schwebt ja immer der Vorwurf des "gefährlichen Eingriffs in den Schienenverkehr" über einem. Aber diesmal hat das wunderbar funktioniert - über die ganzen Tage hinweg.

Schön war es schon allein wegen des David-gegen-Goliath-Bildes. Bis Montag abend waren wir noch nicht wirklich viele, da waren wir so 1.000-2.000 Leute. Aber mit diesen paar Leuten ist es uns gelungen, denen ernsthaft auf die Nerven zu fallen. Immer wieder an die Schienen zu kommen. Und wenn da auch nur etwas geschottert oder sich hingesetzt wurde. Einige haben vermittels eines Wagenhebers die Strecke auf 50 Metern massiv beschädigt. Das wurden hinterher von den Reparateuren sogar als professionelle Arbeit gewürdigt: die mußten da mehrere Stunden reparieren. Und das alles trotz der Reden vorher, wie toll die Hubschrauber, die Bewegungsmelder und die Wärmebildkameras sich in der Widerstandsbekämpfung machen würden. Dieser Apparat, so imposant er auch erstmal aussehen mag, stößt da einfach an seine Grenzen.


kassiber: Aber auf der Straße klappte es dann nicht mehr so.

Grete: Die mußte auch nicht mehr funktionieren. Wir hatten unseren Punkt gemacht. Da zeigt sich, daß wir gut geplant hatten. An den letzten 20 Kilometern Straße war praktisch nichts mehr möglich, weil die Bullen da dicht an dicht standen. Es war gut, daß wir unsere Aktionsfläche um 50 Kilometer ausgeweitet haben. Trotz der 18.000 Bullen im Wendland waren sie nicht in der Lage, die flächendeckend zu schützen.

Charlie: Ob da auf der Straße nichts mehr möglich gewesen wäre, weiß ich gar nicht. Da war halt nichts, und das war auch gar nicht tragisch. Wir hatten eine ausgezeichnete Pflicht und Kür schon auf der Schiene hingelegt. Nur beim Schaulaufen waren wir nicht mehr so gut, wie wir hätten sein wollen. Oder um mal mit einer anderen Sportart zu sprechen: Die Bullen haben halt in der Nachspielzeit noch einen Ehrentreffer gelandet. Ich denke schon, daß wir uns für das nächste mal noch etwas einfallen lassen werden, um die kompletten 70 Kilometer auszunutzen.


kassiber: Waren es nicht noch mehr als 70 Kilometer? Sie haben doch z.B. auch den Streckenverlauf geändert, weil in Göttingen Leute auf den Schienen waren.

Grete: Die Leute in Göttingen machen das schon seit Jahren so, daß sie erst bei sich zu Hause etwas machen und dann schnell hinterherkommen. Das hat auch die letzten beiden Male sehr gut funktioniert: Beide Transporte sind umgeleitet worden, wegen der paar hundert Leute da. Es wäre gut, wenn auch noch andere Zuhausegebliebenen mehr bei sich in der Region machen.

Charlie: Es gab auch Aktionen an der Grenze in Zusammenarbeit mit französischen Gruppen und noch kleinere Aktionen an der Transportstrecke. Die Bullen haben es nicht geschafft, diese 50 Kilometer Schiene Lüneburg-Dannenberg effektiv zu schützten - und ein paar tausend Kilometer Schiene sind da noch mal eine ganz andere Spielwiese. Das sollten wir in Zukunft auch wesentlich stärker nutzen.


kassiber: Welche Leute haben im Wendland Widerstand geleistet, welche unterschiedlichen Konzepte gab es da?

Grete: Man kann für dieses Mal feststellen, daß die verschiedenen Widerstandskonzepte sehr gut ineinandergegriffen haben. Leute von X-quer, die sich zusammensetzen aus Jugendumweltbewegungen und einer eher bürgerlichen Klientel, haben in Wendisch-Evern zeitnah ihre Aktionen gemacht. Greenpeace hat erstmalig direkt an der Strecke etwas gemacht. Unter dem Mantel Robin Wood wurden die Einbetonierungs-Aktionen von verschiedenen AktivistInnen durchgeführt. Und dazu kamen diese Kleingrüppchen von Autonomen und Sonstigen, die immer wieder versucht haben, an die Strecke zu kommen. Es ist überhaupt ein ganz wichtiger politischer Punkt, daß diese Kleingruppen sich nicht mehr so begrenzen lassen und ihre Aktionsformen selbst wählen.

Charlie: Die Linksradikalen haben sich diesmal auch tierisch einen abgearbeitet an der Schiene; sie haben es geschafft, sich in Kleingruppen zu organisieren und was zu machen. Im Vergleich zu dem Transport vor vier Jahren waren sie diesmal viel eigenverantwortlicher. An der Schiene ist diesmal daher sehr viel mehr gelaufen als vor vier Jahren auf der Straße.

Grete: Überhaupt ist das ein wichtiger Punkt beim Castor-Protest: hier können Leute massenhaft Widerstandserfahrungen machen, was sonst zur Zeit in diesem Lande so nicht möglich ist.


kassiber: Und wie lief diesmal die Zusammenarbeit mir der BI?

Grete: Die BI hat die ganze Zeit das Schienenkonzept nur nominell, nicht aber in der Praxis mitgetragen. Sie war da viel zu ängstlich. Noch am Sonntagabend hat sie versucht, das Schienenkonzept zu kippen, und wollte durchsetzen, daß man doch nur auf die Straße geht. Wenn das an der Schiene alles nicht passiert wäre, dann hätten wir uns gleich einsargen lassen können. Wo man der BI außerdem wirklich Mangel an Verantwortung vorwerfen muß, ist, die Leute am Dienstagabend in Dannenberg in diese Sackgasse geschickt zu haben: Da hat sich ein relativ großer Demonstrationszug in Bewegung gesetzt, und anstatt mit allen Leuten auf die Schiene zu gehen, wird zum Verladekran gegangen, quasi direkt in einen Kessel.

Charlie: Hinzu kommt, daß die BI nichts anderes in der Hand hatte. Es wäre niemand böse gewesen, wenn die "Auswärtigen" die Schiene gemacht hätten und das BI-Umfeld sich dann um die Straße gekümmert hätte. Aber das ist nicht passiert. Das zeigt auch, wer in den letzten Jahren den Widerstand getragen hat. Ich denke, da muß sich die BI in den nächsten Jahren noch mal politisch umorientieren. Die Leute aus dem Landkreis sind zum Teil enttäuscht von denen und sauer. Das fängt an mit den Distanzierungen im Vorfeld, als die zwei mal zwei Meter Schiene entsorgt wurden zwischen Lüneburg und Dannenberg. Da meinte die BI: "Das hätte auch eine Provoaktion von Rechten sein können!". Und das hört damit auf, daß die BI dann wirklich materiell nichts gerissen hat. Wir hatten wirklich befürchtet, daß diese Konstellation - auf der einen Seite eine BI, die sich von allem distanziert, was über reine Symbolik hinausgeht, und auf der anderen Seite die Konfliktmanager der Bullen - dazu führt, daß sich die Leute aus dem Landkreis vom Protest stärker distanzieren. Das ist aber nicht passiert: die Leute waren eher sauer auf die BI und die Bullen.


kassiber: Wie ist das Verhältnis der BI zu den Grünen?

Grete: Sehr unterschiedlich. Da gibt es zum Beispiel Juliane Fritzen, die aus dem ganz Bürgerlichen Anti-AKW Spektrum kommt, eine Mitbegründerin der Grünen und schon immer in der BI ist. Die hat angesichts des Kosovo-Krieges gesagt: "Das ist nicht mehr die Partei, die ich mitgegründet habe. Mit eurer Scheiß-Kriegspolitik und eurer Scheiß-Atompolitik, die so tut, als wolle sie aussteigen und in Wirklichkeit eine Bestandsgarantie für mindestens noch mal dreißig Jahre abgibt - damit will ich nichts zu tun haben!" Und sie ist dann ausgetreten.
Andererseits gibt es bei der BI aber auch Leute, die vor kurzem noch versucht haben, sich bei den Grünen Pöstchen zu sichern. Und Rebecca Harms, grüne Fraktionsvorsitzende im niedersächsischen Landtag, hüpft da auch noch im Umfeld 'rum, weil die ja schließlich gegen den Atomkonsens ist. Daß sie den Kosovo-Krieg befürwortet und neulich noch ein Rekrutengelöbnis abgenommen hat, ist dann leider nicht so wichtig.


kassiber: Inwieweit ist die Strategie der Bullen aufgegangen, euch durch Campverbote den Aufbau einer funktionierenden Infrastruktur zu vermiesen?

Charlie: Es gab zwei Camps, die komplett verboten waren. Für diese mußten Ausweichflächen weitab der Strecke gesucht werden. Im Camp Nahrendorf durften sich Menschen aufhalten, aber nicht schlafen. Das ist dann später auch noch komplett geräumt worden. Das zeigt, daß die Bullen den Camps eine sehr große Bedeutung beimessen. Der Einsatzleiter hat auch gesagt, daß die Camps Basis und Trainingslager für die Leute sind - und sich sehr gefreut, daß das Verbot noch mal richterlich bestätigt worden ist. Trotz der Verbote haben sie es aber nicht geschafft, die Infrastruktur so zu zerschlagen, wie sie sich das vorgestellt haben. Es gab da ja das Konstrukt der Bullen von einem Fünf-Kilometer-Radius, innerhalb dessen keine Camps geduldet wurden. Beide Ausweich-Camps, Köhlingen und Schmessau, lagen also außerhalb dieses Radius, waren aber trotzdem aktionsfähig. Ich hatte in Köhlingen nicht das Gefühl, daß es besonders tragisch ist, daß wir fünf und nicht zwei Kilometer von der Schiene entfernt sind. Es hat eher dazu beigetragen, daß die Leute flexibler waren. Fahren mußten sie eh, da konnten sie sich da auch gleich etwas Schlaues überlegen, wo sie denn hinfahren. Es hat uns nicht wirklich geschadet.


kassiber: Die ständige Umzieherei der Camps hat aber schon für einige tage ganz schön viele Kräfte gebunden. Haltet ihr es trotzdem noch für sinnvoll, überhaupt Camps einzurichten?

Grete: Die Camps sind wichtig als Anlaufstelle, Rückzugsmöglichkeit und als sozialer Ort, wo sich Leute treffen und koordinieren können, um Aktionen zu machen. Die Frage ist, ob man dazu Camps braucht, oder ob es nicht reicht, einen Infopunkt zu haben. Da muß man in Zukunft nochmal sehen, es lag den Cops viel daran diese Camps zu unterbinden, das hat nicht geklappt, vielleicht machen sie es beim nächsten mal noch vehementer.

Charlie: Ein Infopunkt wird aber nie dieselben Möglichkeiten bieten wie ein Camp, wo sich z.B. Gruppen ganz neu bilden und Aktionen vorbereiten können ...


kassiber: Denkt ihr, daß die Bevölkerung ohne die Verbote auch so bereitwillig Schlafplätze angeboten hätte?

Charlie: Das Schöne an den Bullen ist: Egal wo sie hinkommen, sie schaffen es immer, sich so dusselig zu benehmen, daß sie die Bevölkerung gegen sich aufbringen. Das war diesmal auch der Fall. Die Gegend, in der die Camps dann lagen, war gar nicht das eigentliche Wendland. In der Gegend um Dahlenburg sind viele Leute traditionell dem Widerstand eher feindlich als solidarisch gesonnen.

Grete: Da war ich im Supermarkt und habe eine Alte getroffen, die meinte, die müßte man alle erschießen.

Charlie: Der Widerstand ist für Menschen in der Region durch die Repression sehr viel sichtbarer geworden. Unsere Leute sind auf der Suche nach neuen Camps durch die Gegend geirrt, und das hat zu einer Solidarisierung innerhalb der Bevölkerung beigetragen. Wir haben irgendwann nicht mehr gemerkt, daß wir nicht mehr im Wendland sind, sondern im Landkreis Lüneburg. Wir haben praktisch den Unruheherd Wendland bis Lüneburg ausgeweitet.

Grete: Die Leute haben die unterstützenden, infrastrukturellen Sachen wunderbar auf die Reihe gekriegt. Schlafplätze, Wechselklamotten, Nahrungsmittel, man mußte die am Ende schon fast zurückweisen.


kassiber: Es waren diesmal noch mehr Bullen unterwegs, gab es auch mehr Ingewahrsamnahmen/Verhaftungen?

Charlie: Uns fehlt da im Moment etwas der Überblick. Es gibt Zahlen von 1.400-1.600 Ingewahrsamnahmen und neun Verhaftungen, von denen wir allerdings nichts Genaues wissen. Soweit wir informiert sind, sind aber alle wieder raus. Was die Bullen diesmal nicht getan haben - womit wir allerdings immer rechnen - ist die flächendeckende Anwendung des Unterbindungsgewahrsams. Die meisten Leute, die eingefahren sind, waren nach acht Stunden wieder draußen - das wird wohl in erster Linie ein logistisches Problem von ihnen sein. Sie kriegen es nicht auf die Reihe, koordiniert Massenfestnahmen zu machen. Das hat aber auch eine politische Dimension. Wenn du versuchst, 2.000 Leute oder noch mehr für vier Tage in den Bau zu stecken, kannst du das politisch und juristisch schwer rechtfertigen. Das hat mit der besonderen Stellung der Anti-AKW-Bewegung im Wendland zu tun.

Grete: Obwohl sie am Ende drauf und dran waren, diese Politik wieder zu ändern und die Käfige wieder einzufliegen, von denen sie vorher gesagt haben, daß sie sie nicht haben wollen: mobile Knäste, die du am Straßenrand aufstellen und da ein paar hundert Leute reinsperren kannst, die du dann abfertigen kannst, wenn Zeit dafür ist. Was diesmal anders gelaufen ist, sind die Platzverweise: Es haben viele Leute welche bekommen, aber es war sehr uneinheitlich, wie sie die kontrolliert haben. Zum Teil haben Leute vier, fünf oder noch mehr Platzverweise bekommen, die nur mündlich ausgesprochen wurden, aber gar nicht nachgeprüft. Andere sind aber beim zweiten Kontrollieren sofort mitgenommen worden.


kassiber: War ein Großteil der Festgenommenen von X-quer?

Charlie: Die Bullen haben die Leute von X-quer hauptsächlich wieder ausgesetzt - die haben sie in einen Zug gesetzt und in die Walachei gefahren. Wenn sie die Gelegenheit hatten, dann haben sie aber auch andere Leute an den Schienen mitgenommen oder auch Leute, die sie irgendwo eingekesselt hatten. Das ging schon relativ querbeet. X-quer hat allerdings den einzigen "echten" Unterbindungsgewahrsam, von dem wir wissen, vorzuweisen: gegen Jochen. Den haben sie für vier Tage mit der Begründung, er hätte zu Straftaten aufgerufen, eingeknastet. Sie hätten ihm in Wendisch-Evern die Möglichkeit gegeben, sich rechtsstaatlich zu verhalten, und das hätte er dann nicht getan.


kassiber: In Politik und Medien gab es auch diesmal wieder den Versuch, den Protest in Gewalttätige und nicht Gewalttätige zu spalten. Dabei fällt auf, daß die Schwelle für das, was als Gewalt bezeichnet wird, immer tiefer gesetzt wird. Was sagt ihr dazu?

Grete: Diesmal wurde ganz massiv versucht, den Gewaltbegriff so umzudefinieren. Zum Beispiel wird behauptet, daß es so etwas gäbe wie "brutale Gewalt gegen Sachen". "Perfide Gewalttäter" hat unser Innenminister zu den Blockierern von Robin Wood gesagt - die doch tatsächlich die mutwillige Zerstörung von Bundeseigentum/Bahneigentum in Kauf genommen haben! Das ist aber Quatsch: Sachen kann man kaputtmachen, gegen die kann man aber keine Gewalt ausüben. Im Moment wird versucht, den Gewaltbegriff neu zu definieren, so daß jede Überschreitung rechtsstaatlich gesetzter Grenzen zu Gewalt wird. Andererseits ist es so, daß die zertifizierten Gewaltfreien von X-quer ihrerseits den Gewaltfreiheitsbegriff erweitert haben. Bullen aus dem Weg zu schubsen, um auf die Schienen zu kommen, bewegt sich jetzt wie selbstverständlich noch im Rahmen einer gewaltfreien Aktion.

Charlie: Es ist ganz angenehm, daß X-quer das jetzt macht. Zuerst hatten sie ja den Gewaltfreiheitsbegriff sehr eingeengt. Diesen diffusen Begriff von Gewaltfreiheit, den es ja durchaus gab, der auch Sabotage mit einschloß und damit für den Staat bedrohlich war, hatte X-quer auf Sitzblockaden reduziert. Davon sind sie ein Stück weit weg. Politisch ist das eine sehr schöne Entwicklung. Gezeigt hat sich das auch in der Zusammenarbeit vor Ort: Die Spaltung zwischen den Gewaltfreien und den nicht ganz so Gewaltfreien hat es in der Praxis diesmal nicht so sehr gegeben. Es gab von der BI solche Versuche, wobei die diesmal im Widerstand nicht so eine große Rolle gespielt hat wie in den letzten Jahren. Und auf Aktionen gab es das vereinzelt schon auch noch, wenn selbsternannte Gewaltfreie anderen die Vermummung vom Kopf gerissen haben. Trotzdem: Die Spaltungen und Streitereien zwischen den Fraktionen haben abgenommen und die Zusammenarbeit ist besser geworden.

Grete: Es hat es auch Angriffe auf Bullen gegeben. Selbstverständlich ist das aber auch Teil des Widerstandes und hat darin eine Rolle. Es geht nicht darum zu sagen: "Die Bullen behaupten, das sei Gewalt, und dabei war das gar keine!", sondern darum, daß wir finden, daß es in bestimmten Situationen auch richtig ist, sich so zu verhalten.


kassiber: Ist die Gewaltkampagne nicht zweigleisig gefahren worden? Auf der einen Seite standen die Medien, die eigentlich nur bei Dannenberg gesagt haben, unter die DemonstrantInnen hätten sich 500 Chaoten gemischt und da mit Pyros geschossen. Andererseits gab es die Gewaltdebatte um den schweren Eingriff in den Schienenverkehr, um die Leute auch finanziell zur Rechenschaft ziehen zu können. Die ist von Leuten wie Schily, Bartling und anderen Innenministern und von Polizisten geführt worden, die SchienenblockiererInnen wie EinbetoniererInnen zu GewalttäterInnen erklärt haben, unseren Widerstand dabei aber eher verschwiegen haben.

Charlie: Es gibt keine einheitliche Linie bei Politik und Polizei. Da geraten unterschiedliche Interessen miteinander in Widerspruch: Zum einen wollen sie alles verdammen, was sich über Gesetze hinwegsetzt. Dazu gehört es, die FestketterInnen zu GewalttäterInnen zu erklären. Andererseits wollen sie aber immer noch die Chaoten haben, die sie von denen abgrenzen können. Die brauchen sie auch. Die, die sich in den "eigentlich friedlichen und berechtigten Protest" eingeschlichen haben. Daraus ist auch die Kontroverse um das, was jetzt Gewalt ist und was nicht, zu erklären. Die Politik setzt derweil ihren Eiertanz fort - besonders Schily, der sich jetzt als Hundertfünfzigprozentiger profilieren muß, aber auch Trittin oder andere GrünenvertreterInnen.

Grete: Es scheidet sich an der Frage der öffentlicher Akzeptanz. Der Versuch, die Robin- Wood- und die Greenpeace-Aktion für gewalttätig zu erklären, darüber lacht doch die Republik. Für solche Sachen gibt es eine relativ breite Akzeptanz. Eine viel kleinere Akzeptanz gibt es dafür, Bullen mit Pyros zu beschießen. Das ist der Unterschied.


Insgesamt fand ich, daß der Protest in den Medien relativ gut weggekommen ist. Im Netz habe ich von über zweidrittel Zustimmung zu Aktionen gegen den Castor gelesen. Die Verschärfung des Gewaltbegriffs ist da nur von wenigen aufgegriffen worden. Als "Gewalttätige" sind hauptsächlich die Autonomen und der Schwarze Block mit den Pyros bezeichnet worden. Daß da Leute durch die Wälder gerannt sind und etwas machen wollten, ist kaum zur Kenntnis genommen worden.

Grete: Aber das sind doch dieselben. Das ist auch die Frage, die man sich immer stellt: Wen meinen die eigentlich mit den Autonomen?

Charlie: Da kommt die Stärke und das Dilemma der Anti-Atombewegung zum Vorschein, denn du bewegst dich gesellschaftlich auf einem relativ sicheren Terrain, weil alle irgendwie gegen Atomkraft sind, gerade nach Tschernobyl. Die Frage ist dann, wie weit darf Protest gehen, da sind die Grenzen genau so eng gesteckt, wie bei anderen Aktionsfeldern der Linken. An dem Punkt finde ich es wichtig, daß überhaupt etwas passiert ist. Diese militanten Aktionen, auch mal Bullen anzugreifen oder sich zu wehren, wenn die Bullen angegriffen haben, sind meistens an strategisch relativ bescheuerten Punkten passiert, wenn wir mal ehrlich sind. Sie wurden aber von der Presse begierig aufgegriffen und haben gezeigt, daß es noch Leute gibt, die bereit sind, das zu tun, und die haben noch ein bißchen mehr im Hinterkopf, als nur diesen Castor zu verhindern. Ich finde es daher auch gar nicht so tragisch, daß diese Auseinandersetzungen in Dannenberg, die eigentlich eher kleine Scharmützel waren als Straßenschlachten, so hochgekocht wurden.

Grete: Das war schon ein schöner Moment zu sehen, daß die entweder wirklich heißes Wasser in ihre Wasserwerfer machen oder daß da hinten was brennt.


kassiber: Wie wichtig ist die Pressearbeit im Internet?

Charlie: Indymedia war sehr gut. Das war das erste Mal, daß in diesem Rahmen Öffentlichkeitsarbeit von uns gemacht wurde. Die Internetpräsenz bedient allerdings nur eine Seite, die restliche Pressearbeit war schwach. Da muß noch mehr kommen - wir müssen versuchen, unsere Inhalte da reinzubringen.

Grete: Indymedia war unschätzbar: Zum ersten Mal hat es so etwas gegeben wie eine linksradikale Presseagentur. Wenn du keine Lust hattest, mit den Journalisten zu reden, dann konntest du denen einfach die Internetadresse geben. Denn wenn du versuchst, für irgendeine Aktion eine Pressesprecherin zu finden, dann ist meist Schweigen im Walde. Zum Teil sind sogar Bilder von Indymedia in der Tagesschau zu sehen gewesen. Das hat für die Vermittlung -zum Beispiel von der Wagenheberaktion - viel gebracht. Zusätzlich ist das der Ort, wo viele Leute, die eben nicht aus der Szene kommen sich ihre Informationen holen.


kassiber: Wann kommt der nächste Castor?

Grete: Vermutlich nächste Woche Dienstag, am 10.4., in die WAA nach La Hague.


kassiber: Und nach Gorleben?

Charlie: Es ist ein neuer Transport nach Gorleben beantragt worden vom Deutschen Bundesamt für Strahlenschutz; darüber wird demnächst entschieden. Ich glaube aber nicht, daß diesen Herbst noch einer kommt. Wobei sie dann allerdings wieder vor dem Dilemma stehen, daß sie ihre WAA-Transporte nach Frankreich kriegen wollen, und da wird Frankreich sagen: "Ihr habt einen zurückgenommen und dreißig in die WAA geschickt - irgendetwas stimmt da doch nicht!" Ich kann mir aber vorstellen, daß die Genehmigung auf andere Zwischenlager ausgedehnt wird.

Unser politisches Ziel ist es ja aber auch, den Gorleben-Hype zu nutzen, um den Widerstand auf andere Transporte und Standorte auszudehnen.Das ist natürlich bewegungsdynamisch nicht einfach, da Gorleben durch die lange Widerstandsgeschichte, den Rückhalt in der Bevölkerung und den Ruf als "Abenteuerspielplatz" für viele erstmal attraktiver ist als ein Transport von einem x-beliebigen AKW in eine WAA. Aber es hat da in den letzten Jahren recht vielversprechende Ansätze gegeben, z.B. die "Nix mehr"-Kampagne gegen WAA-Transporte oder die Versuche, Urantransporte und -handel mehr zum Thema zu machen.
An diese Versuche müssen wir jetzt anknüpfen, um das gesamte Atomprogramm wieder mehr ins Blickfeld zu rücken und von einer Anti-Castor-Bewegung wieder zu einer Anti-Atom-Bewegung zu werden. Unsere Parole war ja schon immer: Gorleben ist überall. Damit sollten wir jetzt auch ernst machen!


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kombo(p) - 16.05.2001