Ein Auszug aus - kassiber 34 - Februar 98

30 Jahre im Zeitraffer


Eine Besprechung der Ende 1997 erschienenen Broschüre Das Ohr auf die Schiene der Geschichte des bewaffneten Kampfes in der BRD - herausgegeben von einer Stuttgarter Broschüren-AG "Ohrwürmer".

Neben einer kurzen Zusammenfassung der Geschichte des bewaffneten Kampfes in der BRD werden von den "Ohrwürmern" fünf Zeitzeugen und -zeuginnen befragt. Erich, Tanja, Thomas, Klara und Gregor beginnen mit den späten 60ern, erzählen von ihrem Verhältnis zu den bewaffneten Kämpfen der Bewegung 2. Juni und, später, zu den Revolutionären Zellen/Rote Zora, v.a. aber von ihrer Beziehung zum Kampf der Roten Armee Fraktion. Trotz der unterschiedlichen Zeitpunkte ihrer Politisierung, haben sie sich alle irgendwie in ihrem politischen Alltag auf die RAF bezogen. Die Fünf sprechen von ihrer Wahrnehmung der damaligen Ereignisse, von ihrer eigenen politischen Entwicklung, berichten von den Anfängen, der Mai-Offensive 1972, dem Kampf gegen die Isolationshaft und -folter, vom Stammheimer Prozeß, dem Tod Ulrike Meinhofs, dem Deutschen Herbst 1977, dem Aufbruch Anfang der 80er Jahre und seinen neuen sozialen Bewegungen, der gemeinsamen Front und ihrem Zerfall. Diese Erzählungen erfolgen nicht aus dem Blickwinkel der "Prominenten" des bewaffneten Kampfes, die im letzten Jahr in einer Reihe von Büchern und Interviews ihre Geschichte dargestellt haben. Hier ergänzen Leute "von der Basis" als ZeitzeugInnen die von den HerausgeberInnen zusammengefaßte Geschichte.

Zwanzig Jahre nach dem gescheiterten Versuch der RAF, ihre Gefangenen zu befreien, gelang es der Staatsmacht im vergangenen Jahr ihren Siegeszug gegen den ehemaligen "Staatsfeind Nr. 1" medial und politisch zu vollenden. Dem gilt es etwas entgegenzusetzen. So sehen es auch die "Ohrwürmer" und beschreiben ihre Sicht des Vergangenen. Im Zeitraffer, die wesentlichen und wichtigen Daten, Namen und Schlagwörter in Fettdruck nochmals gekennzeichnet. Dazwischen Begriffserklärungen (Guerilla, 129a), ein Interview mit Irmgard Möller, Geschichtsarbeit (Palästina), Zusammenfassung von Diskussionen (Gerd Albertus ist tot) und nicht zuletzt die Befragung der Fünf "von der Basis der Bewegung". Aber "nicht nur als Gegenstandpunkt zur herrschenden Medienmeinung" wollen die "Ohrwürmer" ihre Broschüre verstanden wissen. Ihren Anspruch formulieren sie darin, eine "Basis" für die Aufarbeitung der Erfahrungen und Fehler zu bieten, um eine Auseinandersetzung über eine revolutionäre Perspektive anzustoßen.

Dreißig Jahre, das werden alle zugeben, sind eine lange Zeit und die gesellschaftlichen Verhältnisse änderten sich. Von der Erklärung "Die Rote Armee aufbauen" von 1970 an "die Jugendlichen im Märkischen Viertel, (die) Mädchen im Jugendhof ... kinderreichen Familien ..." bis zu ihrer Zäsur 1992 "An alle, die auf der Suche nach Wegen sind ..." schrieb die RAF eine wechselvolle Geschichte. Genauso wandelten sich im Laufe der Zeit die Bewegung 2. Juni, die Revolutionären Zellen und die Rote Zora. Auf die gesellschaftlichen Veränderungen nach dem Kollaps der realsozialistischen Staaten sowie auf das vereinigte Deutschland wird in der Broschüre zuwenig eingegangen, genauso wie auf die Diskussionen nach der RAF-Erklärung von 1992, den Ereignissen in Bad Kleinen und der Auflösung des Gefangenenkollektives.

Insgesamt zuviel oberflächliche Reflexion und eine geballte Ladung Ratlosigkeit, die die HerausgeberInnen am Ende der Broschüre in Form von Fragen (über Fragen) auflisten. Ob der Versuch der StuttgarterInnen gelingt, ihr Ohr auf die Schiene der Geschichte des bewaffneten Kampfes zu legen, ohne dabei von der Geschichte selbst überrollt oder genauer: enthauptet zu werden, der bürgerlichen Mediengewalt "etwas entgegenzusetzen" und nicht nur den Siegeszug der herrschenden Klasse mit dunkelroten Flecken zu verzieren und mit all dem eine Diskussion anzustoßen, bleibt offen. Darin liegt die Schwäche der Broschüre.

Ihre Stärke: sie kostet nur fünf Mark und ist in Eurem "freundlichen Infoladen" Umschlagplatz in der St.-Pauli-Straße 10/12 erhältlich.

Eugen Reinsch



bezugsmöglichkeiten


zurück!

kombo(p) - 16.02.1998