Prozesserklaerung von Birgit Hogefeld vom 29. Oktober 1996
Ein Auszug aus - kassiber 30 - Dezember 96
(Text wurde aus Platzmangel nicht abgedruckt)

Prozesserklaerung von Birgit Hogefeld vom 29. Oktober 1996

Versuch einer oeffentlichen Auseinandersetzung mit der RAF-Geschichte ist wichtig


Als im November 1994 dieser Prozess gegen mich begann, habe ich meine erste Prozesserklaerung mit dem Satz eingeleitet: "Waehrend ich hier vor Gericht sitze, laufen die Moerder von Wolfgang Grams frei und staatlich gedeckt draussen rum." Wie nicht anders zu erwarten, hat sich daran bis heute nichts geaendert. Die politischen Signale aus Bonn sind bei der deutschen Justiz angekommen. Kurz nach der Polizei-Aktion von Bad Kleinen stattete Bundeskanzler Kohl der GSG 9 einen Truppenbesuch ab und signalisierte damit, dass die Hinrichtung von Wolfgang Grams seine volle Rueckendeckung hat. Zu diesem Zeitpunkt stand fest: Die staatliche Linie sollte das starre Festhalten an der Selbstmordversion sein und ausserdem die Verhinderung der Aufklaerung der Ereignisse von Bad Kleinen vor einem deutschen Gericht.
Und so war es dann auch. Mangels hinreichendem Tatverdacht gegen die GSG-9 Beamten wurde die Klage der Eltern von Wolfgang Grams durch alle Instanzen abgewiesen; diese Entscheidung wurde zwischenzeitlich auch vom Bundesverfassungsgericht (BGH) abgesegnet. (...)
Aber in einer Zeit, in der inhaltliche Positionen, die vor wenigen Jahren als "rechtsaussen" gegolten haetten, heute in der gesellschaftlichen Mitte angesiedelt sind, fuehrt die Erschiessung eines schwerverletzten RAF-Mitglieds durch ein paramilitaerisches Sonderkommando dazu, dass die meisten Menschen, die dem kritisch gegenueberstehen, auch das nur noch resigniert zur Kenntnis nehmen. Die gesellschaftliche Entwicklung ist da angekommen, dass es heute moeglich ist, dass nach Brandanschlaegen gegen Menschen aus anderen Laendern Polizei und Staatsanwaltschaften immer haeufiger gegen die Opfer dieser Anschlaege ermitteln, anstatt die Taeter ausfindig machen zu wollen. Der "Kapitalstandort Deutschland" duerfe durch solche Anschlaege nicht gefaehrdet werden, meinte Aussenminister Kinkel 1993 nach der Verbrennung von fuenf tuerkischen Frauen und Maedchen in Solingen. Das Bild von rassistischen, aggressiven deutschen Jungmaennern soll keinesfalls im Ausland Assoziationen an die braune Vergangenheit wachrufen - damit war das Signal fuer die Ermittlungen gegen die Opfer rassistischer Anschlaege gegeben. Und dass der junge Libanese aus Luebeck heute wieder in Freiheit ist, hat er wohl vor allem der Internationalen Untersuchungskommission und der dadurch gewaehrleisteten internationalen Oeffentlichkeit zu verdanken. Die Solidaritaet, die es hier gab, haette wohl kaum ausgereicht.

Gericht sah keinen Aufklaerungsbedarf zu Bad Kleinen

Angesichts dieser Gesamtentwicklung war also nicht zu erwarten, dass die Ereignisse von Bad Kleinen und die Hinrichtung von Wolfgang Grans ueber das kurze Interesse am Skandal hinaus auf derart grosses Interesse und Widerspruch in Teilen der Oeffentlichkeit und bei den Medien stoesst, dass die Politik zu einer tatsaechlichen Aufklaerung gezwungen wird.
Das Ganze fand seine Entsprechung in diesem Prozess. Die wahnwitzige Mordanklage gegen mich wegen der Erschiessung des GSG-9-Manns Newrzella und mehrfachen Mordversuch wurde zugelassen, obwohl ich nachweislich in Bad Kleinen ueberwaeltigt und mit einer Polizeipistole auf meinen Kopf gerichtet auf dem Boden lag, bevor dort der erste Schuss fiel.
Diese Mordanklage gegen mich basiert auf der angenommenen geistigen Mittaeterschaft, was in der Konstruktion ja davon ausgeht, Wolfgang Grams haette den GSG-9-Mann erschossen. Nachdem ich sowohl Anklage als auch die Akten zu diesem Komplex gelesen hatte, war ich sehr gespannt, wie das hier vor Gericht ablaufen wuerde, denn der in der Anklage behauptete Ablauf stand in zentralen Punkten in Widerspruch zur Aktenlage. Die Fundorte der leeren Patronenhuelsen aus der Waffe von Wolfgang Grams schliessen aus, dass er - wie in der Anklage behauptet - vom oberen Treppenabsatz aus auf die die Treppe hochstuermenden GSG-9-Maenner geschossen hat. Aber aus genau dieser Position soll er Michael Newrzella erschossen haben. Das kann so nicht stimmen. Und ausser den Fundorten der Patronenhuelsen sprechen auch Zeugenaussagen gegen diese Version.
Doch trotz solcher eklatanter Widersprueche soll so - laut Bundesanwaltschaft - der Mord, dessen ich hier in geistiger Mittaeterschaft angeklagt bin, abgelaufen sein. Und auch dieses Gericht sah trotz all dieser Unstimmigkeiten und Widersprueche keinen Aufklaerungsbedarf, es hat sogar alle diese Fragen betreffenden Beweisantraege meiner Verteidigung zurueckgewiesen.
Wie gesagt, vorher war ich gespannt darauf, wie der Anklagekomplex Bad Kleinen hier behandelt werden wuerde. Sicher war ich mir nur, dass Bundesanwaltschaft und Senat alles daran setzen wuerden, zu verhindern, dass hier die tatsaechlichen Todesumstaende von Wolfgang Grams zur Sprache und Aufklaerung kommen. Das war ja dann auch so, jede Frage meiner Verteidigung, die ueber den unmittelbaren Zeitpunkt meiner Festnahme hinausging, wurde vom Gericht nicht zugelassen.
Ueber die Todesumstaende von Michael Newrzella war ich mir vor dieses Prozess nicht im klaren. Ich habe die Widersprueche zwischen Anklage und dem, was in den Akten steht, gesehen, aber das haette ja in die eine oder die andere Richtung in der Hauptverhandlung Aufhellung finden koennen. Erst darueber, wie hier seitens des Senats auch zu dieser Frage durchgaengig gemauert wurde, bin ich mir heute sicher, dass von offizieller Seite davon ausgegangen wird, dass Michael Newrzella von seinen eigenen Leuten erschossen worden ist. Moeglich, dass sie es nicht definitiv wissen, denn auch hier wurden die Spuren systematisch verwischt bzw. vernichtet, aber sie halten es fuer wahrscheinlich und deshalb durfte diese Frage hier erst gar nicht in Richtung tatsaechlicher Aufklaerung verhandelt werden.
Mensch stelle sich doch umgekehrt einmal vor, BKA und Bundesanwaltschaft haetten stichhaltige Beweise dafuer in der Hand gehabt, dass Wolfgang Grams den GSG-9-Mann Newrzella erschossen hat, was waere denn dann hier passiert? Nicht, wie urspruenglich geplant in drei, sondern in 30 oder mehr Verhandlungstagen waere hier, medienwirksam aufgepeppt, eine umfangreiche und lueckenlose Beweiskette auf- und abgerollt worden. Tage-, vielleicht wochenlang haetten die Medien darueber berichtet, dass und wodurch der Verdacht, dass "der Terrorist" den GSG-9-Mann erschossen hat, von Verhandlungstag zu Verhandlungstag erhaertet wird, bis am Ende schliesslich Gewissheit ueber diese Frage bestanden haette. (...)

"Lebenslaenglich" oder Verrat - dazwischen gibt es nichts

Ich bin schon haeufig gefragt worden, warum ich nichts zu den gegen mich erhobenen Vorwuerfen aus der Anklage sage, und dass die Tatsache, dass ich sie nicht bestreite, gegen mich gewertet werden wird. Wie diese Anklage zustande gekommen ist, habe ich schon geschildert; nach Aussageerpressungsversuchen mit Lebenslaenglich-Drohung, wurde die Anklage mehrmals erweitert. Damit sollte der Druck gegen mich verstaerkt und natuerlich auch die Basis fuer ein Lebenslaenglich-Urteil gebaut werden. Der ganze Ablauf spricht fuer sich und sagt viel ueber die tatsaechliche Beweislage aus.
Auch waehrend der Hauptverhandlung wurde mir von seiten der Bundesanwaltschaft nochmals die Kronzeugenregelung offeriert - aber darueber, dass solche Erpressungsversuche mittlerweile schon in oeffentlicher Veranstaltung gemacht werden, habe wohl nur ich mich gewundert. Schliesslich ist das in diesem Land Gesetz. Im Grunde logisch: Gesetzgebung nach dem Prinzip der freien Marktwirtschaft, ich habe Wissen, das andere unbedingt wollen - was also liegt naeher als gesetzliche Regelungen fuer die in solchen Faellen angepeilten Deals zu installieren.
Also von wegen Wahrheitsfindung, um die es hier und in aehnlichen Veranstaltungen angeblich geht. Um die Wahrheit ging es hier nie, sondern darum, die wenigen Splitter einer manipulierten, loechrigen Indizienkette so zusammenzukleben, dass sie nicht gleich beim ersten Hinschauen reisst. Und dank der staendigen Anstrengung und Interventionen meiner RechtsanwaeltInnen ist nicht mal das gelungen. Trotzdem wird dieser Senat zu dem Ergebnis kommen, dass die Anklagepunkte in der Hauptverhandlung nachgewiesen worden sind, und ein Lebenslaenglich-Urteil gegen mich aussprechen.
Hier gab und gibt es nur die Alternative zwischen dem Lebenslaenglich-Urteil und Verrat - dazwischen gibt es nichts. Dafuer hat die Bundesanwaltschaft diesen Staatsschutzsenat fuer die Anklage gegen mich gewaehlt, denn bekanntlich funktionieren heute nicht mehr alle Staatsschutzsenate in diesem Land in dieser Weise als Handlanger fuer die Bundesanwaltschaft.
Verrat waere fuer mich auch, zu den einzelnen Anklagekomplexen Angaben zu machen, die mich als Person entlasten wuerden, denn diese Angaben wuerden sofort mit anderen Ermittlungsergebnissen zusammengewuerfelt und dann gegen andere benutzt werden. Seit den Aussagen von Peter-Juergen Boock gibt es dafuer eine neue Wortschoepfung: "Substraktionsverfahren" wird das bei der Bundesanwaltschaft genannt, d.h. seine Aussagen sind nicht immer direkt belastend, lassen aber Rueckschluesse zu, die andere ins Fadenkreuz ruecken. Diese indirekte Sorte von Denunziation kommt fuer mich als Weg genausowenig in Frage wie direkter Verrat.

"Wir waren denen, die wir bekaempfen wollten, in dieser Hinsicht sehr aehnlich"

In dieser Hauptverhandlung gab es nicht bloss diesen einfach nur noch absurden und oft auch laecherlichen Teil dieser Sorte Beweisfuehrung, den ich schon angesprochen habe - natuerlich nicht. Hier wurden ausfuehrlich die Todesumstaende des US-Soldaten Edward Pimental beschrieben und Bilder seiner Leiche gezeigt. Edward Pimental war am Abend des 7. August 1985 von RAF-Mitgliedern in einem Waldstueck bei Wiesbaden durch einen Kopfschuss hingerichtet worden. Er wurde von hinten in den Kopf geschossen, das Projektil trat durch eines seiner Augen wieder aus - Pimental war gerade mal 20 Jahre alt. Wenn ich heute versuche, mir eine solche Situation bildlich vorzustellen, wenn ich mir vorstelle, dass Menschen hergehen und einen jungen Mann erschiessen, weil er Soldat der US-Armee ist und einen Ausweis besitzt, den sie haben wollen, dann empfinde ich das als grauenhaft und zutiefst unmenschlich - anders kann ich das nicht bezeichnen.
Oder Barbara Nies und Matthias Reams, die hier in der Hauptverhandlung als Zeugen ausgesagt haben. Barbara Nies und Matthias Reams sind zwei Menschen, die bei dem Bombenanschlag auf die US-Airbase in Frankfurt schwerverletzt worden waren. Und obwohl beide hier nur kurz ihre Verletzungen schilderten und ueber die Auswirkungen dieses Anschlags auf ihr weiteres Leben redeten, war deutlich zu spueren, wie sehr sie noch heute unter den koerperlichen und seelischen Folgen leiden. Schon allein an diesen Beispielen wird fuer mich deutlich, dass vieles in unserer Geschichte als Irrweg anzusehen ist. Da kam es sehr schnell zu Verselbstaendigungen und einer Eskalation des Militaerischen - Bomben-autos, noch zusaetzlich bestueckt mit Metallteilen, die Menschen zerrissen haben und auch zerreissen sollten, Genickschuesse oder die Erschiessung von Geiseln, wie schon bei der Botschaftsbesetzung in Stockholm.
Wir waren denen, die wir bekaempfen wollten, in dieser Hinsicht sehr aehnlich und sind ihnen wohl immer aehnlicher geworden.
Wenn die Bundesanwaltschaft in ihrem Plaedoyer unzaehlige Male aus Briefen einer anderen RAF-Gefangenen zitiert hat und in diesen Briefen ueber den Tod eines Menschen in Begriffen wie "ausschalten" geredet wurde, dann straeubten sich mir dabei angesichts dieser kalten und menschenverachtenden Sprache oft die Haare. Gleichzeitig weiss ich aber auch, dass ich da nur "Glueck" habe, dass da nicht ich selber mit dieser Sprache zitiert werde, denn in den 70er und 80er Jahren habe ich auch so geredet.
Und es gab Zeiten in meinem Leben, in denen ich die Erschiessung eines US-Soldaten oder eine Autobombe auf der Airbase in Frankfurt oder Ramstein oder die Schleyer-Entfuehrung, die ganzen Aktionen der RAF seit ihren Anfaengen eben, gerechtfertigt fand. Zu dieser Haltung habe ich heute eine grosse innere Distanz. Deshalb hatte ich in meiner Erklaerung zur RAF-Geschichte vom Juli 1995 zu der Erschiessung von Edward Pimental gesagt, dass sie mit revolutionaerer Moral und revolutionaeren Zielen nicht vereinbar ist, und in Hinblick auch auf andere Opfer, die unsere Seite, die RAF, seit ihrem Bestehen zu verantworten hat, die Frage gestellt: "Wie konnte es dazu kommen, dass Menschen, die aufgestanden waren, um fuer eine gerechte und menschliche Welt zu kaempfen, sich so weit von ihren urspruenglichen Idealen entfernten?"
Der Tod eines Menschen ist endgueltig und eine Auseinandersetzung mit der RAF-Geschichte macht keinen Edward Pimental oder Gerold von Braunmuehl oder Juergen Ponto wieder lebendig. Und auch die Situation der Menschen, die bei RAF-Aktionen verletzt worden sind oder die durch unsere Aktionen Familienangehoerige oder Freundinnen und Freunde verloren haben, wird dadurch, ob ich oder andere sich kritisch mit unserer Geschichte und dem, was ich heute als Irrweg und z.T. katastrophale Fehler bezeichnen wuerde, auseinandersetzen, nicht leichter werden.
Wenn ueberhaupt, kann eine solche Auseinandersetzung, auch gerade mit Blick auf die Opfer, nur den Sinn haben, dass die dabei gewonnenen Erkenntnisse Wiederholungen vermeiden helfen. Darin sehe ich aufgrund meiner Biographie, der Tatsache, dass mein Lebensweg 20 Jahre lang eng mit der RAF verbunden war, fuer mich selber eine Verpflichtung und Verantwortung.
Aber gerade eine solche Auseinandersetzung ist offensichtlich staatlicherseits ueberhaupt nicht gewollt, anders jedenfalls ist nicht zu erklaeren, dass beispielsweise die fuer mich zustaendigen Behoerden nichts unterlassen, um genau diese Auseinandersetzung zu blockieren und soweit als moeglich zu verhindern.

Wenig Resonanz der Linken auf Reflexion der RAF-Geschichte

Im linken Spektrum hielt sich die Resonanz auf meine Ansaetze von Reflexion und Diskussion der RAF-Geschichte in Grenzen - was auch angesichts der gesamten Situation nicht anders zu erwarten war. Reaktionen aus linksradikalen Kreisen waren haeufig mit dem Vorwurf verbunden, ich wuerde in meinen Ueberlegungen und meiner Kritik unberuecksichtigt lassen, dass es die Verhaeltnisse sind, die den bewaffneten Kampf notwendig gemacht haben und dass die sich bis heute weltweit eher verschaerft als verbessert haetten. Diese Argumentationslinie, dass Kriege, Auspluenderung, Hunger, eben das grenzenlose Elend unzaehliger Menschen, Begruendung und Legitimation fuer den bewaffneten Kampf auch hier sind, kenne ich gut - ich habe selber lange so gedacht und argumentiert.
Und vieles schreit ja auch nach Veraenderungen - heute nicht weniger als vor 10 oder 20 Jahren. Wer es wissen will, kann wissen, was sich beispielsweise hinter harmlos klingenden Formulierungen wie einer Meldung im Wirtschaftsteil verbirgt, in der es heisst, IWF und Weltbank haetten beschlossen, dass der Schuldendienst dieses oder jenen Landes um soundsoviel erhoeht wird. Solche Forderungen sind haeufig Todesurteile, die dann gegen die Aermsten der Armen durch Hunger oder Krankheit vollstreckt werden. Und diejenigen, die solche Entscheidungen treffen, wissen sehr genau, dass es sich dabei um Massenmord handelt. Wie gegen solche Entwicklungen und eine solche Politik Grenzen gesetzt, Macht beschnitten und neue Orientierungen durchgesetzt werden koennen, weiss ich auch nicht. Ich habe darauf heute keine Antwort, sondern nur Fragen.
Die blosse Behauptung, dass solche Verbrechen bewaffneten Kampf notwendig machen und legitimieren, kann nicht die Antwort sein, denn die wesentliche Frage, naemlich die nach einem Weg, wie Veraenderungen durchgesetzt werden koennen, faellt dabei unter den Tisch.
Aktuell gibt es - natuerlich sehr viel weniger als in den 70er oder 80er Jahren - in Teilen der Linken Diskussionen, in denen die Notwendigkeit militanter und/oder bewaffneter Aktionen begruendet wird. Die Begruendungen fuer solche Aktionen in der heutigen Zeit wird auch da haeufig aus der weltweiten Entwicklung abgeleitet und die Frage nach ihrer politischen Bestimmung und konkreten Funktion, auf Veraenderungen bezogen, bleibt weitgehend schemenhaft. (...)
Wenn es Erfahrungen gibt, die aus den Kaempfen bewaffneter oder militanter Gruppen hier gezogen werden koennen, dann gehoert dazu unbedingt die, dass aus solchen Kaempfen keine Massenmobilisierung und in der Regel sogar ueberhaupt keine Mobilisierung entsteht. Das, was in den 70er Jahren viele Linke weltweit aus der sogenannten Focustheorie an Interventions- und Mobilisierungsmoeglichkeiten abgeleitet haben, hat sich fast ueberall als so nicht umsetzbar erwiesen. Diese Erfahrungen sind bekannt und sie sind gewiss auch denen bekannt, die heute hier ueber den Aufbau militanter und/oder bewaffneter Gruppen nachdenken. Was also treibt immer wieder Menschen oder kleine Gruppen zu diesen Aktionsformen, von denen sie zumindest wissen koennten, dass sie, angesichts der aktuellen Gesellschaftsrealitaet, also der Tatsache, dass der uebergrosse Teil der Bevoelkerung dieses Landes Lichtjahre von jedem umstuerzlerische Gedanken entfernt ist und es auch so gut wie keine organisierte Linke gibt, keine konkret bestimmbare Funktion fuer tatsaechliche Veraenderungen haben?
Ich denke, ueber diese Frage koennen z.T. auch Reaktionen auf meine Texte Auskunft geben. Da heisst es beispielsweise in einem Diskussionspapier: "fuer mich waren die Aktionen und die Politik der RAF mobilisierend, gerade auch wegen ihrer Unversoehnlichkeit, der persoenlichen Konsequenzen", "positive Ausstrahlung wegen ihrer Konsequenz und Veweigerungshaltung" oder "fuer mich war wichtig, dass die RAF gezeigt hat, dass man den Verbrechen etwas entgegensetzen kann", oft ist auch vom "stillen Beifall zu den Aktionen" die Rede. Diese Zitate zeigen eine Haltung oder ein Verhaeltnis, das sich durch die gesamte RAF-Geschichte zieht.
In seinen Buch achtundsechzig schreibt Oskar Negt zu diesem Verhaeltnis Linker gegenueber der RAF unter der Ueberschrift "Bleierne Zeit, bleierne Solidaritaet": "In den folgenden Jahren (gemeint ist die Zeit nach 72) bildet sich ein Sympathisantenkreis innerhalb der Linken, der auf dieser Zwiespaeltigkeit beruht, einer merkwuerdigen Gefuehlslage bei vielen Sympathisanten, die keineswegs eine blosse Erfindung des 'Systems' oder der reaktionaeren Gewalt sind, die Zwiespaeltigkeit besteht darin, dass nur wenige bereit waeren, mit vollem Lebensrisiko sich auf diese Strategie einzulassen oder auch nur einen Stein oder gar eine Waffe in die Hand zu nehmen. Es ist eben keine Identifikation, sondern Sympathie in der Weise, dass andere ausagieren, was sie selbst sich nur in ihren Traeumen zutrauen."
Und einen Mann, der zwischenzeitlich einen Ministerposten bekleidet hat und der heute im Bundestag sitzt, zitiert Negt mit einem Satz aus dem Jahr 1977: "Wir koennen uns aber auch nicht einfach von den Genossen der Stadtguerilla distanzieren, weil wir unter demselben Widerspruch leiden, zwischen Hoffnungslosigkeit und blindem Aktionismus hin und her schwanken."
Und zu erwaehnen ist in diesen Zusammenhang auch die "klammheimlichte Freude" ueber die Erschiessung des damaligen GBA Buback eines Menschen aus Goettingen, jemand, der der RAF-Politik kritisch gegenueberstand, gleichwohl aber diese "klammheimliche Freude" empfand.

Eigene "Ohnmachtserfahrungen" als ein wesentliches Moment der Gemeinsamkeit

Wenn ich mir solche Reaktionen bzw. die Haltung vieler Linker zur RAF anschaue - und gerade auch die von Leuten, die den Kampf der RAF politisch falsch fanden -, dann scheint ein wesentliches Moment der Gemeinsamkeit in eigenen Ohnmachtserfahrungen zu beruhten. Und genau das, also Ohnmachttserfahrungen, scheint auch durch die Texte von Menschen, die heute am Aufbau bewaffneter oder militanter Gruppen ueberlegen.
In einem Vortrag, den Carl-Christian v. Braunmuehl, dem Bruder des von der RAF erschossenen Gerold v. Braunmuehl, 1994 auf einem Symposium gehalten hat, befasst er sich u.a. auch laenger mit dieser Problematik der Ohnmacht. Carl-Christian v. Braunmuehl stellt in dem Zusammenhang die Frage: "Vielleicht ist es so, dass wenige schiessen, weil zu wenige sich gewaltlos einmischen, und zu viele sich darauf beschraenken, die Politik ein schmutziges Geschaeft zu nennen, sich auf ihre Ellbogen konzentrieren - und weil es an Graswurzeln fehlt."
In meinem Text zur RAF-Geschichte hatte ich selber entlang meiner Biographie ausfuehrlich ueber diese Erfahrung von Ohnmacht und dem Gefuehl der Unveraenderbarkeit geschrieben. Dazu gehoeren fuer mich einerseits die Erfahrungen meiner Generation im Deutschland der 50er und 60er Jahre. Ich hatte in dem Zusammenhang geschrieben: "Faschismus, seine Verbrechen und der Krieg (...) waren Tabuthemen und lagen wie eine Glocke aus Dumpfheit, Enge und Schweigen ueber allem." Und andererseits die staatlichen, aber auch die Reaktionen der Gesellschaft Ende der 60er Jahre und in den 70ern auf Versuche und Ansaetze fuer Veraenderungen, sei es in Schuelergruppen, bei Vietnam-Demos oder zu den Haftbedingungen der politischen Gefangenen, die immer nur auf Ausgrenzung oder Verfolgung aus waren.
Prof. Horst-Eberhard Richter schreibt in seiner Anmerkung zu meiner Prozesserklaerung: "Birgit Hogefeld hat die Kampfbegriffe benannt, die der Grundsatzstreit hervorbrachte: Hier Reformismus, Integrations- auch Karrierewille, Unterwerfung unter das System - dort Putschismus und Militarismus. Sie selbst wandte sich endgueltig dem militaerischen Fluegel zu, aber bedauert im nachhinein das Abreissen der Diskussion und die damals schon einsetzende Selbstisolierung ihrer Fraktion.
Was man psychoanalytisch als paranoide Position benennen wuerde, kennzeichnet das Grundkonzept derer, die wie sie den bewaffneten Kampf bejahten. Sie spricht von der 'Radikalitaet des Bruchs und der Negation', von 'ausschliesslicher Orientierung unserer Politik an der Negation'. Kritisch schildert sie eine systematische Einengung des Blickfeldes, 'in dem alles zu einem Schwarz-Weiss-Schema zusammengepresst wurde'. Man nahm nur noch wahr, was in das paranoide Bild passte: Schiesswuetige Polizisten, Toetung von Gefangenen, Napalm usw. Ihre Solidarisierung mit der RAF verschaffte Birgit Hogefeld dann genau die auf ihr Denkmuster zugeschnittene persoenliche Verfolgungserfahrung: Viele Hausdurchsuchungen, Autokontrollen mit schussbereiten Maschinenpistolen, laufende Observationen."
Formulierungen wie "paranoide Position" gehoeren nicht zu meiner Begriffswelt - und auch wenn ich H.E. Richters einseitige Zuweisungen fuer verkuerzt halte - geben sie mir Impulse fuer ein Nachdenken ueber die Gruende fuer meine bzw. unsere lange Zeit eingeengte Denkweise und reduzierte Wahrnehmung der Welt.
Meiner Meinung nach gehoert zum Verstaendnis dieser Entwicklung als zweite Ebene hinzu, die Beweggruende fuer die in diesem Textabschnitt - ich bezeichne das hier mal als "neutral" - beschriebenen staatlichen Reaktionen zu beleuchten. Ich denke, ich kann als Tatsachenbehauptung in den Raum stellen, dass die staatliche Reaktion gegen Linke, gegen Menschen, oft noch Jugendliche, die von 68 bis heute fuer Veraenderungen eingetreten sind, in vielen Faellen unverhaeltnismaessig waren und sind. Tote Gefangene, kriegsmaessige Einsaetze in Brokdorf oder Wackersdorf - und das zieht sich alles bis in die Gegenwart: ein Aufgebot unzaehliger Hundertschaften Polizei gegen ein Punker-Treffen oder die alle Relationen negierende Verfolgung von Goettinger Antifaschisten.
Negt versucht in seinem Buch, solch typisch deutsche Verfolgungs- und Vernichtungsfeldzuege historisch zu erklaeren: "Weil es in Deutschland im geschichtlichen Traditionszusammenhang nie die Erfahrung einer gelungenen Revolution gegeben hat, sind stets bereits Unruheherde, zivile Unbotmaessigkeiten, Sitzblockaden, Lichterketten, revolutionaere Gedanken so verfolgt worden, als waeren es realitaetsgerechte Umsturzversuche."
Fuer die "auf mein Denkmuster zugeschnittene persoenliche Verfolgungserfahrung" (H.E. Richter) brauchte es im diesem Land nicht viel. Da reichten anfangs Spruehparolen zu einem Hungerstreik aus, um tagelanger Observation durch die politische Polizei ausgesetzt zu sein. Ich finde, es sagt einiges ueber einen Staat aus, wenn aufgrund von Parolen oder Flugblaettern Schueler und Schuelerinnen staatlicher Verfolgung unterworfen werden. Auf der anderen Seite waren es natuerlich mehr die harten staatlichen Reaktionen wie Isolationsfolter, Erschiessungen oder die Ermordung von Holger Meins, die mich und andere radikalisiert haben.

Verkuerzter Faschismusbegriff

Ich hatte in dem Zusammenhang auch ueber unserern verkuerzten Faschismusbegriff geredet - allerdings hat gerade auch diese Sorte staatlicher Gewalt eine solche Verkuerzung leicht gemacht, denn sie hat Vergleiche und Parallelen geradezu aufgedraengt, gerade auch bei Menschen, die damals noch sehr jung waren.
Negt schreibt dazu: "Im Operieren mit dem globalen Faschismusvorwurf steckt ein Zentralproblem der Linken in dieser Zeit. Die Leichtfertigkeit, mit der unangenehme Entwicklungen, staatliche Eingriffe, Rechtsentscheidungen das Entwertungsetikett 'faschistische' aufgedrueck bekamen, widersprach dem wissenschaftlichen Selbstanspruch, historisch gepraegte Gesellschaftsformen nicht miteinander zu verwechseln."
Auch heute wird in Teilen der radikalen Linken wieder mit genau diesem verkuerzt-falschen Faschismusbegriff operiert. Meiner Meinung nach ist es aus den unterschiedlichsten Gruenden an der Zeit, sich mit der Geschichte der Linken mach 68 zu beschaeftigen. Es gibt mittlerweile einige interessante Ansaetze in diese Richtung wie das genannte Buch von Oskar Negt oder jetzt die Dutschke-Biographie von Gretchen Dutschke. Zu ihr hiess es in einer Besprechung in der taz: "Fuer juengere Leser wird es (dadurch) zu einer wahren Zeitmaschine, die die Reise in eine bizarre, untergegangene Welt ermoeglicht".
Und genau das ist wohl auch wichtig, denn ohne Einfuehlung bzw. Neu-Einfuehlung in diese Zeit wird ein Verstehen nicht moeglich sein. Aus heutiger Sicht erscheint vieles, was in der 60er oder 70er Jahren die revolutinaere Linke rund um den Erdball bewegte, wie aus einer anderen Welt, und das ist es ja auch.
Neulich habe ich nach langer Zeit zum ersten Mal wieder in Frantz Fanons Buch Die verdammten dieser Erde (vor 20 Jahren in jedem linken Buecherregal anzutreffen) gelesen. Ich wollte mir nochmal die Passagen zur Frage nach den individuellen Befreiungsmomenten, die dem bewaffneten Kampf in der damaligen Zeit zugeschrieben worden sind, anschauen. Dabei bin ich auf folgende Textstelle gestossen: "Wenn die Bauern zu den Waffen greifen, verbleichen die alten Mythen, die Tabus werden eins mach dem anderen umgestuelpt: die Waffe des Kaempfers ist seine Menschlichkeit. Denn in der ersten Zeit des Aufstands muss getoetet werden: einen Europaeer erschlagen heisst zwei Fliegen auf einmal treffen, naemlich gleichzeitig einen Unterdruecker und einen Unterdrueckten aus der Welt schaffen. Was uebrigbleibt ist ein toter Mensch und ein freier Mensch."
Der Autor dieser Saetze aus dem Vorwort zu Fanons Buch ist Jean-Paul Sartre, er hat sie 1962 geschrieben. Die darin vom Sartre vertretene Sichtweise und die auf den einzelnen Menschen bezogene Befreiungsfunktion von antikolonialen Kriegen, spiegelt eine weitverbreitete Haltung der revolutionaeren Bewegungen in der 60er und 70er Jahren wider. Fuer Gruppen wie die RAF war sie in Uebertragung auf die Verhaeltnisse hier Teil des politisch-moralischen Fundaments fuer den eigenen Kampf. Auch daran wird deutlich, es handelt sich um Gedanken bzw. eine Denkweise aus einer vergangenen Epoche - und dass die RAF diese und andere Ideen und politischen Bestimmungen bis Anfang der 90er Jahre nicht reflektiert und revidiert hat, zeigt vor allem eins: Wir sind alles in allem sehr deutsch.
Die weltweiten Erfahrungen haben zwischenzeitlich gelehrt, dass diese Frage sich ganz anders - umgekehrt - stellt. Auch Befreiungskriege praegen das Denken und Fuehlen der daran beteiligten Menschen nachhaltig und fuer viele unumkehrbar - aber das keineswegs bloss in einer positiven Richtung. Auch da stumpfen die Menschen ab und verrohen, und gerade waehrend langer Kriegsperioden werden Verhaltens- und v.a. Konfliktloesungsmuster eingeuebt, die mit den urspruenglichen Gesellschaftsutopien oft nur wenig oder gar nichts zu tun haben. Ein Resultat daraus zeigt sich fast ueberall da, wo Befreiungsbewegungen nach langem Kampf an die Macht gekommen sind, in den Schwierigkeiten beim Aufbau demokratischer Zivilgesellschaften.
Viele der mir wichtig erscheinenden Fragen habe ich hier und in frueheren Texten nur anreissen koennen und nur weniges ausfuehrlicher behandelt. Mir scheint sicher, dass aus der Geschichte (auch aus der RAF) eine Menge Erkenntnisse gezogen werden koennen, die fuer zukuenftige politische Bestimmungen, aber auch, um die Wiederholung alter Fehler zu vermeiden, Orientierungshilfen sein koennen.
Der Kampf, wie ihn die RAF Anfang der 70er Jahre begonnen hat, gehoert einer vergangenen Epoche an. Heute denke ich, dass eine Selbstreflexion allerspaetestens 77 haette einsetzen muessen, anstatt in eine Auseinandersetzung RAF - Staat zu treiben, bei der die Gesellschaft aber auch der Grossteil der Linken aussen vor stand. Deshalb finde ich die Aufforderung von Helmut Pohl an die Illegalen, ihre Aufloesung als RAF zu erklaeren, richtig - dieser Schritt ist lange ueberfaellig.
Nach unserer Zaesur-Erklaerung von April 92 sah sich die Politik ganz offensichtlich durch die von unserer Seite aus zurueckgenommene Eskalation von jedem Handlungszwang befreit und ueberliess das Umgehen mit der RAF bzw. den Gefangenen aus diesem Zusammenhang den Verfolgungsbehoerden und der Staatsschutzjustiz.
Welche Richtung und welche Interessen diese Behoerden vorfolgen, ist deutlich. Ganz offensichtlich soll jede politische Auseinandersetzung mit unserer Geschichte verhindert werden, und jeder dahingehende Versuch wird blockiert, wo immer das moeglich ist. Daran hat sich auch nach unserer Deeskalationserklaerung nichts geaendert, denn viele, allen voran dieser "Braune-Socken-Verein" aus Karlsruhe, wollen in der alten Konfrontationsstellung verharren und sie moeglichst wiederbeleben.
Lange Jahre, v.a. Ende der 80er, wurden Initiativen der damaligen Gefangenengruppe fuer eine Diskussion untereinander und eine oeffentliche Diskussion immer wieder auch mit der Begruendung verhindert, der Staat koenne schliesslich keine oeffentliche Propagierung des bewaffneten Kampfes zulassen.

Wie Helmut Pohl nun vor einigen Wochen durch die Veroeffentlichung aelterer Briefe deutlich gemacht hat, gab es seit 87 zumindest von einem Teil der Gefangenen Ueberlegungen in Richtung einer Zaesur. So wie er heute darueber redet, kommt mir das ziemlich glatt und schoengefaerbt vor, ich glaube nicht, dass das alles fuer ihn und andere damals so eindeutig war, wie er das heute darstellt (dagegen sprechen auch Texte und Interviews von ihn aus der Zeit nach den Hungerstreik 89). Trotzdem stimmt aber, dass es die Ueberlegungen in Richtung eines Einschnitt gegeben hat und dass die Sicherheitsbehoerden davon Kenntnis hatten.

"Dieser Staat braucht Gruppen wie die RAF, um aus ihrer Bekaempfung fuer sich selber Sinn und Identitaet zu ziehen"

Warum also wurde staatlicherseits alles daran gesetzt, die Isolierung der Gefangenen untereinander weiterhin aufrechtzuerhalten, mit dem voraussehbaren Ergebnis, dass sie als Gefangenengruppe (und das war ja ihr Selbstverstaendnis) solche Gedanken nicht weiterentwickeln und in eine oeffentliche Diskussion und so auch eine Diskussion mit der RAF einbringen konnten?
Ich habe mich lange gegen den Gedanken gestraeubt, dass dieser Staat, zumindest der reaktionaere Teil seines Sicherheits- und Justizapparats, Gruppen wie die RAF braucht, um aus deren Bekaempfung fuer sich selber Sinn und Identitaet zu ziehen. Doch gerade aus dieser Blockierung einer gemeinsamen wie auch der oeffentlichen Diskussion der RAF-Gefangenen Ende der 80er Jahre, aber auch aus den Erfahrungen, die ich seit meiner Verhaftung gemacht habe, bleibt eigentlich keine andere Interpretationsmoeglichkeit.
Das geht schon sofort nach der Verhaftung bei Menschen, die aus dem RAF-Zusammenhang kommen, mit der Isolationshaft los. Ueber Isolationshaft, wie das ist und wirkt und wie mensch sich darin fuehlt, habe ich hier bereits ausfuehrlich geredet. Isolationshaft ist eine Form von Folter, die langfristig auf die Zerstoerung von Gefangenen zielt - aber es gibt da noch einen weiteren Aspekt. Gerad fuer Menschen, die aus einer politischen Gruppe wie der RAF kommen, in der enge und dogmatische Denk- und Sichtweise vorgeherrscht hat, ist sie die 100prozentige Bestaetigung dieses reduzierten Weltbilds. Ein Merkmal, das sich durch unsere Geschichte gezogen hat, war eine eingeengte Wahrnehmung der Welt, ein Schwarz-weiss-Schema, das fast alle Widerspruechlichkeiten und gegenlaeufige Bewegungen ausgeblendet und negiert hat und in dem die Menschheit in "Mensch oder Schwein" aufgeteilt wurde. (...)
Bei all dem, Haftbedingungen, Zensur, Ausgrenzung bestimmter Themen beim Besuch (da wird vorher angekuendigt, dass das Ansprechen der Themen RAF, Prozess und Bad Kleinen zum sofortigen Abbruch fuehrt), ist ganz offensichtlich, es ist dazu bestimmt, ein Ausbrechen aus gewohnten, oft engen Denkstrukturen zu verhindern und so eben auch eine Reflexion der eigenen Geschichte.
Und, das moechte ich hier auch mal sagen: Es ist fuer einen Menschen mit meiner Biographie sicherlich sowieso nicht einfach, sich seiner Geschichte zu naehern und all die Fragen, die dabei auf einen zukommen, zuzulassen. Ich jedenfalls empfinde das haeufig als ziemlich schwierig und muss dabei viele innere Widerstaende ueberwinden. Und wenn dann die aeusseren Lebensumstaende so organisiert werden, dass sie jede Diskussion und Auseinandersetzung soweit als moeglich blockieren, um einem die Anregung und Reibung mit und durch die Gedanken anderer fast vollstaendig zu nehmen, und gleichzeitig auch so gestaltet werden, dass man immer wieder in die bekannten Konfrontationsmuster gezwungen wird und damit auch oft in die eigenen bekannten Verhaltensweisen - dann macht das das ganze nicht leichter.
Vor einiger Zeit habe ich dazu in einem Brief geschrieben: "Meine gesamte Situation ist recht schwierig: Die Welt aus der ich komme, der fuehle ich mich nicht mehr zugehoerig und so bin ich irgendwo im Niemandsland auf der Suche nach, ja was eigentlich? Und das in einer Situation, wo ich in Kuerze ein Lebenslaenglich-Urteil bekomme, also auf ungewisse Zeit in dieser reduzierten und entmuendigenden Knastwelt leben muss, die gerade von den Bereichen und Teilen der Gesellschaft(srealitaet), die mich am meisten interessieren, weitgehend abgeschottet ist. Das ganze kommt mir oft absurd vor: Lange Jahre meines Lebens fehlte mir die innere Bereitschaft, mich mit verschiedensten gesellschaftlichen Entwicklungen auseinanderzusetzen und darauf einzulassen, und heute, wo das anders ist, und ich selber gern mit mit den unterschiedlichsten Menschen reden und sie kennenlernen wuerde, wird das durch die aeusseren Bedingungen fast vollstaendig verhindert."
Bundesanwaltschaft und Teile der Justiz- und Sicherheitsapparate wollen die alten Konfrontationslinien auf Biegen und Brechen aufrechterhalten und dafuer soll und muss jede oeffentliche Auseinandersetzung um die RAF und die Gefangenen aus der RAF verhindert werden. Dafuer - nicht nur, aber auch - wurde die Anklage gegen mich mittels Manipulationen um die Mordanklagen wegen der Airbase-Aktion und der Erschiessung des US-Soldaten Edward Pinental erweitert, denn mein Name sollte nicht weiter mit Bad Kleinen oder der Zaesur-Entscheidung der RAF in Verbindung gebracht werden, sondern genau mit den Aktionen, die selbst in der Linken auf massivste Kritik und Verurteilung gestossen waren. Ich habe diese nachgeschobene Pimental-Anklage immer in diesem Kontext gesehen - ueber sie sollte versucht werden, mich aus einer oeffentlichen Diskussion auszugrenzen, zumal ja bekannt war, dass ich mich seit meiner Verhaftung immer bemueht habe, Gedanken und Reflexionen ueber die RAF-Geschichte oeffentlich zu machen. Fuer ein Lebenslaenglich-Urteil waere diese Anklage-Erweiterung zumindest bei diesem Senat wohl nicht noetig gewesen.

Ein typisches Lex-RAF-Beispiel

Vor Oeffentlichkeit und einer oeffentlichen Auseinandersetzung herrscht offensichtlich die groesste Angst - anders sind auch diese irrsinnig begruendeten Beschluesse zur Ablehnung von Interviews nicht zu erklaeren. Da wird seitens des Senats immer wieder und wider besseren Wissens behauptet, ich wuerde den bewaffneten Kampf propagieren - doch meine Texte sind dahingehend eindeutig und lassen keinen Spielraum fuer andere Interpretationen offen. (...)
Schon in den 70er Jahren war in RAF-Texten, da wo es um die Formulierung allgemeiner Zielvorstellungen ging, von "Befreiung der Menschen" die Rede, oder im ersten Satz unserer Zaesur-Erklaerung vom April 92 heisst es beispielsweise: "An alle, die auf der Suche nach Wegen sind, wie menschenwuerdiges Leben hier und weltweit an ganz konkreten Fragen organisiert und durchgesetzt werden kann." Es handelt sich also um Ziele, die in Begriffen und Kurzformeln wie "Befreiung", "gerechtere Welt", "gegen Auspluenderung ganzer Kontinente und fuer eine gerechte Verteilung des Reichtums" oder "fuer ein menschenwuerdiges Leben" gefasst worden sind.
Ja, ich habe in meinen Texten und Briefen keinen Zweifel daran gelassen, dass es diese Ziele von einer menschlicheren und gerechteren Welt sind, denen ich mich weiterhin verbunden fuehle. Und wenn die Formulierung und das Aussprechen solcher Ziele in diesem Land einen Straftatbestand nach õ 129a StGB darstellt, dann werde ich sicherlich auch zukuenftig eine Straftat nach der anderen begehen.
Aber so ist dieser Beschluss wohl gar nicht gemeint. Es waere heute wohl kaum denkbar, dass das BVG eine solche Entscheidung bei einem Menschen trifft, der nicht der RAF-Mitgliedschaft angeklagt ist. Fuer mich ist diese BVG-Entscheidung ein typisches Lex-RAF-Beispiel. Es sagt viel ueber die politische Situation und die politische Kultur in diesem Land aus, dass auch ein Gericht wie das BVG 1996 solche Beschluesse fasst und ganz offensichtlich nicht den Mut findet, neue Signale im Umgang mit Gefangenen aus der RAF zu setzen, Signale, die die Tuer fuer eine Auseinandersetzung und Diskussion um die RAF-Geschichte haetten aufmachen koennen.
Den reaktionaeren Teilen der Staatsschutz- und Justizapparate bleibt also weiterhin freie Hand - auch fuer das, was ich oben als Wiederbelebungsversuche alter Konfrontationsstellungen bezeichnet habe. Zu diesen Versuchen die Geschichte zurueckzudrehen, gehoert fuer mich z.B., dass in den letzten Jahren wieder Menschen in die Illegalitaet getrieben wurden, und zwar systematisch, mittels Haftbefehlen wegen der Zeitschrift radikal oder den Ermittlungen wegen der Weiterstadt-Aktion, wo ja gegen viele Leute Beugehaft angeordnet worden war und ein Haftbefehl ergangen ist. Diese ganze absurde Konstruktion, Steinmetz sei an dieser Aktion beteiligt gewesen und in den Koffern seines Motorrads sei der Sprengstoff transportiert worden, hatte von Anfang an die Kriminalisierung von Menschen aus linksradikalen Zusanmenhaengen zum Ziel.
Aber das scheint ja aus den unterschiedlichsten Gruenden niemand hoeren zu wollen - die einen nicht, weil sie in Steinmetz dem Superagenten sehen wollen und andere nicht, weil sie von den Gedanken einer von Geheimdiensten gesteuerten RAF voellig fasziniert sind.
Ich finde, man sollte eins nicht unterschaetzen, bei Behoerden wie der Bundesamwaltschaft gibt es zu bestimmten Ablaeufen und Entwicklungen mehr Wissen als allgemein bekannt ist. Zu diesem Wissen gehoert u.a., dass es im der Vergangenheit immer Leute gab, die aus den verschiedensten Gruenden in die Illegalitaet gegangen sind - manchmal auch getrieben wurden - und die sich aus dieser Lebenssituation dann irgendwann der RAF angeschlossen haben. Es gibt sicher keinen Automatismus, der besagt, dass der Weg in die Illegalitaet automatisch zur RAF fuehrt - und es gibt sicher mehr Menschen, die diesem Weg nicht gegangen sind als andere. Gerade in den 80er Jahren gingen ja viele in die Illegalitaet, laengst nicht alle gingen auch zur RAF. Es gab damals von der RAF getrennte eigenstaendige Strukturen und ganz unterschiedliche Formen von Praxis - von der Herstellung einer Zeitung und Organisierung von Diskussionen bis zu militanten Aktionen. Aber fuer manche, wie z.B. fuer Wolfgang Grams und mich, fuehrte er zur RAF.

"Wolfgang Grams und ich sind 1984 nicht in die Illegalitaet gegangen, um uns in der RAF zu organisieren"

Hier in diesen Verfahren wurde ja immer wieder behauptet, Wolfgang Grams und ich seien im Februar 84 in die Illegalitaet gegangen, um uns in der RAF zu organisieren - das stimmt nicht und das ist auch den zustaendigen Behoerden seit damals bekannt. Es ging um ein geklautes Auto, das aufgeflogen war, ein Schwachsinnsprojekt, und es hatte mit der RAF nicht das geringste zu tun. Fuer Leute wie uns, aus unseren politischen Zusammenhaengen, haette eine solche Geschichte natuerlich sofort zu einer hohen Knaststrafe gefuehrt - wie das eben gegen Linke hier in diesem Land ueblich ist, und um uns dem zu entziehen, sind wir damals in die Illegalitaet gegangen.
Das war also unsere Situation im Februar 84 - Illegalitaet, ohne genaue Vorstellungen und ohne zu wissen, wie man ein solches Leben organisiert. In dieser Situation trifft man nicht von einem auf den anderen Tag eine Lebensentscheidung wie die, zur RAF zu gehen. Wann ich diese Entscheidung fuer mich getroffen habe, also ab wann ich RAF-Mitglied gewesen bin, das weiss von allen, die hier in diesem Saal sitzen, nur ich - im Februar 84 war es jedenfalls nicht.
Interessant ist das alles auch nur in Hinblick auf das aktuelle Vorgehen bestimmter Behoerden, denen solche Ablaeufe bekannt sind. Denn Wolfgang Grams und ich waren ja auch nicht die einzigen in der RAF-Geschichte, bei denen der Weg zur RAF darueber gelaufen ist, sich der Verfolgung oder einer Knaststrafe zu entziehen, und die in der Illegalitaet die Entscheidung getroffen haben, zur RAF zu gehen. Und genau diesen Mechanismus scheinen die staatlichen Verfolgungsbehoerden heute gezielt einzusetzen, um Menschen in diese Situation, in ein Leben in der Illegalitaet, zu treiben - wohl in der Hoffnung, dass sich auf diesem Weg wieder bewaffnete Gruppen konstituieren. Auch um die Wiederholung solcher Ablaeufe zu verhindern, erscheint mir der Versuch einer oeffentlichen Auseinandersetzung mit der RAF-Geschichte so wichtig.
Gegen diese Auseinandersetzung gibt es staatlicherseits die verschiedensten Widerstaende, denn die Politik ueberlaesst das Feld den Verfolgungsbehoerden und einer Rachejustiz - die da ihre eigenen Interessen und Ziele verfolgen - und die das "Problem RAF" bzw. Gefangene aus der RAF auf justizieller Ebene behandeln und abarbeiten wollen und sollen.
Doch die RAF - und das zeigt auch die mehr als 20jaehrige Kontinuitaet dieses Kampfes - war immer und in erster Linie die Reaktion von Menschen auf die hier herrschenden Verhaeltnisse. Bei allen Verirrungen und allen Fehlern, wir waren kein krimineller Haufen, der losgezogen ist, um irgendwelche Besitztuemer anzuhaeufen oder aehnliches. Und wer heute versucht, der RAF-Thematik auf dieser Ebene zu begegnen, der hat dafuer seine eigenen Motive - und die duerften, wie es in diesem Land gute alte Tradition ist, zuallererst im Bereich der Verdraengung zu suchen sein.
Sich mit der RAF-Geschichte auseinanderzusetzen, heisst zum einen, sich mit dieser Gesellschaft und den hier herrschenden Denk- und Wertmustern auseinanderzusetzen. Und es heisst auch eine Auseinandersetzung mit der Vergangenheit dieses Landes, denn ohne NS-Faschismus, die Tabuisierung und Verdraengungen nach 45 und diesem daraus resultierenden massiven Abgrenzungsbeduerfnis einer ganzen Generation gegen diese Eltern, haette es die RAF in dieser Form und ueber diese Zeitspanne nie geben koennen. Man braucht sich heute doch bloss die Reaktionen und die Abwehr auf das Goldhagen-Buch anzuschauen, dann weiss man auch, warum es eine Auseinandersetzung mit der RAF-Geschichte nicht geben soll.
Nicht nur die Irrungen auf unserer Seite, unsere Bereitschaft zur Eskalation und die Verselbstaendigungen des Militaerischen habe eine sehr viel engere Verbindung zur Geschichte dieses Landes als uns, oder zumindest mir, das lange bewusst war. Aber auch diese voellig ueberzogenen Reaktionen auf staatlicher Seit Ausnahmezustand 77, das oeffentliche Nachdenken von Politikern ueber standrechtliche Erschiessungen von Gefangenen, um Druck auf die Schleyer-Entfuehrer auszuueben, Killfahndung und Morde an Gefangenen haben diese geschichtlichen Wurzeln. Es brauchte da schon zwei Seiten, die gut zueinander passten, damit diese Eskalationsspirale so funktionieren konnte, wie sie funktioniert hat - das hat nicht die RAF allein zu verantworten.
Ueber diese Zusammenhaenge, dieses Zusammenspiel, gibt es heute ja wohl bei einigen Leuten, die in den 7Oer Jahren in verantwortlichen Positionen auf Staatsseite wichtige Entscheidungen in bezug auf die RAF bzw. auf RAF-Gefangene getroffen haben, durchaus ein Bewusstsein. Es waere sicher nicht schlecht, wenn sie das, ueber Gespraeche im privaten Kreis hinaus, auch in eine oeffentliche Debatte ueber diese Zeit einbringen wuerden.
Ich glaube zwar auch nicht, dass eine Auseinandersetzung ueber all diese Fragen heute auf allzu breites Interesse stoesst, aber es gibt Menschen, die diese Diskussion fuehren wollen und es gibt viele und die unterschiedlichsten Gruende dafuer. Eine wesentliche Voraussetzung dafuer ist staatlicherseits ein anderes Umgehen mit uns und unserer Geschichte und dafuer braucht es Signale in diese Richtung, die nur von der Politik kommen koennen.



Die Abschlusserklaerung Birgit Hogefeld wurde redaktionell um mehr als ein Drittel gekuerzt, vor allem um Abschnitte zu Bad Kleinen, der "Beweisfuehrung" der Bundesanwaltschaft zur Airbase-Aktion und den Haftbedingungen. Die vollstaendige Prozesserklaerung ist abgedruckt in der "Interim" Nr. 396 (Teil 1) und Nr. 397 (Teil 2), in Bremen erhaeltlich u.a. im Infoladen Umschlagplatz in der St.-Pauli-Strasse 10/12. Die Ueberschrift und die Zwischenueberschriften wurden von der Redaktion hinzugefuegt.


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kombo(p) - 07.02.1997