Ein Auszug aus - kassiber 29 - September 96

Chaos-Tage

"Rechtsstaat, höre ich richtig ?"

fragte der Bremer Anwalt Heinrich Hannover vor vielen Jahren im Kursbuch und beschrieb seine unendlichen Enttäuschungen den Umgang der Polizei mit Bürgern betreffend.

Rechtswidriges Verhalten haben sich Polizeikräfte schon häufig vorhalten lassen müssen. Aber auch wenn man den Chaostagen nicht unbedingt selber etwas abgewinnen kann, muß die Behandlung der Punks, oder genauer derjenigen, die von der Polizei zu Punks erklärt wurden, an diesen Tagen durch die Bremer Obrigkeit bedenklich stimmen.

Die Frage ist, ob künftig dieses rigorose und in weiten Teilen sicherlich rechtswidrige Polizeikonzept auch auf andere gesellschaftliche Gruppen Anwendung finden wird. Hierfür spricht, daß Bremens Innensenator Borttscheller bundesweite Anfragen nach dem Einsatzkonzept bekam und die Kommentierung in der FAZ erkennen ließ, daß in ihm ein hoffnungsvoller Nachwuchsmann der harten Linie gesehen wird. Deswegen lohnt es sich einerseits genauer hinzuschauen und anderseits, die hier aufs Juristische beschränkte Kritik ausführlich zu machen.

Das Polizeikonzept
Einen Überblick zu geben, fällt auch heute noch schwer, da die Auswertung der Ereignisse noch nicht abgeschlossen ist. Als Quellen stehen natürlich vor allem die zahlreichen Betroffenen, aber auch Zuschauer, Pressevertreter und zuletzt - allerdings nicht mit besonderer Glaubwürdigkeit - Polizeivermerke zur Verfügung.

Die Polizei des Landes Bremen war vorbereitet. Schon bald nachdem bekannt wurde, daß die üblicherweise in Hannover stattfindenden Chaostage bei zu großem Druck nach Bremen verlegt werden könnten, entwickelten die Behörden folgende einfache und brutale Strategie:

möglichst die Anreise auswärtiger Punks und der zu ihnen Gezählten zu verhindern in Bremen Ansammlungen von ortsüblich Verdächtigen aufzulösen.

Im einzelnen:
Platzverweise im Vorfeld
Bereits in der Woche vor dem 3.8.1996 wurden Platzverweise in Bremen gegenüber Punks oder so aussehenden Leuten ausgesprochen.
Am Mittwoch, 31.7.1996, traf es unter anderem eine Gruppe meist nicht Volljähriger, die nicht nur ihre Festnahme zum stadtbekannten 3. Polizeirevier erleben durften. Ihnen wurde überdies ein unbefristetes Stadtverbot für die Stadt Bremen erteilt. Ein aus Bremen bereits aus der Bauwagenszene her Bekannter beantragte gegenüber dem Verwaltungsgericht die Aufhebung des Stadtverbotes; ausgeurteilt wurde dies nicht, da die Behörde selbst das Stadtverbot zurücknahm, als absehbar war, daß das Verwaltungsgericht das Stadtverbot schon wegen der Unbefristetheit kippen würde. Weiteren vier sich wehrenden Personen gab das Verwaltungsgericht noch am 2.8.96 ebenfalls die Stadtrechte zurück.

Allgemeinverfügung
Kläger gegen die Allgemeinverfügung des Stadtamtes vom 1.8.1996 fanden sich nicht. Diese im Weser-Kurier vom 2.8.1996 veröffentlichte Verfügung besagte das Verbot von Ausweich- oder Ersatzverantstaltungen zu den Chaos-Tagen 1996 in Hannover und untersagte "den Personen, die von der Polizei verdächtigt wurden, in Hannover bereits Platzverweise pp. erhalten zu haben" oder die Durchführung oder Teilnahme der von Bremen verbotenen Veranstaltung vorzubereiten, den Aufenthalt in der Stadtgemeinde Bremen bis zum 5.8.1996, sofern sie keinen festen Wohnsitz in Bremen hätten.
Juristen zergeht natürlich der Satz: "... verdächtigt, in Hannover bereits Platzverweis bekommen zu haben..." auf der Zunge, da eigentlich auch behördlicherseits feststellbar sein sollte, ob jemand in Hannover Platzverweis pp. erhalten hat oder nicht.
Wie groß die Zahl der von Platzverweisen Betroffenen bis zum 3.8.96 war, kann nicht gesagt werden; die Polizei behauptet, sie habe in der Zeit vom 30.7.-4.8.96 476 auswärtigen Personen Stadtverbot erteilt. Diese Zahl ist zweifelhaft. Sie wird wesentlich höher sein, da die Polizei sich sehr unterschiedlich verhielt. So berichteten viele Betroffene, daß ihnen Platzverbote lediglich mündlich, aber mit großem körperlichen Nachdruck erteilt worden seien, sie aber keine schriftlichen Bescheide, Zettel oder ähnliches erhalten hätten. Zudem - so die Polizei - seien die Bremer, welche Platzverbote erteilt bekommen hätten, nicht gezählt worden. Auffällig schon insoweit, daß im Vorfeld des 3.8.1996 lediglich fünf Personen bereit waren, sich mit rechtlichen Mitteln gegen ihre persönliche Platzverweisung zu wehren.

Ingewahrsamnahmen
Ab dem 2.8. kann von Belagerungszustand in Bremen gesprochen werden. Am Bahnhof wird ein großer Bereich zu einem öffentlichen Knast umgebaut. Die Bilder der umzäunten Bereiche, in die am Bahnhof Ankommende gepfercht wurden, bevor sie von BGS-Einheiten in verschiedenen Züge zwecks Heimreise verbracht wurden, sind bekannt. Auf den Straßen wird quer durchs Stadtgebiet, vor allem im Ostertor-/Steintorviertel Jagd auf Punks pp. gemacht. Aber auch in der Innenstadt werden einkaufende Jugendliche mit Platzverweisen überzogen. Eine autonome Spontandemo wird unmöglich gemacht. Lediglich fünf Personen schaffen es, den Treffpunkt zu erreichen.
Auch im Viertel wohnende Personen erhalten Platzverweise für das Ostertor-/Steintorviertel. Auf Nachfragen, wie sie die Platzverweise erfüllen könnten, kommt die lapidare Antwort: Dann dürft ihr eben nicht das Haus verlassen. Juristisch kommentiert sich ein solcher Platzverweis von selbst.
In der Nacht vom 2.-3.8.96 werden dort gegen 2.00 Uhr eine größere Zahl von Personen zunächst eingekesselt, dann in Polizeihaft, sprich in Gewahrsam genommen und zur Gefangenensammelstelle in die von der Bundeswehr geräumte Kaserne Vahr gebracht. Dort soll das neue Polizeipräsidium für Bremen nach entsprechender Umbauphase eingerichtet werden. Zur Zeit stehen die Gebäude leer, so auch die LKW-Garagen, die am Rand des Geländes, Richtung McDonald liegen.
In den 4 Garagen, zum Teil in Polizeiwachen und vermutlich auch in der JVA Oslebshausen werden im Laufe des 3.8.96 nach Polizeiangaben 315 Personen, davon 116 unter 18-jährige, eingesperrt. Die Haftbedingungen sind bekannt. Die Garagen hatten keinerlei Einrichtung, aus Sicherheitsgründen versteht sich. Die Betroffenen mußten auf nackten Beton ausharren. Zu Trinken gab es aus einer Wanne voll Wasser, zu der Pappbecher in die Gemeinschaftszellen gebracht wurden. Betroffene berichten, daß sie sich Magen-Darmgrippen durch das verschmutzte Wasser zugezogen hätten. Zu essen gab es für die bereits um 2.00 Festgenommen bis ca. 20.00 Uhr lediglich ein sog. Lunchpaket, allerdings nicht in ausreichender Zahl, es mußte geteilt werden. Allerdings ist ein Lunchpaket für diesen Zeitraum schon sparsam zu nennen. Man darf vermuten, daß die eingesetzten Polizeibeamten knackiger verpflegt wurden.

Kontaktaufnahme zu Anwälten wurde bis auf drei Ausnahmen nicht erlaubt. Die telefonisch geführten Gespräche wurden von der Polizei mitgehört und in einem Fall abgebrochen, als der Betroffene dem Anwalt, die Namen von weiteren Betroffenen, die anwaltliche Vertretung wünschten, mitteilen wollte. Das ist so offensichtlich rechtswidrig, daß jeder Kommentar entbehrlich ist.

Die Polizei streitet nunmehr ab, Kontaktaufnahme zwischen Anwalt und Mandant verhindert zu haben. Sie behauptet nunmehr, daß sie sogar für alle diejenigen Personen, die keinen Anwalt nennen konnten, die Nummer des Anwaltsnotdienstes in Bremen bereitgehalten habe, daß aber lediglich 5 Personen von dem Angebot, einen Anwalt zu verständigen Gebrauch gemacht hätten. Dies ist aus eigener Sicht der Dinge falsch und gelogen. Das wäre schon technisch nicht möglich gewesen, da die Gefangenensammelstelle lediglich über D2-Handy (0172-4204414) und Polizeifunk erreichbar war, diese Gerätschaften aber von der Leitung der Gefangenensamelstelle gebraucht wurden.

So ist die Telefonnummer des Anwaltsnotdienstes vom Verfasser des Artikels selbst der Leitung der Gefangenensammelstelle mitgeteilt worden; dabei mußte allerdings festgestellt werden, daß die Institution "Anwaltsnotdienst" gänzlich unbekannt war. Anrufe gingen bis auf die genannten Ausnahmen denn auch nicht ein.

Zudem wurde die Kontaktaufnahme auch insoweit verhindert, daß der Verbleib von festgenommenen Personen, nach deren Aufenthalt direkt unter Angabe der Namen gefragt wurde, geleugnet wurde. In einem Fall wurde die Ingewahrsamsnahme einer Person auf direkte Nachfragen bestritten; später gehörte die gleiche Person zu den beim Amtsgericht Vorgeführten. Diese Person saß also ca. 22 Std im polizeilichen Gewahrsam und die Polizei leugnete die Festnahme dieser Person !!! Laut Polizeiangaben wurden 315 Personen im Verlaufe der Chaostage festgenommen, davon 305 aufgrund polizeirechtlicher Gefahrenabwehr, sprich als Ingewahrsamsnahmen. Diese Zahl war selbst für die Gefangenensammelstelle zu groß, so daß versucht wird, Auswärtige zum Bahnhof zu verbringen und zurückzuschicken. Auswärtige werden zum Bahnhof gebracht und zurückgeschickt.

Von den 305 polizeirechlich Festgenommenen werden am 3.8.1996 ab 21.00 Uhr 10 richterlich angehört, davon 7 unmittelbar mittels richterlichen Beschlusses gegen die Interessen der Polizei auf freien Fuß gesetzt. Gegen 10 Personen wird strafrechtlich ermittelt, Vorwürfe u.a. Landfriedensbruch, Sachbeschädigung pp. Hervorzuheben ist, daß die Polizei einen "Uralt Szene VW-Bulli mit Hannoveraner Kennzeichen", der von als Punker verkleideten Polizeibeamten genutzt wurde, am Sielwalleck verloren hat. Das Polizeiprotokoll vermerkt: Sämtliche Scheiben eingeschlagen, Dellen in der Karossierie, Reifen zerstochen etc.

Man müßte dieses nicht erwähnen, hätte der Polizeipräsident nicht in der Beantwortung der Anfrage der Grünen (auch ?) in diesem Punkt gelogen. Der Polizeipräsident behauptet nämlich auf die Frage: "Wieviele als 'Punker' verkleidete Polizeibeamte sind in Bremen im Einsatz gewesen ?" Antwort: "Keine." Abgründe tun sich auf. Es kann spekuliert werden, wieviele SEK'ler als Punks beim Provozieren im Einsatz waren.

Juristische Kritik
Mit den rechtlichen Mitteln des Versammlungs-, Polizei- und Strafrechtes soll der Polizeieinsatz legitmiert werden. Nachdem alle Versammlungen vom 2.-4.8.1996 in Bremen verboten wurden und die strafrechtlichen Verfolgungen nach jetziger Kenntnis im Bereich des Normalen blieben, soll sich auf die polizeirechtlichen Ingewahrsamnahmen konzentriert werden.

Diese dürfen nach Bremischen Polizeirecht - gegenüber dem bayrischen Polizeirecht - gem. §§ 15, 16, 17, 2, 3 und 4 BremPolG nur bei Vorliegen konkreter Gefahr vorgenommen werden. Es hat hierzu in den 80ziger Jahren eine Debatte gegeben, nach der in der Bürgerschaft mit den Stimmen der SPD dieser Gefahrenbegriff zum Gesetz erhoben wurde. Alles Schnee von gestern, Herr Scherf ?

Der Gesetzestext heißt wörtlich: "Die Polizei darf eine Person in Gewahrsam nehmen, wenn dies unerläßlich ist, zur Verhinderung der unmittelbar bevorstehenden Begehung oder Fortsetzung einer Straftat oder Ordnungswidrigkeit von erheblicher Gefahr." Erhebliche Gefahr ist ebenfalls definiert: "eine Gefahr für ein bedeutsames Rechtsgut, wie Bestand des Staates, Leben, Gesundheit, Freiheit oder nicht unwesentliche Vermögenswerte".

Konkreter Gefahrenbegriff bedeutet weiter, daß individuelles Verhalten vorliegen muß. Auszusehen wie ein Punk, oder sich so verhalten, reicht eindeutig nicht aus; Festnahmen hiermit zu begründen ist und war rechtswidrig.
In der Antwort auf die Anfrage der Grünen teilt die Polizei lapidar mit: "... der Nachweis der individuellen Beteiligung im Rahmen dieses Szenarios war nicht zu führen ..." Dies korrespondiert mit den beim Amtsgericht eingereichten polizeilichen Mustertext, mit dem die richterliche Bestätigung der Ingewahrsamnahmen erreicht werden sollte, wo es heißt: "Grund der Ingewahrsamnahme des xyz war nicht, daß dieser selbst als Person eine Gefahr darstellt ..." Deutlicher konnte die Polizei das Bewußtsein der Rechtswidrigkeit des eigenen Handelns nicht belegen.

Fortsetzungsfeststellungsklagen, Schadensersatz- und Schmerzensgeldklagen sowie strafrechtliche Anzeigen wegen Freiheitsberaubung im Amt scheinen angezeigt und gut begründbar.

Martin Stucke/Rechtsanwalt


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kombo(p) - 07.02.1997