"Abgetaucht"

Briefe von Matthes und Jutta
(Auszug aus dem "kassiber" Nummer 28 vom Februar 1996)

Die beiden Briefe aus dem Dezember 1995 stammen von zwei BremerInnen: Von Matthes, einem der Gesuchten im Zusammenhang mit dem radikal- und AIZ-Verfahren, sowie von Jutta, einer der Gesuchten im Zusammenhang mit dem radikal-Verfahren. Der Brief von Matthes bezieht sich auf die Demonstration "links-radikal ins nächste Jahrtausend" am 16.Dezember in Hamburg:


Brief von Matthes

Hallo Leute,

als ich von dieser Demo gehört habe, habe ich mich entschlossen, dafür einen Redebeitrag zu machen! Einen schönen Gruss aus dem Exil! Hoffentlich seid Ihr viele und die Bullen sind nicht so heftig drauf!

Vorweg will ich schnell einen Gruss loswerden, an alle BremerInnen, die sich zur Demo aufgerafft haben! Also viel Power und ich vermisse Euch, mit Euren Schwächen und Stärken! Dann will ich Werner, Ente, Cräcker und Rainer grüüssen, die vielleicht auch da sind!

Aber nun zum Redebeitrag:

Nun bin ich seit sechs Monaten nicht mehr zu Hause gewesen. In diesen sechs Monaten ist viel passiert. Es haben sich einige Solidaritäts-Komitees gebildet. Diskussionen finden statt und vieles mehr. - Von all dem will ich Teil sein, bin aber doch oft weit, weit weg.

Für Abgetauchte ist es schwer, öffentlich wahrnehmbar zu sein. Das hat verschiedene Gründe. Einer sagte mal: "Es ist schlimmer als tot zu sein, denn über Tote kann man wenigstens reden." Damit hat er recht, weil niemand offen darüber sprechen kann. Somit ist es auch schwierig zu vermitteln, wie es mir gerade geht, was mich beschäftigt usw. Ich bin einfach von der Bildfläche verschwunden, nicht mehr wahrnehmbar. Dennoch ist es möglich, Kontakt zu Abgetauchten zu halten: Sie lesen nämlich Zeitungen und Bücher, hören Radio und gucken Fernsehen. Wenn alle ein wenig nachdenken, dann können sie dafür sorgen, dass die Abgetauchten weiterhin Teil des Widerstands sind!

Aber zurück zu mir - Von Anfang an hatte ich die Hoffnung wiederzukommen, und zwar so schnell es geht. Das hat sich aber im Laufe der Zeit als unmöglich herausgestellt, ausser ich liefere mich selber der Knastmaschine aus. Da ich das nicht wollte und will, habe ich beschlossen, wegzubleiben, entweder, bis sie mich packen oder es einen Sinn macht, wieder aufzutauchen.

Zuerst war dieses Abgetauchtsein ein ungewöhnlicher Zustand. Mittlerweile kann ich sagen, dass ich mich eingelebt habe. Wo ich nun lebe, haben sich spontan Leute gefunden, die mir Wohnraum zur Verfügung stellten und auch einiges mehr. Durch die Hilfe vor Ort konnte ich eine neue Perspektive entwickeln - neue Freunde und Freundinnen kennenlernen. Eine fette Umarmung und auch an einige Küsse, die mich bisher menschlich, finanziell und politisch unterstützten!!!

Trotzdem vermisse ich eine selbstgewählte Umgebung, und vor allem vermisse ich meine alten Freunde und Freundinnen. Oft hänge ich der Vergangenheit hinterher und versuche, mich zu erinnern, wie es vor dem 13.6. war. Für viele von Euch hat sich nicht soviel verändert; für mich und auch einige andere aber alles. Diese Veränderung haben die Bullen am 13.6.95 inszeniert. Ihnen hat wohl was nicht gepasst. Sie sagen, es geht um die radikal, die AIZ und das K.O.M.I.T.E.E. und zum guten Schluss auch um die RAF. Eine feine Aufzählung! Ich werde gesucht, weil ich angeblich die radikal gemacht haben soll und weil ich in Verbindung gebracht werde mit einem Anschlag auf das FDP-Büro in Bremen. Das ehrt mich natürlich, nun bin ich nach ihrer Definition ein richtiger Terrorist! Ich schreibe böse Texte und lege dann entsprechend Bomben. Alles in einer Person vertreten. Zum Glück haben sie in Bremen und anderswo noch ein paar mehr gefunden, die genauso sein sollen, wie ich. Sonst würde ich mir auch ganz verloren vorkommen!

Diese ganze Lügerei der Schweine, alles in einen Topf geschmissen und dann umgerührt, ist in der Öffentlichkeit gut angekommen. Die Bürgerlichen von taz bis FAZ berichten erstmal nicht mehr darüber; nicht verwunderlich in Grossdeutschland, andere Themen sind angesagt. Der Konsens der Demokraten hat sich durchgesetzt.

Schon der alte Bundeskanzler Schmidt, er ist hier in Hamburg zu Hause und für die sogenannten Selbstmorde in Stammheim mitverantwortlich, sagte in seiner Regierungserklärung am 20.April 1977: "Mit Gesetzgebung allein schaffen wir den Terrorismus nicht aus der Welt. Wir müssen ihm jeden geistigen Nährboden entziehen. (...) Wo nach ruhigem Abwägen durch Politiker, durch Juristen und Fachleute der inneren Sicherheit die Instrumente nicht wirksam genug erscheinen, dort sollen sie verbessert und ergänzt werden. (...) Wir haben die Aufgabe, den Terrorismus ohne Wenn und Aber und ohne sentimentale Verklärung der Tätermotive zu verfolgen, bis er aufgehört haben wird, ein Problem zu sein."

Das sagt also der olle Helmut zum Problem Terrorismus. Obwohl er es hätte besser wissen müssen. Menschen greifen auf Gewalt als letztes Mittel zurück. Sie wollen auf Verhältnisse und Umstände aufmerksam machen, wo die herrschende Macht sich über die Interessen von Menschen hinwegsetzt. Denn wo Macht ist, ist auch Widerstand. Diese Tatsache hat bei law-and-order-Strategen nicht zum Umdenken geführt. Diese Schweine haben gezeigt, dass sie Hochsicherheitstrakte bauen können, die heute unter anderem mit Drogis gefüllt werden; dass sie einen Bullenapparat aufgebaut haben, der den gläsernen Menschen entstehen liess; dass sie eine Paragraphenvielfalt gegen die Linke entwickelt haben, von der Verschärfung des Demonstrationsrechts über die Ausweitung des Paragraphen 129 bis zur Einführung des Lauschangriffs und der Aushöhlung des Presserechts; und dass eine liberale Öffentlichkeit nahezu verschwunden ist.

Dennoch sind einige Menschen übrig geblieben, die sich nicht haben einlullen lassen von der Gefährlichkeit von sogenannten Terroristen, sondern die Gefährlichkeit von Rassismus, Patriarchat, Faschismus und Imperialismus erkannt haben. Die sich gegen Unterdrückungsdynamiken zur Wehr setzen und nicht nur die scheinheiligen Worte der ach so ehrenwerten Politiker glauben.

Sind Terroristen diejenigen, die Abschiebeknäste in die Luft sprengen (oder es zumindest versuchen)? Terroristen sind die, die Abschiebeknäste bauen und verwalten.

Und zum Schluss will ich die ganzen Abgetauchten grüssen, die sich aus der BRD verpisst haben oder versteckt leben müssen. Und einige besonders: Cengiz, der wegen der Kaindl-Sache gesucht wird und sich in den Bergen Kurdistans dem Guerillakampf angeschlossen hat. Natürlich auch Jutta, Frank und Uli und auch Andrea aus Frankfurt.

Ach ja, eins hätte ich bald vergessen, denn auch im Exil habe ich davon gehört: Die neue radi ist draussen! Haben die 'radikal'en es wieder geschafft, obwohl der Wasserschlag doch so niederschmetternd sein sollte. Einen schönen fetten Gruss von mir, und ich drücke Euch die Daumen, dass es weitergeht!

So, das war's, macht's gut und noch 'ne muntere Demo!
Tschau, Matthes


Brief von Jutta

heute ist nicht alle tage - ich komm wieder, keine frage!!

da ich nie so sang- und klanglos verschwinden wollte, möchte ich hiermit - zumindest was meine persönliche situation betrifft - ein wenig licht in das dunkel meines verschwindens bringen.

es war ein zufall, dass sie mich damals nicht auch geschnappt haben, wie jene vier, die seitdem im knast sitzen.

hallo ralf, werner, rainer und andreas, ich grüsse euch ganz herzlich, schicke euch viel power und solidarität!!! nun, wie gesagt, ein grosser zufall, der mich in eine ganz andere welt katapultiert hat. erst mal war ich natürlich völlig durcheinander und hatte genug damit zu tun, mich einigermassen zurechtzufinden. vor allem die plötzliche und vollständige trennung von den frauen (und einigen wenigen mään-nern), die ich am meisten liebe, hat mir am heftigsten zu schaffen gemacht und macht es immer noch. trotzdem war ich von anfang an glücklich darüber, ihnen entwischt zu sein. ich konnte also, so mehr oder weniger, in ruhe erst mal herausfinden, was eigentlich los ist und überlegen, was ich für das richtige halte zu tun. und ich halte es immer noch für das richtige, mich weiterhin der festnahme zu entziehen und abzuwarten, was aus der ganzen sache wird. es hat schon eine ganze weile gedauert, bis ich einigermassen realisiert hatte, was das alles eigentlich bedeutet, z.b. dass ich keine mal so eben anrufen kann, geschweige denn besuchen usw.

am meisten beeindruckt hat mich die selbstverständliche und solidarische hilfe von einer ganzen menge von menschen, die mir dabei geholfen haben, dass ich einigermassen schnell wieder das gefühl hatte, boden unter den füüssen zu haben. eine unschätzbare hilfe, die mir ermöglicht hat, bei dieser entscheidung zu bleiben und darin eine vorläufige perspektive zu sehen.

in dieser situation hatte ich zeit in rauhen mengen, mich mit meinen ängsten, wünschen, sehnsüchten und meiner wut auseinanderzusetzen. ich habe von anfang an versucht, möglichst eine struktur für den tag aufzustellen, woran ich mich tatsächlich weitgehend gehalten habe, um nicht in ein tiefes loch zu fallen, und auch das hat ganz gut geklappt. ganz wichtig dafür war bewegung und lesen. ich habe sehr gute bücher gelesen, die mir einen teil von auseinandersetzung, von der ich ja weitgehend abgeschnitten war, wiedergegeben haben. es ist schon eine seltsame situation, so völlig abgeschnitten zu sein von dem, was mein normales leben ausgemacht hat. seien es die verschiedenen gruppen, wie schon gesagt vor allem meine freundinnen und viele kleinigkeiten, an die ich mich einfach gewöhnt hatte. aber ich habe auch eine menge kraft daraus geschöpft, selber ganz gut mit der situation fertig zu werden, aus der solidarität die ich erfahren habe, und aus dem wissen, dass meine freundinnen an mich denken.

ich schicke euch eine ganze menge power für die nächste zeit, von da, wo auch die nacht auf den tag folgt und der tag auf die nacht.

never give up!!!

jutta


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Last Updated: Monday, 25. November 1996