9. Grenzen auf für alle - und dann?

Die Szenarien vom vollen Boot, Überflutungen, etc. will ich hier gar nicht wiederholen. Mit der Parole " Grenzen auf für alle" haben sie jedoch eine Gemeinsamkeit. Sie stellen Einheiten, bzw. gegebene Größen vor: fordere ich Grenzöffnung für alle, so bleiben aber dennoch die Grenzen und somit auch ein eingegrenztes Gebiet bestehen. Bei der Parole ist der Inhalt der Einheit nicht festgelegt (alle dürfen rein und raus), während das Boot in den Überflutungsszenarien eine Stammannschaft hat und nur eine begrenzte Zahl von Gästen aufnehmen kann. Birgt das Eingrenzen von Gebieten das Übel in sich?
Heißt die Anti-Überflutungsparole also "Weg mit Grenzen!"? Was ist überhaupt eine Grenze? Eine Linie? Ein Schnitt? Wie erlangt sie Beachtung? Ich nehme als Ausgangspunkt meiner Überlegungen Staatsgrenzen oder Grenzen zwischen Nationen. Diese Grenzen sind gesetzt: Nationalstaaten bedürfen eines "Diskurs[es], der eine Gemeinschaft als große Familie über Repräsentationen, über Geschichte und Geschichten organisiert, ein System von Vorstellungen, Wertungen und Normen, ein Welt- und Gesellschaftsbild. [...] Nationale Identität wird mit einer kollektiven Vergangenheit verbunden, die hergestellt werden muß. Da Nationen historisch etwas sehr Junges und ganz und gar nicht große, alte, traditionsreiche Gemeinschaften sind, wie es Nationalisten und nationalistische Repräsentationen gerne nahelegen, ist der Konstruktionsaufwand groß: denn es muß eine identifikationsmächtige Vergangenheit re- und konstituiert werden, die gleichzeitig auf massivem Vergessen basiert. Nicht nur in dem, was die Dauer von Nationen, sondern vor allem auch darin, was den gewaltsamen Akt der Entstehung von Nationen betrifft, zeichnet sich das nationale Bewußtsein mehr durch Vergessen als durch Erinnern aus. Nationale Grenzziehungen sind Spuren von Autoritätsakten, sind Spuren der Gewalt."1
Der Begriff der Spur führt mich in meinen Überlegungen weiter: Ich denke an Abdrücke, an Negative von Füßen oder auch Militärstiefeln; Grenzen sind festgelegte Frontlinien, sie sind das, was Nationen trennt, was Staaten als Einheit markiert, ohne eigentlich eine eigene Existenz zu haben: sie sind Nicht-Land, Nicht-Staat, sie sind "weder noch". So konstruiert Nationen sind, bedarf es ihrer Absicherung. Ich will der Aufzählung von der Herstellung einer gemeinsamen Geschichte, gemeinsamer Werte und Normen die Staatsgrenzen hinzu fügen: an ihnen bleibt die Gewalt sichtbar. Die Grenze selbst wird mit Zäunen, Draht, Wachttürmen, Schranken, Grenzpfählen, Kontrollhäuschen, sicht und spürbar gemacht. Letztlich läßt sich aber an der Kontrolle eines Papiers (Personalausweis, Reisepaß, Visum) die Grenze als Einrichtung erkennen. Der Besitz eines bestimmten Passes verschafft Benachteiligungen oder auch Privilegien. Nationen oder auch Staaten verschaffen sich damit (wie auch durch Flagge, Sprache, etc.) ein Zeichensystem, das heute verbindlich anerkannt wird. Diese Anerkennung begründet sich verschiedentlich; sicherlich auf der Zustimmung des Individuums zum Projekt Nation oder Staat, als aber auch auf Gewalt. Zeichensysteme verlangen nach einer konventionalisierten Vorstellung dessen, was ein Zeichen bezeichnet. Ein Zeichen abstrahiert Vorstellungen, die ich dann mittels Zeichen wieder abrufen kann. Ich spreche von Vorstellungen, weil ich über ein ‚An Sich' der Gegenstände , über eine objektive Wesenheit von Welt nichts zu sagen weiß, wohl aber über Wahrnehmungen und Vorstellungen von Welt. Diese Vorstellungen werden durch die Zeichen scheinbar neutral transportiert. Das Verhältnis von Zeichen und Vorstellung erfährt jedoch Veränderungen mit sozialem Handeln und Sprechen. In einer gegenwärtigen Situation wird dieses Verhältnis als eindeutiges angenommen, selbst dort, wo es sich als offensichtlich schwierig erweist: Eine einheitliche Definition von "Nation" ist nicht zu finden.
Dieses Zeichen ist mit verschiedensten Assoziation verbunden. Dennoch braucht es eine Einheit, die sich vorgestellt werden kann, wenn ich an der Grenze meinen Paß mit einer eingetragenen Nationalität vorzeige. Zeichen entstehen durch Ausschluß anderer Zeichen, es erhält Bedeutung durch Ausschluß anderer Bedeutungen. Ein Zeichen repräsentiert eine Vorstellung. Zur Repräsentation ist eben die Eindeutigkeit im Verhältnis von Zeichen und Vorstellung notwendig. Der Gedanke der Repräsentation durchzieht unsere Gesellschaft in ihrer Philosophie, ihrer Politik, ihres Weltentwurfs: es gibt dort Gegenstände, Wahrnehmende und Erkennende, und es gibt Zeichen, die zu einem objektiven Festhalten von Wahrgenommenem und Erkanntem taugen. Repräsentation kann unter anderem deswegen funktionieren, weil das Denken und Handeln in Polaritäten von gut - böse, wahr - falsch, Kultur - Natur, Mann - Frau mit seinem "entweder-oder" die Forderung nach Einheiten erfüllt. Zugleich verbindet sich mit Repräsentation aber auch die Forderung nach Gleichheit, nach einer Einheit etablierenden Größe. In dieser Größe verschwinden Unterschiedlichkeiten.
So galt/gilt der Mann als Repräsentant von "Mensch" , oder umgekehrt: das Zeichen "Mensch" ist so konventionalisiert, daß sich zunächst einmal "Mann" vorgestellt wird. Im Wechselspiel von sozialem Handel, Forschen, und Machtstreben/-erhalt verknüpft sich mit Mann/ männlich die Vorstellung von Vernunft, Rationalität, Kultur, während das Weibliche sich in Begriffen wie Gefühl und Natur wiederfindet: das Männliche bezeichnet (aktiv), das Weibliche ist das zu Bezeichnende (passiv), das Männliche hat, das Weibliche ist. Die Entwürfe von Subjekt gehen von den als männlich, also menschlich gedachten Eigenschaften aus, von einem freien Willen, Autonomie und Kontinuität, sie sind geknüpft an Eindeutigkeit, an das Prinzip "entweder-oder". "Tatsächlich ist Repräsentation im Grunde ein System der Klassifikation und Denotation, der Verteilung von Kategorien und Namen. Neutralität ist durch die Logik des Systems ausgeschlossen, in dem jedes Objekt und jedes Wesen einen positiven oder negativen Wert haben und einen gegebenen Platz in einer klar abgestuften Hierarchie haben muß."2
Läßt sich diesem System ausweichen? Ich will trennen zwischen dem Bilden von Einheiten überhaupt; der Methode, dies in Gegensatzpaaren zu tun, und der Hierarchisierung dieser Einheiten. Letztere tritt in jedem Fall ein, da sich ein Gefälle zwischen benennender und benannter Position ergibt. Mein Denken selbst funktioniert in Einheit und Differenz; ich kann nur in Begriffen denken. Ein Begriff ist eine Einheit, die von anderen Begriffen different/verschieden ist. Mit diesem Denken aber ist es mir möglich, abgelagerte und mitschwingende Bedeutungen der als eindeutig angenommen Begriffe offen zu legen, vielleicht sogar der Vieldeutigkeit von Welt, der Vielzahl ihrer Vorstellungen Rechnung zu tragen und die scheinbare Eindeutigkeit und Einheit zu untergraben. Mit diesem Vorgehen durchfurche ich Begriffe und Vorstellungen mit neuen Grenzen, letztlich um den unter der Herrschaft der Einheit etablierenden Größe ins Abseits gedrängten Bedeutung Ausdruck und Anerkennung zu verschaffen. Bedeutungen zu etablieren, muß meines Erachtens nicht zwingend in Gegensätzen passieren. In den Zeichen selbst lagern alte Bedeutungen, die in den aktuellen mehr oder weniger enthalten sind. Bedeutungen verweben sich in Netzen von Assoziationen. Die zur Kommunikation angenommene Eindeutigkeit wird wiederum eine kommunizierbare und strategische: Es geht darum, Bedeutungen Anerkennung zu verschaffen, sie aus einer Allgemeinheit, einer Universalität herauszulösen, zu zeigen, daß bestimmte Bedeutungen nicht (mit)repräsentiert, sondern zu einer unsichtbaren Existenz verdammt werden. Da läßt sich nichts vormachen: auch diese strategische Einheit, die strategisch eindeutige Bedeutung wird sich an Dominanzen kristallisieren und gesetzt werden.
Im "System von Klassifikation und Denotation" spielt Herrschaft die bezeichnende Rolle. Für an den Rand gedrängte und unterdrückte Lebensformen heißen Grenzziehungen hier die Schaffung und Verteidigung ihrer Existenz, heißen "mit den Worten Pierre Bourdieus, "Kämpfe um die Macht, Prinzipien der sozialen Gliederung und mit ihnen eine bestimmte Vorstellung von der sozialen Welt durchzusetzen, die, wenn sie für eine ganze soziale Gruppe verbindlich werden, ihr einen Sinn und jenen Konsens über den Sinn und vor allem über die Identität und Einheit der Gruppe geben können, der die Realität dieser Gruppeneinheit und -identität ausmacht." Und das bedeutet auch, daß jeder kollektive Widerstand sich auf das Feld der Klassifizierungen [der Grenzziehungen, die Schreiberin] einlassen muß, auf ein Feld, in dem es um die Bildung und Auflösung sozialer Gruppen [Verhältnisse] und Bedeutungen, die Schreiberin] geht."3 Grenzen dienen zur Herrschaftssicherung und -stärkung, sie können aber auch Selbstverteidigung bedeuten. Ich glaube, dem "System von Klassifizierung und Denotation" ist so leicht nicht zu entkommen. Aber: In diesem zwang mal genau sein, skeptisch, rumrockern und widerständig um Bedeutung kämpfen!

WEG MIT HERRSCHAFTSICHERNDEN GRENZEN!! BILDET BANDEN!!