flugblatt zu sinn und unsinn der arbeit

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Hier der zentrale Artikel aus dem dritten Flugblatt (Maerz 2001).
Die zwei Flugblatt-Beitraege zur Arbeit in einer Bank (Inbound) und einem Terminvereinbarungsladen (Outbound) findet ihr unter
- nurfuersieda-bank-story
- sekretaerinnen-duel

Callgirls und Callboys: Was fuer ein Wahnsinn?!

Arbeit, Arbeit, Arbeit - Regierung, Unternehmer und Gewerkschaften sind sich einig, dass erst die Arbeit das Leben suess und sinnvoll macht. Selig ist der, der Arbeit hat. Aber wenn wir dann an der Werkbank Metallteile montieren, im Krankenhaus PatientInnen gesundspritzen oder unterm Headset schmorend Kunden abfertigen, hoert der Spass schnell wieder auf. Wir sind mit Widerspruechen konfrontiert, die die Chefs muehsam zu verstecken suchen.

In Call Centern
erzaehlen uns die Unternehmer immer, wie toll alles organisiert ist, und dass sie uns in Schulungen all das beibringen, was wir fuer den Job brauchen: wie wir reden sollen, wie der Computer funktioniert, usw. Zunaechst freuen wir uns, dass wir bei Kaffee und Keksen alles lernen duerfen. Spaeter unterm Headset merken wir jedoch, dass wir eigentlich nicht wirklich was gelernt haben: wir muessen immer wieder improvisieren, Informationen beschaffen, auf neue Situationen eingehen, usw., damit wir nicht als die letzten Deppen dastehen und die AnruferInnen kriegen, was sie wollen.

Staendig wird uns erzaehlt, dass wir eine verantwortungsvolle und abwechslungsreiche Taetigkeit machen, die unsere Kreativitaet erfordert. Aber im Arbeitsalltag stellt sich schnell raus, dass wir nur wenige Sachen selber bestimmen und die Arbeit monoton wird. Die Teamleiter sollen aufpassen, dass wir die staendig wieder kehrenden Arbeitschritte auch richtig ausfuehren.

Dabei machen die Unternehmer noch einen grossen Wirbel um Qualitaet. Der Kunde ist Koenig, unser Ziel ist der optimale Kundenservice, wir brauchen das totale Kundenerlebnis - taeglich hoeren wir sowas. Damit das auch klappt, schreiben sie uns die Arbeitsschritte genau vor, lassen Testanrufe machen und setzen ganze Trainerstaebe auf uns an. Alles um die "Qualitaet" zu steigern. Im Arbeitsalltag passiert dann was anderes: weil nicht genug ArbeiterInnen eingestellt werden, muessen die AnruferInnen sich ewig das Warteschleifengedudel anhoeren. Kommen sie dann durch, werden sie in die naechste Schleife gestellt, weil wir Call Center-ArbeiterInnen nur bestimmte Sachen machen koennen oder duerfen, andere nicht. Wir sollen reinhauen, damit wir moeglichst viele Anrufe annehmen oder im Outbound machen. Dadurch sinkt aber die "Qualitaet", weil alles nur huschhusch geht.

Da diese Widersprueche offensichtlich und frustrierend sind, machen die Unternehmer ein Riesenspektakel, damit wir huebsch weiterarbeiten (und nicht "innerlich kuendigen"). Sie erzaehlen uns, wie toll ihre Firma ist, was fuer ein Glueck wir doch haben, dass wir in ihrem Team arbeiten duerfen, und was fuer wichtige Produkte da hergestellt werden (Bankkredite, Computerdrucker, Babywaesche). Dann kommen sie noch mit Zertifikaten, Praemien und T-Shirts - und eine darf "Agent des Monats" werden. Wir sind jetzt Teil der Familie, alle ziehen an einem Strang. Stellt sich nur die Frage, wer ihn um den Hals hat!?
Wenn wir mit den vielen Zertifikaten unser Klo tapeziert und die 3.50 DM Praemie guenstig angelegt haben, merken wir, dass hinter dem Spektakel die ganz normale Maloche weitergeht.
Wenn wir uns anschauen, welche Interessen hinter der Arbeit stehen, wird klar, warum diese Widersprueche und absurden Situationen entstehen.

Geldsuechtige Unternehmer...
Unternehmer gehen erstmal davon aus, dass sie aus ihrem Geld mehr Geld machen wollen. Um ihr Geld zu vermehren, muessen sie uns fuer sich arbeiten lassen. Sie investieren da, wo sie moeglichst viel rauskriegen, z.B. in Call Center. Klappt das nicht (richtig), wechseln sie das Metier und investieren woanders - vielleicht in Waffel- oder Waffenproduktion?
Obwohl die Unternehmer also kein besonderes Interesse an der Arbeit haben, sich Geld aber nicht von allein vermehrt, muessen sie sich wohl oder uebel auf den Arbeitsprozess einlassen. Dabei muessen sie zwei Sachen klarkriegen, die taeglich gegeneinanderstehen:
(1) Die Produktion muss "Profit" abwerfen: Moeglichst wenige und schlecht bezahlte ArbeiterInnen sollen nach kurzer Anlernzeit mit moeglichst billigen Maschinen und Material moeglichst viel produzieren. Die Investitionen sollen gering, die Arbeit intensiv und dadurch die Profite hoch sein. Im Call Center bedeutet das, dass wir ArbeiterInnen nur kurz geschult und auf Schichten verteilt werden, dass wir die Anrufe kurz halten, viel verkaufen und viele Anrufe pro Stunde machen sollen usw..
(2) Widersprueche entstehen, weil zugleich die "Qualitaet" stimmen soll: Die Unternehmer muessen dafuer sorgen, dass bei der Produktion was rauskommt, das sie verkaufen koennen, z.B. ein Auto, das auch wirklich faehrt, oder eine telefonisches Help Desk, bei dem die Anruferin auch gute Ratschlaege bekommt, mit denen sie was anfangen kann. Das Auto oder die telefonische Beratung muessen fuer die "KundInnen" einen Wert haben (funktionieren, gut aussehen, praktisch sein, weiterhelfen...). Die Unternehmer muessen also aufpassen, dass wir ArbeiterInnen nicht rumschlampen, usw..

...treffen auf lustlose ArbeiterInnen
Auch wenn die Unternehmer es gerne anders darstellen, haengt es von uns ArbeiterInnen ab, ob der Laden trotz dieses Widerspruchs laeuft: Wir sollen taeglich dafuer sorgen, dass die Arbeit schnell und profitabel gemacht wird - und gleichzeitig "Qualitaet" liefern. Aber auch wir ArbeiterInnen, von denen alles abhaengt, haben kein besonderes Interesse an der Arbeit. Jeder Job ist mehr oder weniger wie der andere. Ok, bei manchen gibt es mehr Geld oder die Bedingungen sind besser, es gibt richtige Scheissjobs und ertraegliche. Aber im Prinzip gehen wir nur arbeiten, weil wir das muessen, weil wir den Lohn zum Leben brauchen. Wir haben kein Interesse an der Sache an sich. Stundenlang im Call Center am Telefon haengen, sehnsuchtsvoll auf die naechste Pause warten, bloede Fragen beantworten, nix wissen, aber die Leute beraten sollen, mit den Aufpassern rumschlagen... wer kann sich da nichts Besseres vorstellen?! Wir muessen damit klarkommen, dass wir einen Grossteil unserer Zeit malochen, und wollen darin einen Sinn erkennen. Wir versuchen, die Arbeit irgendwie richtig zu machen, weil es sonst noch stressiger ist, z.B. die Leute am Telefon noch genervter werden. All das stoesst aber immer wieder an Grenzen.

Welche QUALitaet?
Die Unternehmer versuchen alles, um uns den Stress aufzuladen, der mit der Arbeit unter diesen widerspruechlichen Bedingungen verbunden ist. Wir sollen trotz billiger Schulungen, fehlender Infos, schlechter Produkte usw. moeglichst viele AnruferInnen pro Stunde befriedigen. Dabei setzen sie uns - scheinheilig - vor allem mit der "Qualitaet" unter Druck.
- Wenn sie offen sagen wuerden, dass es ihnen nur um die Kohle geht, dann wuerden wir nicht halb so gut arbeiten. Also koedern sie uns mit der "Qualitaet" des Produkts oder der tollen Firma, fuer die es sich zu arbeiten lohne.
- Wenn sie offen sagen wuerden, dass sie uns kontrollieren wollen, damit wir schneller arbeiten, dann wuerden wir uns schneller wehren. Also begruenden sie die Kontrolle mit der heiligen "Qualitaet".
- Wenn sie offen sagen wuerden, dass sie eigentlich keine Ahnung von der Arbeit und ihrer Organisation haben, dann wuerde die Frage aufkommen, wozu die Unternehmer eigentlich gebraucht werden. Also verstecken sie sich hinter fetten Qualitaetsmanagement-Programmen und fordern uns zu "Verbesserungsvorschlaegen" auf, um so von uns zu lernen. Ihr gewonnenes Wissen setzen sie aber weniger dazu ein, um die "Qualitaet" zu verbessern, sondern um uns mehr Arbeit aufzuhalsen und die Produktion zu "rationalisieren".

Sinn interessiert kein Schwein
Der Widerspruch zwischen Profitinteresse auf der einen und der Produktion von nutzbaren Guetern auf der anderen Seite fuehrt auf der Ebene des Betriebs zu all den taeglichen Absurditaeten. Er bestimmt auch die ganze Gesellschaft:
- Wir haben zwar Wissen und Reichtuemer angehaeuft, aber beides wird nicht fuer die Beduerfnisse aller genutzt: die meisten Menschen der Erde leben weiter in Armut - als ArbeiterInnen oder als "Arbeitslose", deren Arbeitskraft gerade nicht zur Geldvermehrung genutzt werden kann.
- Wenn mit Hilfe von Maschinen die Produktivitaet immer weiter gesteigert, also das gleiche in kuerzerer Arbeitszeit hergestellt wird, arbeiten wir trotzdem nicht weniger. Der Einsatz von Maschinen soll die Profite steigern, nicht die Arbeitszeit fuer alle verkuerzen: wo "rationalisiert" wird und Leute rausfliegen, muessen die bleibenden ArbeiterInnen intensiver arbeiten und Ueberstunden schieben, die entlassenen sich einen anderen Job suchen.
Hinter all dem steht der Widerspruch, dass wir ArbeiterInnen zwar die Reichtuemer produzieren, aber nicht bestimmen, wie gearbeitet wird und was mit den Reichtuemern passiert. Bei "Arbeitsplaetzen" interessiert kein Schwein, ob die Arbeit sinnvoll ist, ob wir ein Produkt oder eine Dienstleistung wirklich brauchen. Entscheidend ist immer, ob durch die Arbeit Reichtum in Form von Geld vermehrt werden kann. Das gilt auch fuer Call Center. Wir ArbeiterInnen haben nicht entschieden, dass allein in Europa einige Millionen Leute in Call Centern arbeiten sollen.
Dafuer machen wir dann richtig Sinnvolles: Wir sorgen dafuer, dass Sachen, die von ArbeiterInnen produziert wurden, an andere ArbeiterInnen verkauft werden, so dass das Geld in den Haenden der Unternehmer bleibt. Oder wir sagen Tausenden von ArbeiterInnen am Telefon den Schuldenstand auf ihrem Konto durch, damit die wissen, dass sie fuer ihren Kredit arbeiten gehen. Oder wir sitzen nachts im Bestellservice, weil irgendwelche Leute anrufen, die es tagsueber nicht in die Laeden schaffen, weil sie da arbeiten muessen...

Keiner hilft!
Wenn uns das alles stinkt, wir die absurden Situationen nicht hinnehmen wollen, die tolle Firma und den coolen Chef, Kundenverarsche und Qualitaetstests, die Ueberstunden und den ganz alltaeglichen Wahnsinn auf Arbeit, was machen wir dann? Wir werden dies nicht loesen, wenn wir versuchen, die Arbeit zu "humanisieren". Unternehmer wollen - mit Unterstuetzung der Gewerkschaften - ueber Gruppenarbeit, bunte Schraubenzieher und Flachbildschirme die Arbeit als sinnvoll und ertraeglich verkaufen. Alle diese Versuche zielen letztendlich darauf ab, dass wir uns kreativ und produktiv fuer die Arbeit verausgaben. Sie aendern nichts daran, dass Unternehmer und Gewinnbilanzen bestimmen, wo investiert und was produziert wird. Solange es aber darum geht, aus Geld mehr Geld zu machen, werden wir die Widersprueche zwischen Arbeitsstress, "Qualitaet", Sinnlosigkeit, usw. nur immer wieder neu schaffen.
Es gibt keine Gewerkschaft, keine Partei oder andere Organisation, die fuer uns die Widersprueche abschafft. Es gibt auch keinen fertigen Plan fuer eine "andere" Gesellschaft - aber tausend gute Gruende, die bestehenden produktiven Moeglichkeiten fuer (und nicht gegen) uns einzusetzen.
Wenn wir ein Leben wollen, bei dem wir nach unseren Beduerfnissen produzieren, ohne Ausbeutung, ohne Arbeitsstress und Aufpasser, muessen wir das selber in die Hand nehmen.
Der erste Schritt - ein "Hauch des Neuen" - kann in Situationen entstehen, in denen wir die alltaegliche Muehle zusammen in Frage stellen. Wenn wir, anstatt kreativ dafuer zu sorgen, dass der Laden trotz chaotischer Organisation nicht abschifft, diese Kreativitaet in Aktionen gegen den Arbeitsstress ausdruecken. Wenn wir, anstatt nur zufaellig zusammen zu malochen, die Zusammenarbeit als unsere Macht gegenueber den Antreibern nutzen. Nur so ueberwinden wir die Mobbing- und Tratsch-Kacke untereinander. Nur so entstehen neue Beziehungen und Selbstbewusstsein, das wir fuer die kommenden Auseinandersetzungen mit den Unternehmern brauchen.

Zu Risiken und Nebenwirkungen probiert's aus, schickt uns Ideen - oder wartet auf die naechste hotlines!

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Wir arbeiten in Call Centern und anderswo und machen eine Flugblattreihe. Damit wollen wir die Diskussion unter ArbeiterInnen unterstuetzen und voranbringen. Es geht darum, gemeinsam gegen Arbeitshetze und Arbeitszwang vorzugehen. Das koennen wir nur, wenn wir uns selber organisieren und mit anderen ArbeiterInnen Mittel und Wege finden, auf Massnahmen der Geschaeftsleitungen zu reagieren und eigene Interessen durchzusetzen. Unsere Staerke liegt darin, dass wir uns mit anderen ArbeiterInnen schnell und direkt absprechen koennen und z.B. Ueberstunden verweigern, Arbeitsanweisungen ignorieren oder den Anruf-Akkord runtersetzen. Ohne dass die Chefs darauf vorbereitet sind und ohne Vermittlung und Kontrolle durch Betriebsrat und Gewerkschaften. Wenn wir diese Staerke entwickeln und einsetzen, kann das ein Schritt sein, die Lohnsklaverei insgesamt zu ueberwinden.
Alle Flugblaetter werden auf dieser Website zusammen mit weiteren Infos und Beitraegen dokumentiert:
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