Die Republik muss auf die bedeutendste historische Frage mit Demokratie antworten

Dass die Existenz der Kurden mit keinem Wort erwähnt wird, ist der fragwürdigste Aspekt in der Anklage der Staatsanwaltschaft. Dies hat sich in der Geschichte der Republik als das größte Problem erwiesen. Alle führenden politischen und militärischen Kreise schätzen heute die Rolle der Kurden so ein, dass sie als eigentliches Gründungselement der Republik angesehen werden. Diese Leugnung entspringt einer äußerst rückständigen Haltung, der gefährliche Folgen innewohnen. Es ist von riesiger Bedeutung, Atatürk hier mit langen Zitaten zu erwähnen, und zwar, wie er bei der Gründung der Republik die Kurden betrachtet hat. Zumindest auf der Grundlage dieser Worte Atatürks einen Kompromiss zu schließen, wird allen Beteiligten eine akzeptable Chance für eine Lösung bieten. Dass die Kurden eine der Säulen jener Republik waren, die aus dem nationalen Befreiungskampf und dem Sieg entstand, wird in folgendem Zitat deutlich:

Anweisung von Mustafa Kemal Atatürk an den Kommandanten von El Cezire, Nihat Pasa, zur Kurden- und Kurdistanpolitik (Juni 1920):

1- Es ist für unsere Innenpolitik notwendig, Schritt für Schritt im ganzen Land lokale Verwaltungen aufzubauen, in denen die Massen vertreten sind und auf die sie Einfluss nehmen können. Aus der Sicht unserer Innen- und Außenpolitik halten wir es für erforderlich, in dem von Kurden bewohnten Gebiet eine regionale Verwaltung aufzubauen.
2- Das Selbstbestimmungsrecht der Völker ist ein weltweit anerkanntes Prinzip. Auch wir haben dieses Prinzip anerkannt. Man kann davon ausgehen, dass die Kurden sich auf die Schaffung von lokalen Verwaltungen vorbereitet haben. Wir haben ihre Führer und Prominenz für uns gewonnen; und wenn für sie die Zeit kommt, ihren Wunsch zu äußern, dann werden sie offen erklären, dass sie über ihr Schicksal selbst bestimmen können und dass sie wünschen, unter dem Willen des Türkischen Parlaments zu leben. Alle zum Zweck dieser Politik auszuführenden Tätigkeiten in Kurdistan liegen im Zuständigkeitsbereich der El Cezire-Front.
3- Folgende allgemeine Aspekte wurden anerkannt: Die Feindschaft zwischen Kurden und Franzosen, insbesondere zwischen Kurden und Engländern an der irakischen Grenze muss geschürt werden bis zu einem solchen Grad, wo auch ein bewaffneter Konflikt keine Lösung bringt; nämlich, indem wir die Gründe für den Aufbau einer lokalen Verwaltung überall im Land erklären und auf diese Weise sichern, dass wir sie auf unsere Seite ziehen, und die kurdischen Führer mit öffentlichen und militärischen Aufgaben betrauen.
In dieser Anweisung hat Mustafa Kemal Atatürk die Existenz der Kurden und auch Kurdistans anerkannt; er sagte, dass die Kurden innerhalb der TBMM ihr Selbstbestimmungsrecht ausüben sollten, da damals die Republik noch nicht gegründet war. Das ist genau die Art von lokaler Verwaltung, die immer noch gefordert wird. Es ist eine Art von demokratischer Autonomie.
Dass in der Anklageschrift die Existenz der Kurden nicht anerkannt wird, erschwert die Probleme. Die Lösung wird nur durch die Anerkennung möglich. Aber lasst uns die Haltung Atatürks nach der Gründung der Republik betrachten. Sie ähnelt sehr der ersten Position und ist sogar analytischer. Auf die Anfrage von Mehmet Emin Yalman auf der Pressekonferenz in Izmit gab Mustafa Kemal Atatürk folgende Antwort, die er auch in Eskisehir wiederholt hat:
Die kurdische Frage kann auch nicht Gegenstand der Interessen unserer hier ansässigen Türken sein. Sie wissen ja, dass die Kurden innerhalb unserer nationalen Grenzen auf eine Art und Weise siedeln, dass sie nur in einigen wenigen Gebieten die Bevölkerungsmehrheit bilden. Ansonsten leben sie unter der türkischen Bevölkerung verstreut. Das hat zu einer Entwicklung geführt, dass man die ganze Türkei zerstückeln müsste, wenn man eine Grenze zur Abtrennung der Kurden ziehen wollte. So müsste man zum Beispiel die Grenze bis nach Erzurum, Erzincan, Sivas und Harput ziehen. Ja, man dürfte sogar hierbei die kurdischen Stämme in der Wüste von Konya nicht außer Acht lassen. Statt sich eine separate kurdische Nation vorzustellen, ist es besser, entsprechend unserer Verfassung eine Art regionale Föderation zu bilden. Also wird jede Provinz, in welcher die Bevölkerung kurdisch ist, sich autonom verwalten. Darüber hinaus müssen die Türken, soweit sie dort betroffen sind, auch ihrer Existenz Ausdruck verleihen können. Falls sie sich nicht artikulieren dürfen, muss jederzeit damit gerechnet werden, dass sie ihrerseits Schwierigkeiten bereiten werden. Nun setzt sich die Große Türkische Nationalversammlung sowohl aus kurdischen als auch aus türkischen Vertretern zusammen. Diese beiden Gruppen haben ihr Schicksal und alle ihre Interessen vereinigt. Eine andere Grenze festzulegen, wäre nicht richtig.
Es ist möglich, weitere ähnliche Zitate zu finden. All dies ist nicht in Abrede zu stellen. Wegen der späteren Aufstände hat das Problem eine gefährliche Entwicklung angenommen, und man ist von dieser Haltung abgerückt. Was wir aber immer im Hinterkopf behalten müssen, ist die Lebens- und Schicksalsgemeinschaft von Kurden und Türken; und deshalb wird eine Grenzziehung zwischen ihnen eine Katastrophe heraufbeschwören. Aber eine Lösung wurde nicht entwickelt. Hier gab es zwar keine Verleugnung, doch die Komplexität des Problems, die internen Beziehungen zwischen Sultanat und Kalifat und die externen Beziehungen zu Großbritannien führten zu Verdächtigungen. So wurde die Chance für eine konstruktive Lösung des Problems vertan. Vor allem aus ideologischen Gründen und wegen ihrer Führer versäumten es die Kurden, die Einheit mit der Republik zu bilden. Und so wurde der Separatismus mit Repression beantwortet. Dadurch wurde der Geist der Einheit, der anfangs existierte, vernichtet. So entstand zwischen zwei Elementen, nämlich Kurden und Türken, die ohne einander nicht leben können, Entfremdung und Misstrauen. Die Gefahr, dass fremde Mächte das Problem für sich ausnutzten, machte das Problem noch unlösbarer. Auf diese Weise endete der Zeitabschnitt, aber das Problem hat sich immer weiter verschärft.
Es ist bekannt, dass die Kurden an der nationalen Befreiung der Türkei und der Gründung der Republik beteiligt waren; und wenn sie nicht mit den Türken vereint sind, wird es so sein, als habe die türkische Nation einen Fuß verloren und müsse fortan hinken. Dies hat sich bei allen wichtigen Wendepunkten der türkischen Geschichte, wie bei den Schlachten von Malazgirt und Caldiran, immer wieder als richtig erwiesen. Die Schicksalsgemeinschaft und die Völkergemeinschaft sind das Resultat der Geschichte. Auch die Geschichte der Aufstände darf diesen Zusammenhang nicht in Vergessenheit geraten lassen. Zudem handelt es sich bei den Aufständen eher um einen Autoritätskampf zwischen der Zentralmacht und dem kurdischen Feudalismus. Es ist weithin bekannt, dass die kurdischen Feudalen bei ihren Handlungen nicht primär um ihre nationalen Interessen besorgt waren; sie verfolgten vielmehr die Interessen ihres Stammes, ihrer regionalen Autorität und ihrer Macht. Dass sie jedem gefolgt sind, der diese Interessen unterstützt hat, ist eine historische Tatsache. Das kurdische Problem jener Zeit wird hauptsächlich als ein tribales, als ein von Stammesverhältnissen geprägtes angesehen; d.h. als ein Problem, das aus kultureller und sozioökonomischer Rückständigkeit entstand.
Beide Seiten haben, was die Geschichte der Republik angeht, eine Haltung eingenommen, die von nationalistischer Engstirnigkeit und separatistischer Unwissenschaftlichkeit geprägt war, was das Problem auf ein gefährliches Niveau anhob und die Lösung erschwerte.
Eigentlich gab es in den Jahren der nationalen Befreiung und der Gründung der Republik eine Annäherung an die Lösung des Problems. Dies belegt die damalige Haltung Atatürks, wie sie in den oben aufgeführten Zitaten dargestellt wird; und dies belegt auch der gemeinsame Kampf, die gemeinsame Heimat, die Rettung sowie die Gründung der Republik, das Auftreten von Kurden in ihrer nationalen Tracht und der Gebrauch ihrer Muttersprache innerhalb der TBMM. Selbst der Aufstand von Kocgiri ist in dieser Phase mit einer Amnestie und einer Übereinkunft ausgegangen. Ein hartes Vorgehen fand damals innerhalb der TBMM keine Zustimmung. Im Falle von Nurettin Pasa ist dies ganz eindeutig zu erkennen. Wäre diese Haltung weiter aufrechterhalten worden, so hätte sich das Problem nicht vertieft und die Republik hätte nicht so viel Blut und einen solch hohen Preis gekostet.
Das Hauptproblem bestand damals darin, dass Beziehungen mit Sultanat und Kalifat hergestellt wurden und vom Erhalt der lokalen Autorität nicht abgesehen wurde, noch bevor sich die Republik wirklich gen Osten, bis zu den Kurden und sogar in die gesamte Türkei hinein ausgeweitet hatte. Dies führte zu den Aufständen dieser Jahre, welche wiederum in heftige Kämpfe mündeten und mit Zerschlagung endeten.
Die Schlussfolgerung ist, dass vorhandene Fragen nicht verleugnet werden dürfen, sondern dass man einen konstruktiven Lösungsweg finden muss.
Auch wenn dies zwischen den beiden Weltkriegen nicht erkannt wurde, besteht die Lösung in der Demokratisierung, die nach dem Zweiten Weltkrieg einen großen Schritt nach vorn getan hat. In diesem Sinne besteht das größte Problem der Türkei darin, dass sie unfähig ist, einen erfolgreichen Kampf für die Demokratie zu führen und demokratische Maßstäbe zu entwickeln. Der Grund, warum autoritäre kapitalistische und sozialistische Regime - trotz mancher Entwicklungen - zusammenbrachen, liegt eben darin, dass sie im Gegensatz zu dieser demokratischen Entwicklung standen. Alle rigiden Systeme unserer Zeit erleiden größere Zusammenbrüche und Umwandlungen in ihrem Überbau und entwickeln sich in Richtung einer demokratischen Evolution. Alle nationalen, kulturellen, ethnischen, religiösen, sprachlichen und sogar regionalen Probleme können gelöst werden durch die Garantie und Anwendung breitester demokratischer Maßstäbe. Täglich sehen wir überall in der Welt Beispiele dafür. Von Indonesien bis zum Mittleren Osten, dem Kaukasus, dem Balkan, Afrika bis Lateinamerika - überall wird die demokratische Methode als Lösung für soziale Probleme unterschiedlichster Charakteristika betrachtet.
Es ist nützlich, einige Punkte gründlicher zu erörtern: Der erste ist das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Dieser Grundsatz wurde insbesondere im größten Teil des 19. und 20. Jahrhunderts angewandt. Sein Ziel war, einen nationalen Staat zu gründen, dessen Ideologie durch Nationalismus geprägt war. Im Allgemeinen war seine Methode der bewaffnete Kampf und der nationale Befreiungskrieg. Es stellte sich heraus, dass seine Anwendung begrenzt, aber mit viel Blutvergießen verbunden war, und durch seinen extremen Nationalismus entstanden langwierige Feindschaften. Dieser Kurs, der die Welt angespannt in Atem hielt, hat heute noch Einfluss, und seine schädlichen Folgen treten auch heute noch zu Tage. Der gegenwärtige Balkankrieg zeigt, wie verheerend diese Methode ist. Die Gründe dafür sind die Unfähigkeit, die gesellschaftliche Realität zu verstehen, die enge nationalistische Haltung und die darauf beruhenden Versuche, eine Lösung dadurch zu finden, dass Zwang ausgeübt wird auf eine Gesellschaft und ein Land, in dem verschiedene Völker miteinander vermischt leben. Die Folge ist Barbarei. Auch dafür gibt es viele Beispiele in der Geschichte.
Manche Gruppe oder Nation, die diesem Weg folgte, konnte ihre Rückständigkeit nicht überwinden und leidet heute noch unter dem belastenden Erbe, selbst wenn sie zur Nation geworden ist. Jeder Versuch, die nationale Frage zu lösen, rief neue, noch schwierigere Probleme hervor. Ein geschichtliches Beispiel dafür sind die Religions- und Ketzerkriege des Mittelalters, deren Spuren wir sporadisch begegnen. Auch wenn der nationalistische Weg beanspruchte, für die Probleme religiösen Ursprungs eine Lösung zu finden, so verfiel er dennoch in die gleichen Fehler und machte die Dinge noch komplizierter. Auch wenn es Unterschiede gibt zwischen den alten religiösen Ideologien und dem extremen Nationalismus und seinen zahlreichen rechten und linken Variationen, die später folgten, so sind sie in der Praxis doch Bewegungen, die sich ähneln und einander beeinflussen. Auch das 20. Jahrhundert hat mit seinen Kriegsbilanzen und der dabei zu Tage getretenen Barbarei dem Mittelalter in nichts nachgestanden. Die allgemeine demokratische Theorie und Praxis hat sich als äußerst erfolgreich bei der Lösung von Problemen erwiesen, die durch extreme religiöse und extreme nationalistische Methoden produziert wurden; Länder und Gesellschaften, die den demokratischen Weg praktizierten, triumphierten. Heute, am Ende des 20. Jahrhunderts, siegt im Allgemeinen die sich immer weiterentwickelnde Demokratie. In der Tat sind diejenigen Länder, die dieses System überzeugend und kontrollierbar anzuwenden wissen, die entwickeltsten Gesellschaften unserer Zeit. Ihre Staaten machen ihren Einfluss weltweit geltend. Das leuchtet ein, wenn man in Betracht zieht, wie die USA und England die Welt lenken und gestalten.
Die Kraft des demokratischen Systems beruht zweifelsohne vor allem auf seiner wissenschaftlichen Erkenntnis der sozialen Realität, auf seiner Fähigkeit, korrekte Definitionen der moralischen und philosophischen Ebenen und der Strukturen unterhalb dieser sowie der politischen und gesetzlichen Ebenen zu finden. Es kann eine Lösung anbieten, ohne Etiketten wie “progressiv” oder “reaktionär” zu benutzen, und antwortet auf diese Weise auf die Bedürfnisse der gesellschaftlichen Kräfte und ihre Forderungen nach Gleichheit und Freiheit.
Hier gibt es weder die Verleugnung noch den Versuch, eine Utopie mit Gewalt durchzusetzen. Weder Glaube, Ziele und Utopien des letzten Jahrhunderts noch des nächsten Jahrhunderts werden als Programm oder Grundsätze aufgezwungen. Da das demokratische System Lösungen vorstellt, die sowohl prinzipiell als auch praktikabel und für die Problemlösung geeignet sind, erweist sich die Demokratie als die Stufe der Gesellschaft, auf der Problemlösungen möglich sind. Indem es seinen Staat und seine moralischen Werte zur Demokratisierung zwingt, demonstriert es, dass ihm eine reiche Auswahl an Lösungsmöglichkeiten zur Verfügung steht. Das Wichtigste hierbei ist die Kraft, eine praktische Lösung für alle Probleme anbieten zu können. Noch wichtiger ist es, sich der Gewalt möglichst wenig zu bedienen und seine Kraft zu demonstrieren, selbst aus einer Phase der Gewalt heraus die friedliche Methode wieder in Gang zu setzen.
Natürlich gibt es hierfür historische Gründe. Allgemein gesagt, gab es in den Religionskriegen, den nationalen und sozialen Kriegen, in Revolutionen und Konterrevolutionen, sehr viel Blutvergießen. Heute sind keine so großen Probleme übriggeblieben, die durch Blutvergießen gelöst werden können; oder, wenn es sie gibt, so sind sie doch selten* . Wenn wir sagen, dass im Allgemeinen der Weg der Demokratie über Evolution und Frieden läuft, dann stützen wir uns auf diese historische Tatsache. Die Demokratie entwickelt sich auf der Grundlage des Erbes, welches das Leiden in der nahen und fernen Vergangenheit hinterlassen hat. Ihr Anspruch ist, dass es genug Revolutionen und Konterrevolutionen gegeben hat, dass sie an einer Methode interessiert ist, die mehr Lösungen und mehr Entwicklungen anbietet und die als zivilisiert bezeichnet werden kann, und dass sie an den damit verbundenen gesellschaftlichen und politisch-philosophischen Maßstäben interessiert ist. Das ist das Ziel der Demokratie und insbesondere der des ausgereiften 20. Jahrhunderts, und das ist auf jeden Fall bewiesen. Dass mit der wissenschaftlich-technischen Entwicklung die Probleme zahlreicher und schwieriger geworden sind, ist natürlich auch ein wichtiger Faktor. Wenn wir jedes Problem als eine Revolution oder als ein Beispiel von Gewalt betrachten, wenn wir im Gedächtnis behalten, dass die Technik in der Lage ist, die Menschheit auszulöschen, wenn wir insbesondere die Entwicklung der Nukleartechnik und all der anderen Waffen bedenken, dann können wir uns vorstellen, dass das Gewaltpotenzial der alten Konzepte von Revolution und Konterrevolution nicht nur das Ende der Menschheit, sondern auch des ganzen Planeten herbeiführen kann.
An der Entwicklung der Demokratie hat die wissenschaftlich-technische Entwicklung sicherlich einen großen Anteil, deren positive Seite ist um so entscheidender. Jede Ideologie oder jeder Glaube kann sich - wenn sie wahr sind - durchsetzen, indem sie sich der technischen Möglichkeiten, vor allem der Medien, bedienen, ohne Gewalt anzuwenden. In anderen Worten: Gewalt ist überflüssig geworden. Sie ist eine Methode, auf die das Sprichwort zutrifft: “Die Brühe kostet mehr als der Braten.” Die reiche Vielfalt der Institutionen und Erfahrungen, die das demokratische System bietet, baut auf dieser sozialen und wissenschaftlich-technischen Entwicklung auf. Es bietet irgendeine Lösung an, welches Problem auch immer in Angriff genommen wird. Es ist selbst die Lösung. Um einige Beispiele zu nennen: Früher war der Säkularismus die Lösung für religiöse Kriege. Dessen Grundsatz und Anwendung beinhaltete, dass es jedem frei stand, religiös oder nicht religiös zu sein; die demokratischen Maßstäbe sind für alle maßgeblich. In der Demokratie gibt es eine absolute Glaubensfreiheit und sie ist das Gegengift für religiöse Kriege. Das Gleiche gilt für die Ebene der Überzeugung und der Ideologie. Es gibt die Freiheit der Gedanken und der Weltanschauungen. Man kann so arbeiten, wie man es wünscht und wie es dem eigenen Glauben entspricht, solange man die diesbezüglichen Rechte der anderen nicht berührt. Und das betrifft auch die politischen Ideen und ihren Ausdruck in politischen Parteien. Solange es dem demokratischen System und seiner staatlichen Struktur entspricht, kann jede Partei eine Lösung anbieten, ohne auf Gewalt zurückzugreifen. Dabei geht es weder darum, die Religion gewaltsam aufzuzwingen, noch die Staatsstrukturen zu zerstören oder in Unordnung zu bringen. Die Religion, die Meinung und die Parteien, die auf beidem beruhen, wissen, wie sie den Maßstäben des demokratischen Systems des Staates gerecht werden, weil sie auf ihnen beruhen. Wenn dies nicht der Fall ist, hat die Demokratie das Recht, sich zu verteidigen. Unabhängig von der sozialen Gruppe, der sie angehören - das kann eine Nation, eine ethnische oder religiöse Gruppe sein-, dürfen Glauben, Ideen und Parteien, durch die sie sich ausdrücken, nicht im Namen dieser Überzeugungen und Ideen Gewalt auf die Grenzen und Spielräume ausüben, auf denen der Staat beruht. Dafür besteht auch keine Notwendigkeit, weil dies das Problem, das sie zu lösen vorgeben, nur noch komplizierter macht. Also gibt es dafür keine Notwendigkeit, und in jedem Fall sind Lösungen innerhalb des Systems möglich. Dies sind die demokratischen Rechte jener Gruppen. Dies ist ihre Freiheit des Glaubens und der Gedanken. Dieses sind die Parteien und alle Arten von Koalitionen.
Im Bereich von Sprache und Kultur ist die demokratische Lösung noch überzeugender. Hier können die größten Erfolge erreicht werden. Die Vermischung von Sprachen und Kulturen stellt einen Wert dar, den viele nationale Gruppen in Jahrhunderten schufen, in denen sie sich gegenseitig beeinflusst haben. Diese Gruppen wollen nicht die Trennung, die sie schwach macht und eintönig, sondern sie wollen zusammenbleiben, um reicher zu werden und um Vielfalt, Stärke und Leben zu erlangen. Die Schule und das Versuchslabor für eine überzeugende Umsetzung ist die Demokratie. Die Demokratie ist geradezu ein Garten der Sprachen und Kulturen. Die fortschrittlichsten und wichtigsten Prinzipen unserer Zeit sind eindeutige Beispiele hierfür. Alle europäischen Länder und Nordamerika sind hierfür klare Beweise.
Alle wichtigen Kriege sind auf die Unterdrückung der Religionen, Sprachen, Meinungen und der neuen politischen Entwicklungen in den vergangenen Jahrhunderten zurückzuführen. Der Widerstand gegen die Unterdrückung führte zu den Kriegen, die wir als gerechte Kriege bezeichnen. Vor allem die Erfahrungen der europäischen Länder besagen, dass am Ende all dieser Kriege das demokratische System konsequent vorangeschritten ist, was eine Überlegenheit geschaffen hat. In diesem Sinne kann die westliche Zivilisation als demokratische Zivilisation bezeichnet werden. Ihre Stärke besteht darin, dass sie ein derartiges System in entwickelter Art zur Grundlage hat.
Ein demokratisches System ist mindestens ebenso wichtig wie eine wissenschaftlich-technische Überlegenheit. Ihre gegenseitige Beeinflussung führt zu einer Stärkung beider Faktoren und so hat ihre Vereinigung den Rang einer Weltzivilisation erlangt.
Viele andere Teile der Welt sind rückständig geblieben und ihre politischen Systeme sind dementsprechend weit entfernt von der Demokratie. Der Mittlere Osten ist eines der wichtigsten dieser Gebiete. Vom Beginn des Mittelalters bis in die Gegenwart erlitt er religiöse Kriege. Diese Erfahrung hat der Gesellschaft ihre vorherrschende Gestalt gegeben. Der Mittlere Osten war der Geburtsort von drei großen Weltreligionen, und das führte dazu, dass er diese Widersprüche in großem Maße auszuhalten hatte. Die Religionen verloren die fortschrittlichen Aspekte, die ihnen anfangs innewohnten. Sie wurden zu Hindernissen für die Wissenschaft und schafften es auch nicht, demokratische Maßstäbe und demokratische Traditionen hervorzubringen. Der sich verstärkende Feudalismus führte zu mehr Konservatismus und vernichtete die demokratischen Züge, die in den Stammesstrukturen angelegt sind. So wurden die geeigneten Voraussetzungen für jede Form autokratischer Herrschaft geschaffen. Die Religionskriege und die Kriege gegen “Ketzer-Bewegungen” führten auch nicht zu den Reformen, die im Westen erreicht wurden. Die Kirchturm-Politik nahm zu. Dadurch wurde der Freiheitskampf des Individuums und der Gesellschaft zunichte gemacht. Insbesondere wurden das freie Denken und die politischen Freiheiten allmählich vergessen.
In diesem Zusammenhang ist auf die Geschichte der türkischen Republik hinzuweisen: Die türkische Republik, die auf eine revolutionäre Art und auf der Grundlage einer nationalen Befreiung hervorgegangen ist und das Erbe des mächtigen Osmanischen Reiches antrat, versagte darin, eine machtvolle Strömung in Richtung Demokratie zu entwickeln. Dies geschah wegen der inneren Aufstände und der Bedrohungen von außen während der Gründerjahre. Die Republik erreichte nur Entwicklungen, die sich auf die Bereiche der Ideologie und der neuen Sozialstrukturen beschränkten. Bis in die 50er-Jahre hinein konnte bezüglich der autokratischen Regierungsart unter dem Einfluss der weltweiten demokratischen Entwicklungen lediglich eine Umwandlung hin zu einer begrenzten Oligarchie durchgeführt werden.
Dem Putsch vom 27. Mai 1960 folgten die Kämpfe zwischen den Linken und Rechten in den 70er-Jahren, die Putsche vom 12. März 1971 und vom 12. September 1980. Vor dem Hintergrund, dass die Demokratie weltweite Bedeutung erlangte, wurde es notwendig, dass die Türkei den Charakter einer Demokratischen Republik annahm - und zwar gerade wegen dieser weltweiten Entwicklung, der intensiven inneren Konflikte und der sozioökonomischen Entwicklung. Alle diese Anzeichen sprechen dafür, dass sich die Republik hinsichtlich ihrer sozialen Maßstäbe und ihrer ideologischen Werte einer raschen Wandlung unterzieht. So hat sie ein Stadium erreicht, wo diese Entwicklung nicht länger behindert wird.
Mit dieser langen Einführung beabsichtigten wir den Rahmen eines demokratischen Systems abzustecken, innerhalb dessen für all diese Probleme die notwendigen Lösungen gefunden werden können. Wir müssen gründlich darüber nachdenken, wie die Lösungen in diesem Rahmen aussehen können - Lösungen für die schwierigen Probleme der Religion, für die gefürchtete kurdische Frage und auch für die Fragen aller anderen gesellschaftlichen Gruppen. Der wichtigste Grund für die Verschärfung der Probleme besteht darin, dass dieser Rahmen nicht entwickelt wurde und auch die Betroffenen, die nach einer Lösung suchen, einen solchen Rahmen nicht auf die Tagesordnung gesetzt haben. Dieser Rahmen, der schon in den 60er-, 70er-Jahren hätte gebildet und präsentiert werden müssen, hätte in den 90er-Jahren geschaffen werden können. Diese vertane Chance wenigstens in den 2000er-Jahren nicht noch einmal zu verpassen, sollte vor dem Hintergrund der großen Erfahrungen für alle demokratischen Kräfte eine Aufgabe sein. In dieser Hinsicht spielen die PKK und mein Prozess eine sehr bedeutende Rolle.
Bevor wir zum allgemeinen demokratischen System und den Problemen der Türkei kommen, sollten wir zunächst die überwiegend europäischen Erfahrungen zusammenfassen, um diese Überlegungen und ihre praktischen Werte besser zu begreifen. Ich finde es wichtig, viele Zitate aus dem Werk “Demokratische Zivilisation” Leslie Lipsons zu übernehmen. Sie untermauern meine Gedankengänge, mit denen ich mich schon vor meiner Verteidigung beschäftigte.
Lipsons Werk wurde in den 60er-Jahren veröffentlicht und hat meines Erachtens durch seine Lösungsvorschläge für die Türkei seine Aktualität bis heute bewahrt. Der Wert dieser Untersuchung ist deshalb um so größer, weil sie einerseits wissenschaftlich ist, andererseits heute ihre Richtigkeit triumphierend bewiesen hat.
Das von mir gewählte Beispiel ist die Schweiz, die das Wesen Europas repräsentiert als ein multikonfessionelles, multikulturelles und multisprachliches Beispiel. Aus den mehrere Jahrhunderte andauernden Konfessionskonflikten zog sie die folgende Lehre:
Am Ende waren beide Seiten erschöpft, keine der Parteien konnte ihren Gegner völlig beseitigen und als sie bemerkten, dass ihre Konföderation sich auflösen würde, wenn sie sich nicht zusammenschlössen, erkannten sie den Wert der Toleranz. Statt sich gegenseitig zu töten, einigten sie sich mehr oder weniger auf Leben und Lebenlassen. Somit wurde die Toleranz gegenüber der Verschiedenheit zur Grundlage für ihre Einheit. Und die Demokratie hat sich als Bejahung der Koexistenz verschiedener Einheiten entwickelt.
Noch interessanter ist der Entwicklungsprozess, wie die sprachlichen Unterschiede in der Schweiz zu einer Kraft für die Vereinigung wurden.
Die von der konfessionellen Aufspaltung geteilte Gesellschaft wurde auch von sprachlichen Unterschieden belastet. Man kann sagen, dass die deutschsprachige Mehrheit - sie bildet zahlenmäßig die große Mehrheit - in Bezug auf die Sprache viele Zugeständnisse erhielt; der Sensibilität der Bürger wurde Respekt erwiesen. Nach der Verfassung von 1848 wurden Französisch, Italienisch und Deutsch als nationale Sprachen und im offiziellen Gebrauch als gleichberechtigt anerkannt. Aber die Schweizer gingen noch darüber hinaus. In dem Kanton Grison, in der südöstlichen Ecke des Landes gelegen, lebt eine 50.000 Personen zählende Minderheit, die Rätoromanisch spricht, welches man als eine Form des Italienischen bezeichnen kann. Diese Gruppe wollte, dass ihre eigene Sprache nicht als Dialekt, sondern als eine unabhängige Sprache anerkannt wird. Das heißt, sie wollte die Anerkennung als vierte nationale Sprache des Landes. Dem wurde bei dem Referendum 1938 mit großer Mehrheit - zehn zu eins - zugestimmt. Das ist in der Tat ein beachtenswerter Beweis dafür, wie die Sensibilität einer kleinen Minderheit von der Mehrheit mit respektvoller Aufmerksamkeit beachtet wird.
Weiter heißt es dort:
Man kann akzeptieren, dass der moderne Mensch in der Schweiz die hinsichtlich der Sprache gespaltene Gesellschaft vereint und dieses Problem durch eine demokratische Verwaltung gelöst hat. Das heißt aber nicht, dass die Mehrsprachigkeit keine Schwierigkeiten und Probleme beinhaltet. Im Gegenteil, ich möchte sagen, dass die Vorteile der Verschiedenartigkeit der Schweizer die daraus erwachsenden Nachteile ausgeglichen haben und sogar ein Gleichgewicht erreicht haben, in dem die Vorteile überwiegen. Die Schweiz hat demokratische Methoden angewandt und jeder gesellschaftlichen Gruppe das Recht gegeben, ihre eigene Zukunft zu bestimmen, und damit für die Ideale der Demokratie ihren Beitrag geleistet. Es ist notwendig, über die Grundsätze und deren Umsetzung, welche die oben bezeichneten Ergebnisse ermöglichten, etwas nachzudenken. Vor allen Dingen bemühen sich die Schweizer, mindestens eine zweite Sprache zu lernen. Es ist Pflicht, in den Gebieten, in denen Französisch, Italienisch, Rätoromanisch gesprochen wird, Deutsch zu lernen, und in den Gebieten, in denen Deutsch gesprochen wird, eine der romanischen Sprachen zu lernen. Ein gebildeter Schweizer beherrscht mindestens drei Sprachen.
Diese Mehrsprachigkeit ermöglicht den Schweizern sowohl mit den Nachbarländern als auch untereinander eine besondere Kommunikation. Durch die Sprache können sie aus der französischen, deutschen und italienischen Kultur, den wichtigsten Kulturen Europas, Nutzen ziehen. Es ist durchaus natürlich, dass sich die Italienisch sprechende Bevölkerung in der Schweiz mit Italien verbunden fühlt, der Französisch sprechende Schweizer Paris beobachtet und der Deutsch sprechende Schweizer sich Deutschland und Österreich näher fühlt. Aus diesem Grund verbindet die Auswirkung der zentrifugalen Kraft der Sprachen die Schweizer mit ihren Nachbarn und verhindert ihre Isolation. Unter den europäischen Nationen sind die Schweizer die am meisten europäischen. Dennoch sind sie zugleich Schweizer. Ja, sogar in patriotischster Weise. Sie sind stolz darauf, von ihren Nachbarn politisch unabhängig zu sein, sind dankbar dafür, in Frieden und Wohlstand zu leben. Schweizer aus allen Gebieten sehen sich auf die Existenz der anderen angewiesen, um ihre eigene Identität zu bewahren. Ihnen ist es gelungen, ihre Unterschiede in gegenseitige Stärkung zu verwandeln.
Die Wechselwirkungen dieser Gegensätze stellen sich in verblüffender Weise heraus. Es ist unmöglich, in der Schweiz umherzureisen, ohne diesen Reichtum der Mehrsprachigkeit zu bemerken. Im Vergleich zu anderen Staaten ist die Schweiz ein sehr kleines Land im Hinblick auf die Fläche und die Bevölkerungszahlen. Allerdings ist es kein Land, welches eintönige Standards und eingeengte Charakterzüge trägt.
Die Wurzeln der schweizerischen Regierung, die erfolgreiche Schaffung einer durchaus harmonischen Demokratie - trotz Unabhängigkeit und scharfen Differenzen - stellen einen politischen Sieg dar. Betrachtet man die Situation der Schweizer - große innere Unterschiede und Angriffe von außen - dann erscheint es wie ein Wunder, dass sie die Schweiz schaffen, vereint bleiben und die Demokratie entwickeln konnten. Darüber hinaus stellt ihr Land ein außerordentliches Thema für die Untersuchungen der Politikwissenschaftler dar, weil es die Ausnahme von so vielen Verallgemeinerungen ist. Die Schweiz beweist nicht nur die Regel, sondern korrigiert auch die Dinge, die von allen als richtig angenommen wurden.
Als Resümee kann dieses Sprach- und Kulturexperiment der Schweizer mit einer paradoxen Feststellung zusammengefasst werden. Ihre sprachliche Vielfalt hat ihre Einheit mehr gestärkt als geschwächt; und dass sie diese Unterschiede tolerieren, ist sowohl der Grund als auch das Ergebnis ihrer Unabhängigkeit und Demokratie. (Demokratische Zivilisation, S. 125-128)
Diese aufschlussreichen Beispiele zeigen, wie sich die sprachlichen und kulturellen Unterschiede in der Demokratie bzw. in der Unabhängigkeit weiterentwickeln konnten, sie sind darin sowohl Ursache als auch Ergebnis. Im Hinblick auf das sprachliche und kulturelle Mosaik ist dies sicherlich auch für die Türkei sehr lehrreich. Wenn man sich vor Augen führt, dass die kurdische Frage letztlich auf die Frage der Freiheit der Sprache und Kultur reduziert werden könnte, sind die Lehren daraus wirklich aufschlussreich.
Lasst uns nun auch ein langes Zitat zur Bedeutung der demokratischen Verfassung vornehmen. Denn dieses Thema ist für die Türkei ebenso aktuell.
“Erste politische Voraussetzung für eine demokratische Verfassung ist, dass jeder, der einem Staat untertan ist, als Bürger gleichberechtigt ist, und dass er in diesem Rahmen bei den Wahlen und der Kontrolle ihrer Vertreter gleichberechtigten Anteil hat. Dies bedeutet, dass die demokratische Verfassung unter den Bürgern und Einwanderern keinen Unterschied wie Bürger 1. und 2. Klasse macht. Sie betreibt im Rahmen der Grundrechte und Grundpflichten keine Diskriminierung wegen Rasse, Glaube, Sprache, Geschlecht, Familie und Besitzstand. Eine Demokratie bezieht hinsichtlich dieser Grundrechte einen jeden in gleicher Weise mit ein. Aus alldem resultiert, dass jeder, der absichtlich aus der Verfassung ausgegrenzt oder auf die Ebene der Zweitrangigkeit abgeschoben wird, durch die Verfassung nicht vertreten ist. Existiert eine solche Gruppe, kann die Verfassung nicht demokratisch sein. Wenn diese Gruppen sich gegen die Verfassung stellen, sich nicht daran gebunden fühlen und sie ablehnen, sind sie in moralischer wie politischer Hinsicht im Recht. Deshalb kann die Demokratie unter den Gruppen, die gegenseitig ihre natürliche menschliche Existenz nicht anerkennen oder sich gegen die gemeinsame Identität stellen, weder durch die Verfassung noch durch einen anderen Weg realisiert werden. Die Verfassung der Demokratie sollte vor allen Dingen eine von jedem akzeptierte Einheit beinhalten. (Demokratische Zivilisation, S. 348)
Ein anderes Beispiel ist England; es trägt den Titel des Landes, welches das Verfassungssystem weltweit am besten praktiziert. Es ist das auserwählte Land, welches seine Probleme ohne Gewaltanwendung, durch zivilisierte Diskussionen innerhalb der Demokratie löst. Es ist auch sehr aufschlussreich, wie es dazu gekommen ist.
Die Engländer des 20. Jahrhunderts können ihre kleinen Kämpfe in aller Sicherheit führen, denn Engländer und Schotten, Waliser und Iren, Protestanten und Katholiken, Aristokraten und das Volk, Großgrundbesitzer und Industrielle haben ihre Unterdrückung, Ausbeutung und Morde in den vergangenen Epochen praktiziert und beendet. Das heutige Bürgertum ist die Frucht der Krise von gestern.
Hier wird gezeigt, wie die Engländer aus den zahlreichen Kämpfen des Jahrhunderts eine hervorragende demokratische Verfassung ausgearbeitet und ihre größte Tugend, ein demokratisches System, geschaffen haben. Die Sprache der Demokratie ist die Evolution und deren Meister ist England.
Ein anderes wichtiges Zitat betrifft die Überprüfung der Grundsätze und Programme, nachdem diese eine bestimmte Zeit lang umgesetzt wurden:
Wenn Prinzipien, was natürlich ist, vor der Erarbeitung eines Programmes aufgestellt werden, dann müssen sie erneut kontrolliert werden, nachdem die Programme entwickelt worden sind. Wenn die Erfahrungen zunehmen, dann kann es notwendig sein, die Ideale neu zu formulieren im Licht des Möglichen. Aus diesem Grund muss es zwischen der politischen Praxis und ihrer Philosophie einen gegenseitigen Austausch geben. Da die ständig umgesetzten Programme zu Veränderungen im Volk führen, beeinflussen sie die Gesellschaft und Politik. Die Ziele, die die Großväter begeistern, können sich für die Enkelkinder zu unbedeutenden Wiederholungen wandeln. Die abstrakten Ideale müssen an veränderte spezifische Situationen angepasst werden können.
Es wird hier sehr deutlich, wie in Demokratien, entweder unter spezifischen Bedingungen oder wenn die Prinzipien mit der Praxis nicht in Übereinstimmung stehen, politische Organisationen ihre Prinzipien und Programme anpassen müssen; der Staat muss seine Verfassung anpassen. Es liegt auf der Hand, dass die in der Praxis über lange Zeit widersprüchlich gewordenen Grundsätze und Programme wertlos werden können.
Was aus diesen langen Zitaten auch herausgelesen werden soll, ist das in der Türkei bekannte Sprichwort: “In der Demokratie gehen die Lösungsmöglichkeiten nie aus.” Offensichtlich entspricht die Praxis noch nicht dieser Redewendung. Wenn wir die Frage mit Überzeugung und Entschlossenheit stellen, gleichgültig, auf welcher Stufe der Demokratisierung wir stehen und welches Problem auf der Tagesordnung steht, dann werden wir sehen, dass wir die Möglichkeit zu einer umfassenden Lösung haben.
Es ist offenkundig, dass die europäischen Länder Anfang des 20. Jahrhunderts ihre wichtigsten Fragen wie die Nation, Sprache, Religion usw. gelöst und ihre heutigen starken Demokratien gegründet haben; diese Regierungsform ist für die umfassende Entwicklung und ihre Überlegenheit verantwortlich. Die Europäisierung in diesem Sinne war das Ziel in den ersten Jahren der Republik. Atatürks Wunsch, “das Niveau der zeitgenössischen Zivilisation zu erreichen und sogar zu übertreffen”, und sein Ausspruch “Die Republik haben wir gegründet, ihr werdet sie weiterentwickeln” können nur durch die Demokratisierung der Republik zur Realität werden. Selbst die Republik, das in den Jahren seiner Gründung eher liberal orientierte Kabinett von Fethi Okyar und die Versuche der “Serbest Firka” sowie deren erste Initiative waren Ausdruck der Sehnsucht Atatürks nach Demokratie.
Dass er zu seinen Lebzeiten zwei große Machtformen, nämlich den Nazi-Totalitarismus von Hitlerdeutschland und die Sowjet-Diktatur von Stalin sah und vorausgesehen hat, dass “diese Systeme sich auflösen werden”, deutet darauf hin, dass er schon damals die Überlegenheit der Demokratie festgestellt hat. Dennoch ist es offensichtlich, dass sie nicht verwirklicht werden konnte. Die Fahne der Demokratie, welche die DP** nach dem Zweiten Weltkrieg zum Schein gehisst hat, konnte vom Wesen her nicht mehr leisten als der Oligarchie den Weg zu ebnen. Die Türkei hat seit den 50er-Jahren ständig von der Demokratie westlichen Typs gesprochen, hat sie allerdings nicht praktiziert. Das hat vehemente Konflikte zwischen der Rechten und der Linken hervorgebracht und drei gravierende Militärputsche. Dass das politische Klima durch diese Gewaltanwendung ständig angespannt und von ihr geprägt war, ist der offene Beweis dafür, dass sich die Demokratie nicht entwickelt hat. Dieser bohrende Schmerz macht sich bis heute immer wieder bemerkbar, er ist das wichtigste der aktuellen Themen.
Viele offizielle Verantwortliche und Institutionen bringen mit ihren Worten oder Berichten zur Sprache, dass in den Gebieten mit hohem kurdischen Bevölkerungsanteil, wie immer man die Gebiete auch nennen mag, in großem Maße Rebellion, Leid und Gewalt herrschen - Erscheinungen, hinter denen sich schwere ökonomische und gesellschaftliche Probleme verbergen. Aber gleichzeitig gibt es auch einen beachtlichen demokratischen Aufschwung. Mehr als zwanzig Parteien, die alle möglichen Ansichten und sozialen Gruppen vertreten, beteiligten sich an den Wahlen. Jeder konnte seine Stimme abgeben. Auch das ist Realität und im Hinblick auf die Demokratie eine nicht zu unterschätzende Entwicklung. Ebenso eindeutig ist, dass die Demokratie nicht mit Gewalt funktioniert, dass nur die friedliche Lösung aller Probleme, die die Quelle der Gewalt bilden, mit der Demokratie vereinbar ist. Es zeigt sich also, dass wir in der gegenwärtigen Phase mit ihren religiösen und ethno-kulturellen Problemen einem starken Demokratisierungsprozess gegenüberstehen und jeder Fortschritt die Lösung dieser Probleme mit demokratischen Mitteln beinhaltet.
Es ist wichtig, Folgendes ganz klar zu erkennen: Seit dem Sturz Selims III. zu Beginn des 19. Jahrhunderts und seit der Vereinbarung des “Sened-i Ittifak”*** mit führenden Persönlichkeiten hat die Türkei jede Art von Gewaltanwendung, Revolution, Konterrevolution und Staatsstreichen erlebt. Und es ist ganz klar, dass die Gewalt keine Lösung gebracht hat, sondern ein Hindernis darstellt, das die Gewalt ständig reproduziert.
Die Gewalt muss endlich von der Tagesordnung der Republik verschwinden. Ich glaube, dass dies ein Grundthema in der Türkei ist, in dem sich alle gesellschaftlichen Kreise einig sind. Niemand glaubt, dass die Probleme durch Gewalt gelöst werden können. Das wird auch in dem historisch bedeutenden Prozess, in dem wir uns jetzt befinden, dadurch bewiesen, dass der MGK**** trotz seines enormen Gewaltpotenzials aus der Geschichte große Lehren gezogen zu haben scheint; mit seinen Konzepten und mit all seiner Kraft setzt er sich offensichtlich seit Mitte der 90er-Jahre für die Steuerung einer schöpferischen, modernen Demokratie ein. Die Armee putscht nicht. Die Armee ist noch sensibler als die demokratisch scheinenden Parteien und erinnert an die Regeln der Demokratie.
Wenn wir den Zusammenhang zwischen Demokratie und Armee analysieren, sehen wir, dass - während jeder für sich persönlich unbegrenzte Demokratie fordert - die Armee wirklich die Überwachung der demokratischen Normen übernimmt, zweifellos, um die Sicherheit des Landes zu gewährleisten. Dass die Armee, die für die Sicherheit verantwortlich ist, ein Gespür dafür hat, wie stark die Demokratisierung mit der Sicherheit des Landes verbunden ist, zeugt von einem Verständnis, dem hoher Respekt erwiesen werden muss.
Dies stellt auch eine historische Phase der Demokratie dar. Die Lösung, nach der gesucht wird, heißt Demokratie, die unendliche Möglichkeiten für Lösungen bietet. Wenn dies nicht zwangsläufig begriffen worden wäre, hätte es einen Putsch gegeben, den niemand hätte verhindern können. Die Armee stellt heute keine Bedrohung für die Demokratie dar, im Gegenteil, sie ist ein Garant für deren gesunde Entwicklung und ihr Funktionieren. Warum ist das so? Weil für die Lösung von Problemen kein anderer Weg geblieben ist als der einer Theorie und einer Praxis, die eng mit dem Wesen der Demokratie verbunden sind. Es ist deshalb so, weil man begreifen muss, dass die Gewaltanwendung die Frage nicht lösen, sondern im Gegenteil nur verschärfen kann, und dass die Lösung aus der schöpferischen Kraft des demokratischen Systems hervorgeht. Es ist deshalb so, weil die Demokratie für die Türkei nicht nur ein Bedürfnis, sondern eine zwingende Notwendigkeit geworden ist.
Ich erachte es als notwendig, an die historische Tatsache zu erinnern, dass ich seit 1996 die Rolle der Armee anerkannt habe und noch in diesen Tagen zur Sprache brachte, dass wir keinen anderen Weg sehen, als sie zu unterstützen. Ich habe zunehmend in der Richtung eine Lösung gesucht, indem ich einseitige, aber nicht erfolgreich verlaufende Versuche eines Waffenstillstands vorschlug.
Folgende Fakten können den historischen Charakter dieser Epoche demonstrieren: Fast alle anderen wichtigen politischen, ökonomischen und zivilen Institutionen sind mit der großen Suche nach Demokratie befasst, auch wenn sie es nicht offen zugeben; und es gibt keine Gruppe, die nicht eine sinnvolle Demokratisierung wünscht. Dies kann man an den zahlreichen Berichten, Konferenzen und Podiumsdiskussionen ablesen. In dieser Hinsicht werden viele Medien geradezu bombardiert - auch das ist ein Indikator und Beweis für die historische Periode, deren Wesen die Demokratie ist.
Jedoch ist es ebenfalls eine Tatsache, dass jeder weiß, von den höchsten Regierungsstellen bis zum normalen Bürger, dass das, was jetzt praktiziert wird, nicht wirkliche Demokratie ist. Die Präsidenten der wichtigsten staatlichen Institutionen wie Verfassungs- und Oberverwaltungsgerichte sprechen in ihren Reden anlässlich der Jahrestage ihrer Institutionen davon, dass die Hindernisse für die wichtigsten demokratischen Grundsätze - beginnend mit dem Verbot der Sprache, der Gedanken und der politischen Parteien - beseitigt werden müssen. Sogar das Parlament hat Probleme mit der Vereidigung. Die grundlegenden Institutionen des Staates zeigen durch ihre Positionen im Hinblick auf die Demokratie ihr Gefühl für die historische Bedeutung dieser Epoche.

Die folgenden Zitate sind wichtig als eine Zusammenfassung der Erfahrungen, die überall in der Welt gemacht wurden, und die aufzeigen, wie die Demokratie Konflikte von großem Umfang lösen kann:

Allerdings trägt die Auseinandersetzung einen Charakter, der bestimmte Grenzen setzt. Wenn sie nicht kontrolliert wird, kann sie vernichtende Folgen haben, die eigene Vernichtung eingeschlossen. Wenn wir unseren Hang zur Zerstörung nicht begrenzen, können wir nicht als zivilisierte Menschen leben. Aus diesem Grund müssen wir unsere Auseinandersetzung institutionalisieren, sie methodischen Garantien unterstellen. Nebenbei, während wir darüber diskutieren, welche Ideale wir in der Zukunft erreichen wollen, müssen wir auch unser heutiges Leben in einem ordentlichen Rahmen führen. Wie die Auseinandersetzungen von heute die Ordnung von morgen bestimmen werden, so ist die heutige Ordnung genauso ein Produkt der Auseinandersetzungen von gestern. Die Sicherung der Existenz der Gesellschaft setzt voraus, dass die Führung so organisiert werden muss, dass sie die Bürger, Prinzipien, Instrumente, Kompetenzen und Verantwortlichen umfasst, mit einem Wort, sie setzt einen Staat voraus. Allerdings müssen die politischen Diskussionen innerhalb des Staates es ermöglichen, auf die Veränderungen zu reagieren und damit auch einen Weg zu finden, die Realität den Idealen näher zu bringen, damit die Gesellschaft sich an die Erneuerung hält und sich reformieren kann. Gut funktionierende und ihre Existenz bewahrende Institutionen sind diejenigen, die ein sinnvolles Gleichgewicht zwischen der Offenheit gegenüber Neuerungen und dem Schutz ihrer Existenz schaffen können. Wenn dieses Gleichgewicht nicht hergestellt wird, wird der Verwaltungsapparat in Widerspruch zu den Kräften geraten, die sich im Verlauf des politischen Prozesses herausbilden.
Aus diesem Grunde besteht eine Spannung zwischen der Politik und dem Staat. Die dynamischen Eigenschaften der Politik üben Druck aus auf den statischen Charakter des Staates. Die Politik hat die Eigenschaft, fließend zu sein. Die schwer zu steuernden und zu kontrollierenden Kräfte sind mit dem wellenschlagenden Meer zu vergleichen. Der Staat besitzt dagegen eine bestimmte Struktur. Er setzt Einheit und Stabilität voraus, seine Kriterien sind das Gesetz, die Ordnung und die Autorität. Wie das Meer die Erde ewig angreift, so können die Wellen der Politik den Staat permanent angreifen. Den Begegnungspunkt bildet die Regierung. Diese Begegnung ist vergleichbar mit dem metaphysischen Rätsel, wie eine unwiderstehliche Kraft einen unbeweglichen Felsen emporheben kann. Und genau das geschieht in den Momenten eines politischen Aufstands wie zum Beispiel einer Revolution. Deshalb muss ein System entwickelt werden, welches derartige Spannungen überwinden kann. Ein solches System ist die Demokratie. Im Hinblick auf das Wesen und die Methode, sich diesem Problem anzunähern, ist die Demokratie einmalig unter den Regierungsformen. Hinsichtlich ihrer Ziele ist sie bis zu einem bestimmten Grad präventiv. Sie verhindert, dass die Auseinandersetzungen zwischen den Interessen, Gruppen und Individuen destruktiv werden. Aber sie ist in höherem Maße Konstruktiv. Sie versucht den Interessen der Öffentlichkeit zu dienen, indem sie die politischen Energien der unterschiedlichen Gruppen zusammenführt. Die Demokratie bemüht sich, eine Beziehung zu schaffen, in der die Politik schöpferisch und auch der Staat sensibel werden kann. Das Ziel der Demokratie ist es, den Felsen beweglich und die Kraft nicht unwiderstehlich zu machen. (Die demokratische Zivilisation, S. 235)
Was ich hier unterstreichen will, ist der Gedanke, dass die Demokratie in Zeiten, in denen die politische Atmosphäre durch gesellschaftliche Spannungen, zeitweilige Gewaltanwendungen - Aufstände, Revolten - erschüttert ist, wie ein wirkliches Heilmittel wirkt. Demokratie kann extreme Schritte seitens verschiedener Interessen verhindern, aber auch die berechtigten Anliegen durch staatliche Institutionen realisieren lassen. Demokratie kann durch eine wunderbare Balance Spannungen und Auseinandersetzungen überwinden. Sie besitzt die ideale Regierung, die dank produktiver demokratischer Institutionen des Staates Lösungen anbieten kann, ohne der Politik und den hinter ihr stehenden Kräften zu gestatten, ihre Konflikte mit Gewalt auszutragen. Hier wird jedes Problem durch einen Staat bzw. eine Regierung ausbalanciert, die durch die Demokratie sensibilisiert wurde. Ohne zur Gewalt zu greifen, werden die Probleme so behandelt, dass sie dem Allgemeinwohl auf bestmögliche Weise dienen. Die Auseinandersetzungen und die hinter den Spannungen stehenden Kräfte, die in einem anderen Regierungssystem zur Vernichtung und zu Massakern führen können, werden hier verwandelt in einen Nutzen für die Allgemeinheit.
Hierin können wir die unendliche Kreativität der Demokratie erkennen. Dies zeigt zugleich auch, woher die Überlegenheit der westlichen Gesellschaften stammt. Diejenigen, die ihre destruktiven Energien nicht in Produktivität umwandeln können, werden natürlich in großem Maßstab verlieren; diejenigen, denen diese Umwandlung gelingt, und das sind die demokratischen Mechanismen, werden gewinnen.
Die Verluste der Türkei waren während des letzten halben Jahrhunderts riesig, weil es ihr nicht gelungen ist, die negativen Aspekte der politischen Spannungen und der Gewalt zu transformieren und die Energien, die darin enthalten waren, in etwas Nützliches für die Individuen und Gruppen umzuwandeln. Sie hat nicht nur eine Generation verloren, sondern auch unschätzbare Ressourcen und moralische Werte vergeudet. Es gab unendliches Leid. Es ist unmöglich, dies nicht zu bedauern, wenn man bedenkt, was man alles hätte gewinnen können, wenn man sich auf das demokratische System geeinigt hätte in der Überzeugung, dass man es auch handhaben kann und jeder seinen Teil der Verantwortung trägt. Die Erfahrungen der vergangenen vierzig Jahre zeigen, dass die demokratische Epoche, in der sich die Türkei befindet, auf eine möglichst erfolgreiche Weise durchlaufen werden muss und einen einmaligen und unverzichtbaren Weg zur Lösung darstellt.
Ich habe versucht, den Charakter der Türkischen Republik aufzuzeigen, die historischen Bedingungen ihres Entstehens sowie ihre innere nationale und gesellschaftliche Realität. Ich habe eine kurze Geschichte ihrer Entwicklung abgehandelt und sie sogar mit dem internationalen demokratischen System verglichen, weil ich einen Rahmen schaffen will für diesen Gerichtsprozess und die kurdische Frage, oder wie immer man sie bezeichnen will: als Süd-Ost-Frage oder als Terrorismus-Frage.
Der gemeinsame Kampf während der Periode der Republikgründung hat sich in ein bitteres Problem verwandelt, als die Aufstände und die ihnen zugrunde liegenden sozialen Fragen das Entstehen einer freiwilligen Einheit verhinderten. Jeder Aufstand erschwert das Problem. Zusammen mit den zurückliegenden geschichtlichen Gründen verwandelt sich das Problem in eine Realität, die diejenigen verbrennt, die sich ihr nähern, ja, in eine Realität der Wunden, der Tragik und äußerster Schmerzen.
Während die Völker und Gruppen, die in verschiedenen Teilen der Welt mit ähnlichen Problemen konfrontiert waren und sich Jahrhunderte lang an die Gurgel gingen, die wundervolle Kraft zur Lösung ihrer Probleme erlangten und fruchtbare Vereinigungen im Jahrhundert der Republik hervorbrachten - wir haben schon die Schweiz als ein aufschlussreiches Beispiel erwähnt - und ihre Sprachen und Religionen in die Gründung ihrer Unabhängigkeit und Demokratie einbrachten, obwohl separatistische Kräfte sie umgaben, wurde das hier nicht erreicht.
Warum konnten die Aufstände nicht verhindert werden - trotz der gemeinsamen Geschichte und Religion und trotz linguistischer und kultureller Ähnlichkeiten? Warum wurde dieser Aspekt nicht entwickelt, warum waren wir unfähig, die Demokratische Republik, die als Regierung durch das Volk angesehen werden muss, mit der Macht auszustatten, dieses Problem zu lösen? Und was das Wichtigste ist: Wie können wir die Demokratische Republik mit dieser Macht zukünftig ausstatten?
Angesichts der Erfahrungen anderer Nationen in der Welt ist eine demokratische Lösung der Probleme nicht nur möglich, sondern wir sehen auch, dass die sie begleitenden Bedingungen nahezu ideal sind. Die Tatsache der Vermischung, des gemeinsamen Landes, der kulturellen Ähnlichkeiten, die in Jahrhunderten der natürlichen Assimilation in Sprache und Religion entstanden, und vor allem die Tatsache, unter dem Dach eines Staates ständig zusammengelebt zu haben, zeigen, wie sich die objektiven Bedingungen für eine demokratische Lösung entwickelt haben.
Es ist eine wissenschaftliche Tatsache, dass auch unter den bestehenden Widersprüchen im Weltmaßstab diese beiden Seiten von einem Typus sind, der einem Zusammensein am nächsten ist. Hier ist die Vereinigung den objektiven Grundlagen ebenso gut angepasst wie der Separatismus diesen Grundlagen widerspricht. Die Gründe dafür habe ich schon in den betreffenden Abschnitten erwähnt. Auf der einen Seite ist die anti-republikanische Haltung der traditionell herrschenden Schicht, besonders in der überwiegend kurdischen Gesellschaft mit ihren Herrscherfamilien, Großgrundbesitzern, Scheichs und Stammesführern, welche die neue Ordnung für ihre Interessen nicht geeignet fanden und die gewohnt waren, nach eigenem Ermessen zu entscheiden; sie konnten das Volk, das sie selber seit Hunderten von Jahren durch feudale, religiöse und Stammesbande an sich gebunden haben, leicht zum Aufstand mobilisieren; auf der anderen Seite die Republik, die unfähig war, ihre demokratischen Fundamente zu legen, was zweifellos die Konflikte in eine destruktive und separatistische Richtung lenkte.
Ich versuche hier, anstelle von Anschuldigungen der einen Seite gegen die andere den Sachverhalt wissenschaftlich zu analysieren. Es hat die Probleme meines Erachtens vertieft, dass die beiden Parteien es nicht geschafft haben, trotz günstiger Bedingungen die Brücke der Demokratie brüderlich und freundschaftlich zu beschreiten: die eine Seite aufgrund der natürlichen Sorge um die Verteidigung der gerade gegründeten Republik, die andere Seite aufgrund ihrer seit Jahrhunderten bestehenden unverzichtbaren Interessen. Extreme Gewalt, Angst, Bitterkeit und Entfremdung entwickelten sich. Seitdem war es, als begänne die Republik mit aller Kraft zu unterdrücken und zu verleugnen; und die Kurden sagten: “Ich existiere, aber ich flüchte und revoltiere.” So entstand die Tragödie und der bittere Zwist. Es hätte allerdings nicht so weit kommen dürfen. Weil die natürliche Assimilation seit mehreren Jahrhunderten die Türken und Kurden einander sehr nahe brachte, waren Verleugnung und Zwang nicht notwendig. Es war übrigens ganz natürlich, dass das Türkische sich als offizielle Sprache entwickelte und akzeptiert wurde. Die Türken waren die Wurzel des Prozesses, wie die Türkei zur Nation wurde; niemand konnte das leugnen, und so war es natürlich. Da sie die Hauptkraft für die Gründung des Staates waren, konnte das auch nicht anders sein. Dass jeder am Prozess der Herausbildung der Nation teilnehmen konnte, ist die historische Bedeutung des Ausspruchs Atatürks: “Welch ein Glück, Türke zu sein.” Es war zuerst Atatürk, der dies über die Türken sagte, die noch von den Osmanen etikettiert wurden als “Türken ohne Verstand”. Genauso wie man, obwohl aus verschiedenen Nationen stammend, in der gemeinsamen englischen Sprache sagt: “Ich bin Amerikaner” und sogar in der Schweiz mit vier nationalen Sprachen und Kulturen sagt: “Ich bin Schweizer”, so ist es auch nicht befremdlich, in der Türkei von einer gemeinsamen Nation zu sprechen.
Hier soll die nationale Einheit nicht diskutiert werden, und es gibt auch nichts darüber zu diskutieren. Das gleiche gilt in noch größerem Maße für die Unteilbarkeit des Landes und des Staates. Obwohl diese Tatsachen offensichtlich sind, wird über ihre Bedeutung vom Standpunkt der Soziologie und der Politikwissenschaft nicht gründlich diskutiert. Sie werden im Gegenteil für einen chauvinistischen und extremen Nationalismus benutzt und in ein Problem verwandelt.
Obwohl Atatürks Nationalismus kein Nationalismus der Rasse und der Herkunft ist, sondern auf einer nationalen Kultur beruht, die sich in der Geschichte entwickelt hat, bereitet das Abweichen von diesem Nationalismus den Boden für einen Nationalismus, der dem Atatürks entgegengesetzt ist. Als dieser nationalistische Zug, der in den ersten Jahren der Republik nicht sehr offen zu Tage trat, mit dem herrschenden Charakter der kurdischen Gesellschaft zusammentraf, gewann natürlich der Separatismus mehr an Einfluss.
Es wurde nicht daran gedacht, sich für eine demokratische Akzeptanz im europäischen Stil zu entscheiden, um zu vermeiden, dass sich die sprachlichen, kulturellen, religiösen und ethnischen Verschiedenheiten zu Konflikten auswachsen, und diese Konflikte in Kräfte zu verwandeln, die dem allgemeinen Wohl in einem demokratischen Schmelztiegel dienen.
In der Tat wurde die Demokratie gänzlich ad acta gelegt; und die Klassenkonflikte, die nach den 50er-Jahren anwuchsen, führten zu einer oligarchischen Struktur, die ein Hindernis für die Demokratie war.
Als das demokratische System keine Chance hatte, die wachsenden klassenmäßigen, sprachlichen, kulturellen und sogar religiösen Widersprüche zu lösen, verwandelten sich die Probleme in den 70er-Jahren in Kämpfe. Obwohl man leicht demokratische Lösungen hätte finden können, und zwar sowohl für das kurdische als auch für andere Probleme, verwandelten diese sich in ein Pulverfass - wegen der historischen Grundlagen und wegen der weltweiten Konflikte der damaligen Zeit.
Bevor wir noch mit dem Staat, der Gesellschaft, der Geschichte vertraut waren, fanden wir uns mitten in einem Aufstand im Namen der PKK wieder, und zwar wegen unseres dogmatischen und ideologischen Ansatzes und unserer utopischen Politik. Die seit Jahren schwelende Frage entzündete sich von Neuem und wurde zu einer Rebellion. Keine Art von Gewalt kann sich so weit entwickeln, wenn sie nicht eine soziale Basis hat. Jeder weiß von der Begrenztheit des individuellen Terrorismus. In jedem Fall gibt es keine gewalttätige Aktion ohne gesellschaftlichen Hintergrund.
Die ziellose Gewalt ist die gefährlichste Gewalt und sie ist ein Verbrechen. Aber ein Konflikt, der sich über lange Zeit entwickelte, bis er ein Krieg wurde, der zeitweilig Hunderte von Menschenleben an einem Tag kostete und der Millionen von Menschen eine so lange Zeit in Mitleidenschaft gezogen hat - ein solcher Konflikt kann nur aus einem Problem herrühren, das tiefe soziale und historische Wurzeln hat. Die PKK kann dabei höchstens die Rolle der Zündschnur spielen.
Ich will hier nicht nur die Art und Weise aufzeigen, wie das Problem entstanden ist, sondern auch, wie es in anderen Teilen der Welt gelöst wurde, und welche Gestalt es in der Türkei unter dem Einfluss der PKK und meiner Führung angenommen hat. Wegen ihrer historischen Bedeutung musste ich mich mit jenen Aspekten befassen, welche die Herren Staatsanwälte in ihren Anklageschriften gar nicht erwähnt haben. Vom Standpunkt der Legalität ist der Status der PKK eindeutig; aber wenn wir die historische und soziale Dimension der Probleme nicht betonen und wenn wir keinen Vergleich ziehen, wie dieses Problem in anderen Teilen der Welt gelöst wurde, wäre dieser Prozess verschwendete Zeit. Ein historischer Prozess sollte zu einer historischen Lösung führen. Das ist, was die Türkei leidenschaftlich von uns fordert. Wird die Republik es diesmal schaffen, ihre Fähigkeit zu einer demokratischen Lösung unter Beweis zu stellen, eine solche Lösung zu schaffen? Jeder stellt diese Frage. Wird dies der letzte Aufstand sein, wirklich der letzte Aufstand, in welchem wir die Probleme durch die Kraft und Kreativität des historischen, demokratischen Kompromisses lösen, an den ich glaube? So wird gefragt.
Auch wenn ich mich wiederhole und meine Ausführungen in die Länge ziehe: Es ist wichtig, das Problem mit ähnlichen Problemen in der Welt zu vergleichen und seinen Zusammenhang mit der Geschichte und der Gesellschaft zu beschreiben. Ich habe diesen Zusammenhang im Prozess mutig zur Sprache gebracht, weil diese Republik und ihr sich entwickelnder Charakter das notwendig gemacht haben und weil wir eine richtige Einschätzung brauchen, sodass wir uns versöhnen können. Und weil ich aufzeigen wollte, dass wir - wissenschaftlich betrachtet - keine andere Option haben oder benötigen.
Ich gehe von diesem Standpunkt aus, wenn ich die folgenden Fragen beantworte:
Weil es der Hauptvorwurf der Anklage ist und das Programm der PKK und viele meiner Aussagen dies zum Inhalt haben: Ist ein separater Staat notwendig? Ist er möglich? Wird dies durch Wort und Tat bestätigt? Welchen Beweis hat das Leben erbracht? Ist eine Abspaltung genauso möglich wie eine aufgezwungene Einheit? Können sie zu einer Lösung führen? Und wenn nicht, wird es diesmal eine historische Chance für eine demokratische Lösung geben, die auf einem gemeinsamen Land und einem gemeinsamen Staat beruht?



*siehe auch das Kapitel “Das Beharren auf bewaffnetem Kampf und Ausweglosigkeit bedeutet, das nächste Jahrhundert zu verlieren” in: “Antwort auf das Schlussplädoyer des Generalstaatsanwaltes”
**Demokratische Partei (siehe Glossar)
***eine Art Beistandspakt (siehe Glossar)
****Nationaler Sicherheitsrat der Türkischen Republik