Unser nacktes Leben setzen wir für den Kampf ein Interview mit Zübeyde Tepe von den Samstagsmüttern anläßlich ihrer Rundreise durch Deutschland 1996

Ferhat Tepe wurde im Mai 1974 in Bitlis geboren. Er absolvierte die Hauptschule, Mittelschule und das Gymnasium in Bitlis. Wegen seiner politischen Aktivitäten wurde er im Dezember 1992 zweimal verhaftet. Ferhat Tepe arbeitete seit April 1993 als Korrespondent für Özgür Gündem in Bitlis. Er wurde am 28. Juli 1993 von der Konterguerilla im Stadtzentrum von Bitlis verschleppt. Seine Leiche wurde am Montag, den 6. August 1993 am Ufer des Hazar-Sees in der Kreisstadt Sivirce bei Elazig gefunden.

Frau Tepe, können Sie sich kurz vorstellen?
Ich heiße Zübeyde Tepe und bin die Mutter von dem ermordeten Özgür Gündem Journalisten Ferhat Tepe. Vor seiner Ermordung war er in der Polizeihaft verschwunden. Nachdem mein Sohn Ferhat Tepe in der Haft verschwunden war, zogen wir im Jahre 1993 nach Istanbul. Seitdem leben wir dort.
Seit wann gibt es die Samstagsmütter und was sind Ihre Forderungen?
Die Samstagsmütter gibt es nun schon seit 66 Wochen. Wenige Monate nach unserem Umzug nach Istanbul habe ich von den Samstagsmüttern erfahren, die vor dem Galatasaray-Gymnasium im Stadtteil Beyoglu wöchentlich eine Sitzblockade machen. Ich entschied mich, ebenfalls hinzugehen und zu erfahren, was sie genau machen und welche Forderungen sie haben. Eines Samstags nahm auch ich an dieser Aktion teil und fragte die anwesenden Mütter nach den Gründen ihres Protestes. Sie berichteten mir, daß sie gegen das Verschwindenlassen ihrer Angehörigen protestieren. Andere drückten ihre Teilnahme mit den folgenden Worten aus: “Wir sind für unsere Kinder hier.” Ich beschloß, von diesem Tag an ebenfalls daran teilzunehmen. Und so entstand ein breiter Kreis von Müttern, die heute als Samstagsmütter bekannt sind.

Mit welchen Reaktionen werden Sie samstags vor dem Galatasaray-Gymnasium konfrontiert? Zeigen die Vorbeigehenden Interesse an Ihren Aktionen?
Jeden Samstag treffen wir uns, ca. 150-200 Personen, und führen eine Sitzblockade durch. Sehr viele Menschen überqueren den Platz und nehmen uns wahr. Viele bleiben stehen und zeigen großes Interesse. Es sind natürlich auch welche dabei, die desinteressiert sind und nicht einmal stehen bleiben. Sie stellen uns Fragen, z.B. weshalb unsere Kinder verschwinden, sie hätten auch Kinder, aber die würden nicht verschwinden. Wir schildern ihnen unsere Situation. Wir berichten Ihnen, weshalb unsere Kinder verschwinden, und daß sie von dem Feind entführt und ermordet werden, weil sie u.a. Kurden sind und sich für die legitimen demokratischen Rechte einsetzen. Das Verständnis für unsere Aktion nimmt bei der Bevölkerung und den Müttern täglich zu. Sie schließen sich uns an und unterstützen uns.
Das Interesse der Presse war am Anfang ebenfalls groß. Sie kamen und berichteten über uns. Aber auch sie erfuhren zunehmend die Repression des Staates. Die Polizei griff die Presse an und zertrümmerte ihre Kameras. Man schüchterte die Pressevertreter ein, um die Berichterstattung über uns einzuschränken bzw. zu verhindern.

Wie ist die Reaktion des türkischen Staates Ihnen gegenüber?
Der türkische Staat ist gegen uns. Seine Reaktionen sind sehr hart. Trotz brutaler Angriffe durch die türkische Polizei geben wir nicht auf, wir kapitulieren nicht. Wir sind mit unseren Kindern und wir werden bis zuletzt diesen Kampf führen. Sie schlagen uns mit Stöcken, ziehen uns an den Haaren und schleifen uns durch die Straßen. Sie transportieren uns mit Bussen und Autos zur Polizeiwache. 24 Stunden lang werden wir dort festgehalten. In dieser Zeit sind wir physischen Folterungen, Beleidigungen und Beschimpfungen ausgesetzt. Wenn sie uns freigelassen haben, treffen wir uns am nächsten Samstag und bekunden mit unserer Aktion erneut, daß wir bei unseren Kindern sind, uns gemeinsam stützen, ohne uns einschüchtern zu lassen und ohne Kapitulation.

Ist irgendein Mitglied der türkischen Regierung, ist irgendein Abgeordneter des türkischen Parlaments jemals zu Ihnen gekommen, um mit Ihnen über die Verschwundenen zu sprechen?
Von den türkischen Politikern und den Intellektuellen unterstützen uns insbesondere Alkan Hacaoglu von der CHP, Ercan Karakas, CHP und Dogan Ergül, er ist ein Intellektueller. Aber wenn sie über den Frieden sprechen, wenn sie zu uns kommen, um uns zu unterstützen, werden auch sie von der Polizei schlecht behandelt. Auch sie sind Repressalien ausgesetzt. Sie wurden sogar festgenommen und verhört. Die türkische Regierung hält sich nicht einmal an ihre eigenen Gesetze.

Seit einiger Zeit gibt es auch die Freitagsmütter in der Türkei. Wer sind diese Mütter? Was sind die Forderungen dieser Mütter?
Es gibt diese Freitagsmütter. Sie setzen sich aus kurdischen, türkischen, alevitischen, sunnitischen und anderen Müttern zusammen. Dieser Zusammenschluß wurde bewußt von der türkischen Regierung gebildet, um andere Mütter gegen uns Samstagsmütter aufzuhetzen und uns zu spalten. Die “Freitagsmütter” stellen keine politischen Forderungen. Die politischen Mütter unter ihnen haben es nicht leicht. Viele von ihnen verlassen diesen Zusammenschluß, weil sie sich nicht instrumentalisieren lassen wollen. Die Kinder dieser Mütter sind als türkische Soldaten im Krieg gestorben. Es sind Soldatenmütter. Wir richten an die Freitagsmütter den Appell, sich uns anzuschließen. Wir sagen ihnen, laßt uns gemeinsam dagegen ankämpfen, daß eure Kinder und unsere Kinder sterben müssen, daß unsere Kinder verschwinden. Tuen wir uns zusammen, damit keine Mutter mehr weinen muß, weder die Mütter der Soldaten noch die Mütter der Guerilla, noch die Angehörigen der in Haft Verschwundenen. Stellen wir uns mit einer gemeinsamen Botschaft, mit einem gemeinsamen Schrei gegen diese Staatspolitik. Geben wir uns gegenseitig Unterstützung für die Beendigung der Tränen der Mütter und das anhaltende Blutvergießen. Laßt uns einen gemeinsamen Aufruf an den Staat für die Beendigung des Krieges richten.

Wie halten Sie das durch, Frau Tepe? In der Türkei ist es nicht gerade selbstverständlich, daß eine Frau solche Aktivitäten unternimmt! Woher nehmen Sie Ihre Energie für dieses mutige Vorgehen?
Ich bin eine Mutter, deren Sohn ermordet wurde. So geht es auch den anderen Müttern, daher nehmen wir unsere Kraft. Wir sind Menschen, wir lieben unsere Kinder, wir leben für sie. Dieser Staat verjagt uns aus unseren Häusern, er zwingt uns, unsere Dörfer zu verlassen, die bombardiert und in Brand gesteckt werden. Es gibt einen schmutzigen Krieg gegen uns und da ist es nötig, sich zu verteidigen. Die Befreiungsbewegung gibt uns Energie und Mut. Dieser Kampf ist richtig. Wir folgen diesem Weg und das gibt uns unsere Kraft. Schon seit 70 Jahren werden die Kurden verfolgt. Auch damals hat es Aufstände gegen die Unterdrückung gegeben. Die türkische Regierung erreicht aber nichts gegen uns. Durch das Töten kann kein Volk vernichtet werden. Wir wollen nur Gerechtigkeit, wie sie jedem Menschen zusteht. Wir wollen wie Menschen leben können. Aber man behandelt uns, als seien wir keine Menschen. Deshalb unterstützen wir die Befreiungsbewegung.
Mutter zu sein bringt eine große Verantwortung mit sich. Insbesondere als kurdische Mutter ist die Verantwortung und die Schwierigkeit größer. Es ist eine Realität, daß der Widerstand der kurdischen Frauen sie weltweit bekannt gemacht hat. Wenn man die Entwicklung der kurdischen Frau seit dem Beginn des Befreiungskampfes mit ihrer vorherigen Rolle vergleicht, so stellt sich automatisch die Frage, wie in so einer kurzen Zeit solche großen Entwicklungen vollzogen werden konnten?
Die kurdische Frau wurde seit eh und je unterdrückt, ausgebeutet und erniedrigt. Ihr standen keinerlei Rechte zu. Dies sowohl auf staatlicher Ebene als auch im familiären Bereich. Sie war von wichtigen Entwicklungen und Geschehnissen ausgeschlossen. Aber seit ca. 15 Jahren leistet die kurdische Frau aktiv Widerstand und kämpft gegen diese Unterdrückung und Sklaverei. Mit großer Mühe begegnen wir unserer Aufgabe. Man kann sagen, daß die kurdische Frau nun aus einem langjährigen Schlaf erwacht ist und aktiv an den gesellschaftlichen Umwälzungen teilnimmt. Sie eignet sich hierbei ein großes Bewußtsein und Wissen an. Zunehmend befreien wir uns aus der Sklaverei. Wir sind bestrebt, uns zu politisieren, uns zu schulen, unsere Sprache und Kultur zu entwickeln. Wir möchten natürlich, daß die ganzen Schönheiten, die andere Völker auf der Welt genießen, auch wir genießen und erleben können. Wir möchten auch ein schönes, friedliches Leben führen können. Wir werden nicht mehr lange abgeschirmt sein von den positiven Vorzügen des Lebens, denn wir sind erwacht und kämpfen für ein würdevolles Leben. Bei uns gibt es kein Zurück mehr, wir werden uns dem Rückstand nicht mehr beugen.

Welcher Zusammenhang besteht zwischen Ihren Aktionen und dem Befreiungskampf der Frauen? Glauben Sie, daß Ihre Proteste auch zum Befreiungskampf der Frauen beitragen?
Selbstverständlich beinhaltet die Aktion auch die Zielsetzung der Befreiung der Frauen. Die Frauen möchten sich auch von den Schmerzen lösen. Es gibt auf der Welt viele andere Frauen, die nicht frei sind. Unser Kampf beinhaltet auch deren Befreiung. Trotz der ganzen Schmerzen, denen wir ausgesetzt sind, halten wir es noch aus, denn auch wir wollen frei sein. Außerdem sehen wir unsere Befreiung im Zusammenhang mit der Befreiung unserer Kinder und somit auch der unseres Volkes. Unsere Kinder leisten Widerstand für uns, für unsere Befreiung. Wir besitzen nur unser nacktes Leben, das wir für diesen Weg, für diesen Kampf einsetzen.

Erfahren Sie für Ihr Anliegen aus Europa Unterstützung?
Bis heute haben die Mütter nur wenig Unterstützung aus Europa erhalten. Ich hoffe aber, daß die Menschen, die Mütter aus Europa, die Mütter aus aller Welt, von jetzt an aufmerksamer werden und uns unterstützen. Auch sie sollen mit einer Sitzblockade gegen das Verschwindenlassen der Menschen auf der ganzen Welt und auch gegen das Verschwindenlassen unserer Kinder protestieren. Wir erwarten die Unterstützung aller Mütter und vor allem der aus Europa.

Sie halten sich nun seit mehr als einer Woche in Deutschland auf. Welche Eindrücke haben Sie in dieser kurzen Zeit gewonnen?
Ich habe noch nicht viel von diesem Land gesehen. Erst seit ein paar Tagen gehe ich unter die Menschen. Ich habe den Eindruck, daß die deutsche Bevölkerung desinteressiert ist. Trotz der vielen Grausamkeiten auf der Welt bin ich kaum Menschen begegnet, die sich über diese Ungerechtigkeiten unterhalten, weder auf der Straße noch auf Veranstaltungen konnte ich diese politischen Gespräche beobachten. Deutschland ist ein schönes Land. Aber die Schönheit alleine reicht nicht aus. Die Menschen müssen in Frieden und Freiheit leben können. Wir erwarten natürlich in dieser Hinsicht die Unterstützung der deutschen Bevölkerung. Die Deutschen können meines Erachtens noch aufmerksamer sein. Sie wissen doch, daß auf der Welt schmutzige Kriege geführt werden. Auch in Kurdistan wird ein schmutziger Krieg geführt. Es gibt ca. 500.000 Menschen aus Kurdistan, die nach Deutschland ausgewandert bzw. geflüchtet sind. Wenn mein Nachbar Not und Hunger leidet, wie kann ich so gleichgültig sein. Wir möchten natürlich, daß sie gemeinsam mit uns ihre Stimmen gegen diesen schmutzigen Krieg und die Grausamkeiten erheben. Warum wird dieser Krieg noch immer geführt?

Möchten Sie an dieser Stelle der deutschen Bevölkerung eine Botschaft übermitteln?
Wir erleben als Volk, als Mütter große Schmerzen. Es fließt viel Blut in unserem Land. Unsere Kinder verschwinden, wie es auch in anderen Ländern, z.B. in Argentinien und auf den Philippinen der Fall ist. Mein Aufruf an die europäische Öffentlichkeit kann nur folgender sein: Solange schmutzige Kriege auf der Welt geführt werden, laßt uns Hand in Hand die Regierungen ermahnen und diejenigen Länder warnen, die der Türkei Waffen liefern. Sie sollen diese Mörder nicht unterstützen. Jede militärische Beihilfe an die Türkei wird gegen unser Volk eingesetzt. Wenn wir unsere Angehörigen zur Autopsie bringen, werden aus ihren Körpern Kugeln aus deutscher Herstellung geborgen.
Gerade an so einem bedeutenden Tag wie dem Antikriegstag möchte ich allen Menschen ein Leben in Frieden und Freiheit wünschen. Ich sage Frieden jetzt sofort!

(veröffentlicht im Kurdistan-Report Nr. 82, November/Dezember 1996)