Rede von Frau Nimet Tanrikulu anläßlich der Verleihung der Carl-von Ossietzky-Medaille 1996 durch die Internationale Liga für Menschenrechte (Berlin) an die Samstagsmütter aus der Türkei und Kurdistan am 8.12.1996

Ich bin aus einem sehr nahen, zugleich aber auch sehr weit entfernten Land hierher gekommen. Nah, denn Sie können mein Land in einigen Stunden erreichen. Aber auch sehr weit entfernt, denn dort ist die Ungewißheit darüber, was einem morgen zustoßen kann, alltäglich. Ich habe Ihnen von dort die Grüße einer Gruppe hartnäckiger Menschen mitgebracht, die sich in Istanbul seit anderthalb Jahren für die „Verschwundenen“ einsetzen, Grüße von den „Samstagsmenschen“.
Der Kampf der Samstagsmenschen dauert jetzt anderthalb Jahre; das Phänomen der „Verschwundenen“ ist jedoch nicht neu in der Türkei. Schon 1925 ist der Bruder Mehmet Bozisiks, des ältesten Kommunisten der Türkei, der sich an unseren samstäglichen Sitzaktionen vor dem Istanbuler (Galatasaray-) Gymnasium beteiligt, im Polizeigewahrsam „verschwunden“ und nie wieder aufgetaucht. Ali Kayahan ist am 6. Februar 1973 „verschwunden“. Hüseyin Morsümbül und Nurettin Yedigöl sind nur zwei von vielen, die seit dem Putsch von 1980 unter der Militärdiktatur „verschwanden“.
Das Phänomen der in Polizeigewahrsam “Verschwundenen“ mit seiner so langen Geschichte ist durch die Samstagssitzaktionen endlich auch an die gleichgültige, stumme Öffentlichkeit im Westen der Türkei gelangt. Der mutige Kampf der Angehörigen von Hasan Ocak, der am 21. März 1995 festgenommen wurde und dessen von Folterspuren gezeichneter Leichnam 55 Tage später auf dem Friedhof für Menschen ohne Familie aufgefunden wurde, hat ein Feuer entfacht. Mit der Familie Hasan Ocaks zusammen haben wir, eine Gruppe von MenschenrechtlerInnen, am 27. Mai 1995 auf dem historischen Galatasaray-Platz in Istanbul eine stumme Protestaktion begonnen, die jeden Samstag eine halbe Stunde dauert.
Am häufigsten und auf die grausamste Art „verschwinden“ Menschen in dem Gebiet der Türkei, in dem seit 12 Jahren der Ausnahmezustand, d.h. kriegsähnliche Zustände herrschen. Dort werden Menschen nicht wie im Westen des Landes einzeln oder zu zweit, sondern zu fünft, zu zehnt festgenommen und verschwinden dann im Polizeigewahrsam. Die Leichen von einigen werden nach einer gewissen Zeit in Straßengräben, in stillgelegten Brunnen, in Bächen oder auf Müllhalden gefunden. Vom Schicksal anderer erfährt man monate-, jahrelang kein Sterbenswort, von manchen hört man nie mehr.
Die Geschichten der Verschwundenen ähneln sich. Die Menschen werden – meist im Beisein von Zeugen – von zu Hause, vor ihrer Haustür, von der Straße, vom Dorfplatz, vom Feld abgeholt und weggebracht – in den Großstädten von zivil gekleideten, aber mit Funkgerät und Waffen ausgestatteten, im Ausnahmezustandsgebiet von uniformierten Sicherheitskräften. Die Angehörigen wenden sich daraufhin an die örtlichen Verantwortlichen. Die Antwort, die sie erhalten, ist immer die gleiche: „Er/sie ist nicht bei uns.“ Von manchen der auf diese Weise „Verschwundenen“ erhält man monate- und jahrelang keine Nachricht, von anderen werden nach einigen Wochen oder Monaten nur noch die von Folterspuren gezeichneten Leichen gefunden.
Nach inoffiziellen Zahlen sind in der Türkei seit 1990 insgesamt 827 Menschen im Polizeigewahrsam, in der Untersuchungshaft „verschwunden“. Im Laufe dieser Jahre ist eine enorme Steigerung zu verzeichnen: Waren es in den Jahren von 1990 – 1994 noch 48 Verschwundene, so wurden 1994 328, 1995 298 und in den ersten neun Monaten des Jahres 1996 153 Menschen als „verschwunden“ gemeldet. Der wichtigste Punkt jedoch ist, daß diese Zahlen nur eine ungefähre Vorstellung von dem tatsächlichen Ausmaß geben. Die Dunkelziffer ist sehr hoch, denn Menschen, die einen „Verschwundenen“ melden, müssen mit Grund befürchten, bei einer der folgenden Festnahmeaktionen Opfer derselben Maßnahme zu werden.
Sogar auf eine so demokratische und gewaltlose Protestform, wie wir sie praktizieren, indem wir eine halbe Stunde schweigend am Galatasaray-Platz sitzen und anschließend eine Presse-Erklärung verlesen, wird mit Polizeieinsätzen und -übergriffen reagiert. Vom 8. Juni an wurde ich, und mir mir andere Samstags-Menschen, fünf Wochen lang jeden Samstag von der Polizei mit großer Brutalität festgenommen. Dem zum Trotz haben wir und die Angehörigen der Verschwundenen sowie ihre Unterstützerinnen und Unterstützer versucht, andere Formen zu finden, auf dem Galatasaray-Platz präsent zu sein. So haben wir etwa „en passent“ zum Andenken an die Verschwundenen Nelken niedergelegt. Wir wurden mit unseren Nelken festgenommen. Fünf Wochen lang haben Hunderte von Polizisten samstags mitten im Zentrum von Istanbul, auf dem Taksimplatz und in der Istiklalstraße, mit Maschinengewehren, Schutzschilden, Gummiknüppeln und Hunden Terror verbreitet. Gerade in dieser Phase wurde jedoch zum ersten Mal in den großen Zeitungen und in allen Fernsehprogrammen ausführlich von den Samstagsmenschen berichtet. Von den Medien wurden sie „Samstagsmütter“ genannt. Seither hat auch die gleichgültige Mehrheit der Großstadtbewohner das Phänomen der im Polizeigewahrsam Verschwundenen zur Kenntnis genommen. Verschwundene kamen auf die Titelseiten der Zeitschriften, Lieder wurden für sie komponiert – sie, oder wir, haben es schließlich geschafft, das Problem öffentlich zu machen. Man kann zwar nicht vorhersagen, wie es weitergeht, aber im Moment können wir vor dem Galatasaray-Gymnasium sitzen, ohne daß die Polizei eingreift. Sowohl für die Angehörigen der in Polizeigewahrsam Verschwundenen als auch für die MenschenrechtlerInnen, die sich mit ihnen solidarisieren, bedeuten die Samstags-Aktionen sehr viel. Fatma Morsümbül, die ihren Sohn sucht, der 1980 festgenommen wurde und über dessen Schicksal bis heute nichts bekannt ist, sagt: „16 Jahre lang habe ich in meinen vier Wänden geweint, Selbstgespräche geführt, nach meinem Sohn gerufen. Jetzt geht es mir besser: Ich bin auf die Straße gegangen und kann zu den Menschen sprechen. Ich habe gesehen, daß es auch andere Mütter gibt wie mich, jetzt bin ich nicht mehr alleine.“ Elif Tekin, deren Sohn in der Untersuchungshaft verschwand, erklärt: „Ich habe erst am Galatasaray angefangen zu sprechen. Vorher im Dorf habe ich nie in der Öffentlichkeit geredet, auch nicht auf kurdisch. Jetzt habe ich türkisch gelernt. Jetzt spreche ich überall.“
Zu der Samstagsgruppe gehören auch Menschen, die keine im Polizeigewahrsam verschwundenen Angehörigen haben. Für sie ist ihre allsamstägliche Präsenz am Galatasaray-Platz eine moralische Stellungnahme und zugleich geht es ihnen um die Verteidigung auch ihres Rechts auf Leben. Sie sagen: “Ich schäme mich, in einem Land zu leben, in dem Menschen nach ihrer Festnahme durch die Polizei verschwinden.“ Sie sagen, so lange man sich nicht gegen das Verschwindenlassen wehrt, ist jeder ein wenig in Polizeigewahrsam und jeder ein wenig verloren.
Für die Angehörigen der Verschwundenen und für uns, ihre Unterstützer, hat die Auszeichnung durch die Internationale Liga für Menschenrechte einen sehr hohen Wert. Sie ist ein herzlicher, warmer Gruß Über die Grenzen hinweg, eine Botschaft der Solidarität. Sie hat unserer Stimme Stimme und unserer Kraft Kraft verliehen. Wir glauben auch, daß die Auszeichnung nicht nur den Angehörigen der Verschwundenen und deren Unterstützern verliehen wird, sondern zugleich einer Form des Widerstands gilt, der mit Beharrlichkeit und Entschlossenheit allen Repressalien trotzt und immer wieder nach neuen Wegen sucht, sich zu artikulieren. Diese Auszeichnung bestärkt eine Gruppe von Menschen in ihrem Recht, vor den Augen der ganzen Öffentlichkeit, aus eigener Kraft, unverdrossen und unermüdlich Woche für Woche zur gleichen Zeit und am gleichen Ort das gleiche zu sagen, ohne sich abschrecken zu lassen. Die Auszeichnung wurde einer Gruppe verliehen, die – im Gegensatz zu der stummen, die Menschenrechtsverletzungen hinnehmenden Mehrheit – so geduldig er- und aufklärt, wie ein sehr dünner, heikler Stoff gewebt werden muß. Wir nehmen diese Auszeichnung mit Stolz entgegen und teilen sie mit allen Menschen auf der ganzen Welt, die gegen das Verschwindenlassen von Menschen protestieren.
Zur heutigen Preisverleihung war auch Fatma Morsümbül eingeladen, deren Sohn vor 16 Jahren festgenommen wurde und der seitdem vermißt ist. Sie konnte nicht mit uns kommen. Kräfte, die die Familien der im Krieg getöteten Soldaten gegen die Angehörigen der Verschwundenen auszuspielen versuchen, um damit die Öffentlichkeit gegen die Samstagsmenschen aufzubringen, haben sie besonders in letzter Zeit bei unterschiedlichen Anlässen heftig angegriffen und ihr damit viel Leid zugefügt. In einer Fernsehsendung wurde sie heftig attackiert, beschimpft und beleidigt. Sie hat sich psychisch und physisch nicht stark genug gefühlt, hierher zu kommen. In ihrem Namen und im Namen aller Samstagsmenschen und der MenschenrechtlerInnen, die sie unterstützen, gedenke ich des antifaschistischen Journalisten und Friedenskämpfers Carl von Ossietzky und danke Ihnen allen sehr herzlich.
Ich bin aus einem sehr nahen, zugleich aber auch sehr weit entfernten Land hierher gekommen. Nah, denn Sie können mein Land in einigen Stunden erreichen. Aber auch sehr weit entfernt, denn dort ist die Ungewißheit darüber, was einem morgen zustoßen kann, alltäglich. Ich habe Ihnen von dort die Grüße einer Gruppe hartnäckiger Menschen mitgebracht, die sich in Istanbul seit anderthalb Jahren für die „Verschwundenen“ einsetzen, Grüße von den „Samstagsmenschen“.
Der Kampf der Samstagsmenschen dauert jetzt anderthalb Jahre; das Phänomen der „Verschwundenen“ ist jedoch nicht neu in der Türkei. Schon 1925 ist der Bruder Mehmet Bozisiks, des ältesten Kommunisten der Türkei, der sich an unseren samstäglichen Sitzaktionen vor dem Istanbuler (Galatasaray-) Gymnasium beteiligt, im Polizeigewahrsam „verschwunden“ und nie wieder aufgetaucht. Ali Kayahan ist am 6. Februar 1973 „verschwunden“. Hüseyin Morsümbül und Nurettin Yedigöl sind nur zwei von vielen, die seit dem Putsch von 1980 unter der Militärdiktatur „verschwanden“.
Das Phänomen der in Polizeigewahrsam “Verschwundenen“ mit seiner so langen Geschichte ist durch die Samstagssitzaktionen endlich auch an die gleichgültige, stumme Öffentlichkeit im Westen der Türkei gelangt. Der mutige Kampf der Angehörigen von Hasan Ocak, der am 21. März 1995 festgenommen wurde und dessen von Folterspuren gezeichneter Leichnam 55 Tage später auf dem Friedhof für Menschen ohne Familie aufgefunden wurde, hat ein Feuer entfacht. Mit der Familie Hasan Ocaks zusammen haben wir, eine Gruppe von MenschenrechtlerInnen, am 27. Mai 1995 auf dem historischen Galatasaray-Platz in Istanbul eine stumme Protestaktion begonnen, die jeden Samstag eine halbe Stunde dauert.
Am häufigsten und auf die grausamste Art „verschwinden“ Menschen in dem Gebiet der Türkei, in dem seit 12 Jahren der Ausnahmezustand, d.h. kriegsähnliche Zustände herrschen. Dort werden Menschen nicht wie im Westen des Landes einzeln oder zu zweit, sondern zu fünft, zu zehnt festgenommen und verschwinden dann im Polizeigewahrsam. Die Leichen von einigen werden nach einer gewissen Zeit in Straßengräben, in stillgelegten Brunnen, in Bächen oder auf Müllhalden gefunden. Vom Schicksal anderer erfährt man monate-, jahrelang kein Sterbenswort, von manchen hört man nie mehr.
Die Geschichten der Verschwundenen ähneln sich. Die Menschen werden – meist im Beisein von Zeugen – von zu Hause, vor ihrer Haustür, von der Straße, vom Dorfplatz, vom Feld abgeholt und weggebracht – in den Großstädten von zivil gekleideten, aber mit Funkgerät und Waffen ausgestatteten, im Ausnahmezustandsgebiet von uniformierten Sicherheitskräften. Die Angehörigen wenden sich daraufhin an die örtlichen Verantwortlichen. Die Antwort, die sie erhalten, ist immer die gleiche: „Er/sie ist nicht bei uns.“ Von manchen der auf diese Weise „Verschwundenen“ erhält man monate- und jahrelang keine Nachricht, von anderen werden nach einigen Wochen oder Monaten nur noch die von Folterspuren gezeichneten Leichen gefunden.
Nach inoffiziellen Zahlen sind in der Türkei seit 1990 insgesamt 827 Menschen im Polizeigewahrsam, in der Untersuchungshaft „verschwunden“. Im Laufe dieser Jahre ist eine enorme Steigerung zu verzeichnen: Waren es in den Jahren von 1990 – 1994 noch 48 Verschwundene, so wurden 1994 328, 1995 298 und in den ersten neun Monaten des Jahres 1996 153 Menschen als „verschwunden“ gemeldet. Der wichtigste Punkt jedoch ist, daß diese Zahlen nur eine ungefähre Vorstellung von dem tatsächlichen Ausmaß geben. Die Dunkelziffer ist sehr hoch, denn Menschen, die einen „Verschwundenen“ melden, müssen mit Grund befürchten, bei einer der folgenden Festnahmeaktionen Opfer derselben Maßnahme zu werden.
Sogar auf eine so demokratische und gewaltlose Protestform, wie wir sie praktizieren, indem wir eine halbe Stunde schweigend am Galatasaray-Platz sitzen und anschließend eine Presse-Erklärung verlesen, wird mit Polizeieinsätzen und -übergriffen reagiert. Vom 8. Juni an wurde ich, und mir mir andere Samstags-Menschen, fünf Wochen lang jeden Samstag von der Polizei mit großer Brutalität festgenommen. Dem zum Trotz haben wir und die Angehörigen der Verschwundenen sowie ihre Unterstützerinnen und Unterstützer versucht, andere Formen zu finden, auf dem Galatasaray-Platz präsent zu sein. So haben wir etwa „en passent“ zum Andenken an die Verschwundenen Nelken niedergelegt. Wir wurden mit unseren Nelken festgenommen. Fünf Wochen lang haben Hunderte von Polizisten samstags mitten im Zentrum von Istanbul, auf dem Taksimplatz und in der Istiklalstraße, mit Maschinengewehren, Schutzschilden, Gummiknüppeln und Hunden Terror verbreitet. Gerade in dieser Phase wurde jedoch zum ersten Mal in den großen Zeitungen und in allen Fernsehprogrammen ausführlich von den Samstagsmenschen berichtet. Von den Medien wurden sie „Samstagsmütter“ genannt. Seither hat auch die gleichgültige Mehrheit der Großstadtbewohner das Phänomen der im Polizeigewahrsam Verschwundenen zur Kenntnis genommen. Verschwundene kamen auf die Titelseiten der Zeitschriften, Lieder wurden für sie komponiert – sie, oder wir, haben es schließlich geschafft, das Problem öffentlich zu machen. Man kann zwar nicht vorhersagen, wie es weitergeht, aber im Moment können wir vor dem Galatasaray-Gymnasium sitzen, ohne daß die Polizei eingreift. Sowohl für die Angehörigen der in Polizeigewahrsam Verschwundenen als auch für die MenschenrechtlerInnen, die sich mit ihnen solidarisieren, bedeuten die Samstags-Aktionen sehr viel. Fatma Morsümbül, die ihren Sohn sucht, der 1980 festgenommen wurde und über dessen Schicksal bis heute nichts bekannt ist, sagt: „16 Jahre lang habe ich in meinen vier Wänden geweint, Selbstgespräche geführt, nach meinem Sohn gerufen. Jetzt geht es mir besser: Ich bin auf die Straße gegangen und kann zu den Menschen sprechen. Ich habe gesehen, daß es auch andere Mütter gibt wie mich, jetzt bin ich nicht mehr alleine.“ Elif Tekin, deren Sohn in der Untersuchungshaft verschwand, erklärt: „Ich habe erst am Galatasaray angefangen zu sprechen. Vorher im Dorf habe ich nie in der Öffentlichkeit geredet, auch nicht auf kurdisch. Jetzt habe ich türkisch gelernt. Jetzt spreche ich überall.“
Zu der Samstagsgruppe gehören auch Menschen, die keine im Polizeigewahrsam verschwundenen Angehörigen haben. Für sie ist ihre allsamstägliche Präsenz am Galatasaray-Platz eine moralische Stellungnahme und zugleich geht es ihnen um die Verteidigung auch ihres Rechts auf Leben. Sie sagen: “Ich schäme mich, in einem Land zu leben, in dem Menschen nach ihrer Festnahme durch die Polizei verschwinden.“ Sie sagen, so lange man sich nicht gegen das Verschwindenlassen wehrt, ist jeder ein wenig in Polizeigewahrsam und jeder ein wenig verloren.
Für die Angehörigen der Verschwundenen und für uns, ihre Unterstützer, hat die Auszeichnung durch die Internationale Liga für Menschenrechte einen sehr hohen Wert. Sie ist ein herzlicher, warmer Gruß Über die Grenzen hinweg, eine Botschaft der Solidarität. Sie hat unserer Stimme Stimme und unserer Kraft Kraft verliehen. Wir glauben auch, daß die Auszeichnung nicht nur den Angehörigen der Verschwundenen und deren Unterstützern verliehen wird, sondern zugleich einer Form des Widerstands gilt, der mit Beharrlichkeit und Entschlossenheit allen Repressalien trotzt und immer wieder nach neuen Wegen sucht, sich zu artikulieren. Diese Auszeichnung bestärkt eine Gruppe von Menschen in ihrem Recht, vor den Augen der ganzen Öffentlichkeit, aus eigener Kraft, unverdrossen und unermüdlich Woche für Woche zur gleichen Zeit und am gleichen Ort das gleiche zu sagen, ohne sich abschrecken zu lassen. Die Auszeichnung wurde einer Gruppe verliehen, die – im Gegensatz zu der stummen, die Menschenrechtsverletzungen hinnehmenden Mehrheit – so geduldig er- und aufklärt, wie ein sehr dünner, heikler Stoff gewebt werden muß. Wir nehmen diese Auszeichnung mit Stolz entgegen und teilen sie mit allen Menschen auf der ganzen Welt, die gegen das Verschwindenlassen von Menschen protestieren.
Zur heutigen Preisverleihung war auch Fatma Morsümbül eingeladen, deren Sohn vor 16 Jahren festgenommen wurde und der seitdem vermißt ist. Sie konnte nicht mit uns kommen. Kräfte, die die Familien der im Krieg getöteten Soldaten gegen die Angehörigen der Verschwundenen auszuspielen versuchen, um damit die Öffentlichkeit gegen die Samstagsmenschen aufzubringen, haben sie besonders in letzter Zeit bei unterschiedlichen Anlässen heftig angegriffen und ihr damit viel Leid zugefügt. In einer Fernsehsendung wurde sie heftig attackiert, beschimpft und beleidigt. Sie hat sich psychisch und physisch nicht stark genug gefühlt, hierher zu kommen. In ihrem Namen und im Namen aller Samstagsmenschen und der MenschenrechtlerInnen, die sie unterstützen, gedenke ich des antifaschistischen Journalisten und Friedenskämpfers Carl von Ossietzky und danke Ihnen allen sehr herzlich.
Ich bin aus einem sehr nahen, zugleich aber auch sehr weit entfernten Land hierher gekommen. Nah, denn Sie können mein Land in einigen Stunden erreichen. Aber auch sehr weit entfernt, denn dort ist die Ungewißheit darüber, was einem morgen zustoßen kann, alltäglich. Ich habe Ihnen von dort die Grüße einer Gruppe hartnäckiger Menschen mitgebracht, die sich in Istanbul seit anderthalb Jahren für die „Verschwundenen“ einsetzen, Grüße von den „Samstagsmenschen“.
Der Kampf der Samstagsmenschen dauert jetzt anderthalb Jahre; das Phänomen der „Verschwundenen“ ist jedoch nicht neu in der Türkei. Schon 1925 ist der Bruder Mehmet Bozisiks, des ältesten Kommunisten der Türkei, der sich an unseren samstäglichen Sitzaktionen vor dem Istanbuler (Galatasaray-) Gymnasium beteiligt, im Polizeigewahrsam „verschwunden“ und nie wieder aufgetaucht. Ali Kayahan ist am 6. Februar 1973 „verschwunden“. Hüseyin Morsümbül und Nurettin Yedigöl sind nur zwei von vielen, die seit dem Putsch von 1980 unter der Militärdiktatur „verschwanden“.
Das Phänomen der in Polizeigewahrsam “Verschwundenen“ mit seiner so langen Geschichte ist durch die Samstagssitzaktionen endlich auch an die gleichgültige, stumme Öffentlichkeit im Westen der Türkei gelangt. Der mutige Kampf der Angehörigen von Hasan Ocak, der am 21. März 1995 festgenommen wurde und dessen von Folterspuren gezeichneter Leichnam 55 Tage später auf dem Friedhof für Menschen ohne Familie aufgefunden wurde, hat ein Feuer entfacht. Mit der Familie Hasan Ocaks zusammen haben wir, eine Gruppe von MenschenrechtlerInnen, am 27. Mai 1995 auf dem historischen Galatasaray-Platz in Istanbul eine stumme Protestaktion begonnen, die jeden Samstag eine halbe Stunde dauert.
Am häufigsten und auf die grausamste Art „verschwinden“ Menschen in dem Gebiet der Türkei, in dem seit 12 Jahren der Ausnahmezustand, d.h. kriegsähnliche Zustände herrschen. Dort werden Menschen nicht wie im Westen des Landes einzeln oder zu zweit, sondern zu fünft, zu zehnt festgenommen und verschwinden dann im Polizeigewahrsam. Die Leichen von einigen werden nach einer gewissen Zeit in Straßengräben, in stillgelegten Brunnen, in Bächen oder auf Müllhalden gefunden. Vom Schicksal anderer erfährt man monate-, jahrelang kein Sterbenswort, von manchen hört man nie mehr.
Die Geschichten der Verschwundenen ähneln sich. Die Menschen werden – meist im Beisein von Zeugen – von zu Hause, vor ihrer Haustür, von der Straße, vom Dorfplatz, vom Feld abgeholt und weggebracht – in den Großstädten von zivil gekleideten, aber mit Funkgerät und Waffen ausgestatteten, im Ausnahmezustandsgebiet von uniformierten Sicherheitskräften. Die Angehörigen wenden sich daraufhin an die örtlichen Verantwortlichen. Die Antwort, die sie erhalten, ist immer die gleiche: „Er/sie ist nicht bei uns.“ Von manchen der auf diese Weise „Verschwundenen“ erhält man monate- und jahrelang keine Nachricht, von anderen werden nach einigen Wochen oder Monaten nur noch die von Folterspuren gezeichneten Leichen gefunden.
Nach inoffiziellen Zahlen sind in der Türkei seit 1990 insgesamt 827 Menschen im Polizeigewahrsam, in der Untersuchungshaft „verschwunden“. Im Laufe dieser Jahre ist eine enorme Steigerung zu verzeichnen: Waren es in den Jahren von 1990 – 1994 noch 48 Verschwundene, so wurden 1994 328, 1995 298 und in den ersten neun Monaten des Jahres 1996 153 Menschen als „verschwunden“ gemeldet. Der wichtigste Punkt jedoch ist, daß diese Zahlen nur eine ungefähre Vorstellung von dem tatsächlichen Ausmaß geben. Die Dunkelziffer ist sehr hoch, denn Menschen, die einen „Verschwundenen“ melden, müssen mit Grund befürchten, bei einer der folgenden Festnahmeaktionen Opfer derselben Maßnahme zu werden.
Sogar auf eine so demokratische und gewaltlose Protestform, wie wir sie praktizieren, indem wir eine halbe Stunde schweigend am Galatasaray-Platz sitzen und anschließend eine Presse-Erklärung verlesen, wird mit Polizeieinsätzen und -übergriffen reagiert. Vom 8. Juni an wurde ich, und mir mir andere Samstags-Menschen, fünf Wochen lang jeden Samstag von der Polizei mit großer Brutalität festgenommen. Dem zum Trotz haben wir und die Angehörigen der Verschwundenen sowie ihre Unterstützerinnen und Unterstützer versucht, andere Formen zu finden, auf dem Galatasaray-Platz präsent zu sein. So haben wir etwa „en passent“ zum Andenken an die Verschwundenen Nelken niedergelegt. Wir wurden mit unseren Nelken festgenommen. Fünf Wochen lang haben Hunderte von Polizisten samstags mitten im Zentrum von Istanbul, auf dem Taksimplatz und in der Istiklalstraße, mit Maschinengewehren, Schutzschilden, Gummiknüppeln und Hunden Terror verbreitet. Gerade in dieser Phase wurde jedoch zum ersten Mal in den großen Zeitungen und in allen Fernsehprogrammen ausführlich von den Samstagsmenschen berichtet. Von den Medien wurden sie „Samstagsmütter“ genannt. Seither hat auch die gleichgültige Mehrheit der Großstadtbewohner das Phänomen der im Polizeigewahrsam Verschwundenen zur Kenntnis genommen. Verschwundene kamen auf die Titelseiten der Zeitschriften, Lieder wurden für sie komponiert – sie, oder wir, haben es schließlich geschafft, das Problem öffentlich zu machen. Man kann zwar nicht vorhersagen, wie es weitergeht, aber im Moment können wir vor dem Galatasaray-Gymnasium sitzen, ohne daß die Polizei eingreift. Sowohl für die Angehörigen der in Polizeigewahrsam Verschwundenen als auch für die MenschenrechtlerInnen, die sich mit ihnen solidarisieren, bedeuten die Samstags-Aktionen sehr viel. Fatma Morsümbül, die ihren Sohn sucht, der 1980 festgenommen wurde und über dessen Schicksal bis heute nichts bekannt ist, sagt: „16 Jahre lang habe ich in meinen vier Wänden geweint, Selbstgespräche geführt, nach meinem Sohn gerufen. Jetzt geht es mir besser: Ich bin auf die Straße gegangen und kann zu den Menschen sprechen. Ich habe gesehen, daß es auch andere Mütter gibt wie mich, jetzt bin ich nicht mehr alleine.“ Elif Tekin, deren Sohn in der Untersuchungshaft verschwand, erklärt: „Ich habe erst am Galatasaray angefangen zu sprechen. Vorher im Dorf habe ich nie in der Öffentlichkeit geredet, auch nicht auf kurdisch. Jetzt habe ich türkisch gelernt. Jetzt spreche ich überall.“
Zu der Samstagsgruppe gehören auch Menschen, die keine im Polizeigewahrsam verschwundenen Angehörigen haben. Für sie ist ihre allsamstägliche Präsenz am Galatasaray-Platz eine moralische Stellungnahme und zugleich geht es ihnen um die Verteidigung auch ihres Rechts auf Leben. Sie sagen: “Ich schäme mich, in einem Land zu leben, in dem Menschen nach ihrer Festnahme durch die Polizei verschwinden.“ Sie sagen, so lange man sich nicht gegen das Verschwindenlassen wehrt, ist jeder ein wenig in Polizeigewahrsam und jeder ein wenig verloren.
Für die Angehörigen der Verschwundenen und für uns, ihre Unterstützer, hat die Auszeichnung durch die Internationale Liga für Menschenrechte einen sehr hohen Wert. Sie ist ein herzlicher, warmer Gruß Über die Grenzen hinweg, eine Botschaft der Solidarität. Sie hat unserer Stimme Stimme und unserer Kraft Kraft verliehen. Wir glauben auch, daß die Auszeichnung nicht nur den Angehörigen der Verschwundenen und deren Unterstützern verliehen wird, sondern zugleich einer Form des Widerstands gilt, der mit Beharrlichkeit und Entschlossenheit allen Repressalien trotzt und immer wieder nach neuen Wegen sucht, sich zu artikulieren. Diese Auszeichnung bestärkt eine Gruppe von Menschen in ihrem Recht, vor den Augen der ganzen Öffentlichkeit, aus eigener Kraft, unverdrossen und unermüdlich Woche für Woche zur gleichen Zeit und am gleichen Ort das gleiche zu sagen, ohne sich abschrecken zu lassen. Die Auszeichnung wurde einer Gruppe verliehen, die – im Gegensatz zu der stummen, die Menschenrechtsverletzungen hinnehmenden Mehrheit – so geduldig er- und aufklärt, wie ein sehr dünner, heikler Stoff gewebt werden muß. Wir nehmen diese Auszeichnung mit Stolz entgegen und teilen sie mit allen Menschen auf der ganzen Welt, die gegen das Verschwindenlassen von Menschen protestieren.
Zur heutigen Preisverleihung war auch Fatma Morsümbül eingeladen, deren Sohn vor 16 Jahren festgenommen wurde und der seitdem vermißt ist. Sie konnte nicht mit uns kommen. Kräfte, die die Familien der im Krieg getöteten Soldaten gegen die Angehörigen der Verschwundenen auszuspielen versuchen, um damit die Öffentlichkeit gegen die Samstagsmenschen aufzubringen, haben sie besonders in letzter Zeit bei unterschiedlichen Anlässen heftig angegriffen und ihr damit viel Leid zugefügt. In einer Fernsehsendung wurde sie heftig attackiert, beschimpft und beleidigt. Sie hat sich psychisch und physisch nicht stark genug gefühlt, hierher zu kommen. In ihrem Namen und im Namen aller Samstagsmenschen und der MenschenrechtlerInnen, die sie unterstützen, gedenke ich des antifaschistischen Journalisten und Friedenskämpfers Carl von Ossietzky und danke Ihnen allen sehr herzlich.