Karayılan: Wir haben weiterhin keine Zweifel daran, dass die Türkei in die Morde von Paris verwickelt ist

Murat Karayilan, Vorsitzender des KCK-Exekutivrates, bewertet in einem Interview mit der Nachrichtenagentur Firat (ANF) die neuesten Entwicklungen zu den Untersuchungen der Morde an den drei kurdischen Aktivistinnen am 09. Januar in Paris.

Trotz andauernden Drohungen und Unterstellungen der türkischen Verantwortlichen, es könnte bei den Beerdigungszeremonien der drei ermordeten kurdischen Aktivistinnen zu Provokationen kommen, hat das kurdische Volk eindrucksvoll die drei Frauen auf ihrem letzten Weg begleitet. Wie ist Ihre Sicht hierzu?
Wie Sie schon erwähnten, haben eine Vielzahl von Verantwortlichen des türkischen Staates vor möglichen Provokationen bei den Beerdigungszeremonien gewarnt. Wir haben diese Aussagen als Mittel der psychologischen Kriegsführung bewertet und dabei auch Recht behalten. Die türkischen Sicherheitskräfte haben zudem alle Zufahrtswege in die Stadt [Amed] abgesperrt, um die TeilnehmerInnenzahl an den Zeremonien möglichst gering zu halten. Auch an die MedienvertreterInnen wurde der Befehl herausgegeben, die Zeremonie nicht oben auf ihre Schlagzeilen zu nehmen und keine Liveübertragungen im Fernsehen zu übertragen. Trotz alledem hat die Bevölkerung Kurdistans genauso sehr wie in Paris dem Staat eine passende Antwort gegeben. Auch am Folgetag, als die Leichname in die Heimatstädte der Frauen überbracht worden sind, hat die Bevölkerung von Dersim, Elbistan und Mersin unter Beweis gestellt, wie sehr sie zu ihren Gefallenen und ihren Werten steht. Zusammenfassend kann hier festgehalten werden, dass trotz aller Manipulationsversuche die Bevölkerung Kurdistan sich zu ihren Märtyrerinnen und somit auch zum Freiheitskampf in aller Deutlichkeit bekannt hat.
Nach dem Mordanschlag haben uns aus aller Welt Beileidsbekundungen erreicht. Revolutionäre Organisationen aus Lateinamerika wie die FARC, über Persönlichkeiten und verschiedene Kreise aus Afrika und Asien wie die Tamilen bis hin zu verschiedensten Parteien und zivilgesellschaftlichen Organisationen aus Europa wie die Kommunistische Partei Frankreichs haben uns in Stellungnahmen und Grußbotschaften ihr Beileid bekundet. Selbstverständlich haben uns auch eine Vielzahl von unterstützenden Botschaften von befreundeten und solidarischen Kreisen aus der Türkei und Kurdistan erreicht, einige von ihnen haben auch an den Beerdigungszeremonien teilgenommen. Ich möchte mich zunächst einmal im Namen unserer Bewegung bei allen bedanken, die uns ihr Beileid bekundet und/oder an der Beerdigung teilgenommen haben. Wir messen ihrer Solidarität mit unserem Volk und unserem Kampf großen Wert bei und schöpfen daraus große Kraft.

Wer könnte hinter diesen Morden stecken?
Wir haben die gestrige Pressekonferenz der französischen Staatsanwaltschaft von hier aus verfolgt. Sie haben erklärt, dass von den Festgenommenen die Person Ömer Güney tatverdächtig ist und vor den Haftrichter geführt werden soll. Diese Person soll laut Angaben der Staatsanwaltschaft aus Sivas-Şarkışlalı stammen und seit zwei Jahren PKK-Mitglied sein. Zunächst einmal möchte ich klarstellen, dass diese Ermittlung der Staatsanwaltschaft nicht der Wahrheit entspricht. Diese Person war in keiner Weise PKK-Mitglied oder hat Verbindungen zu ihrer Führung. Unter gegeben Informationen ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass er seit zwei Jahren in das Umfeld der Bewegung eingeschleust worden ist. Unsere Bewegung hat es hier mit einer offensichtlichen Verschwörung zu tun. Einerseits werden drei unserer wertvollsten Kader regelrecht hingerichtet, anderseits soll zusätzlich versucht werden, dem Ganzen das Bild einer PKK-internen-Abrechnung zu geben. Die vorliegenden Informationen lassen solch ein Szenario als wahrscheinlich erscheinen. Dennoch fordern wir weiterhin von der französischen Justiz die Tat und die dahinter steckenden Kräfte vollständig an die Öffentlichkeit zu bringen.
Wir haben bis dato zahlreiche Personen, die vom türkischen Staat in unsere Reihen eingeschleust worden sind, um unsere Führungskader zu ermorden, enttarnt. Man sollte also wissen, dass es nicht das erste Mal wäre, dass die Türkei sich solcher Mittel bedient. Dies sollte im Hinterkopf behalten werden, während die Untersuchungen der französischen Behörden weitergehen. Das wichtigste für uns ist, dass die Hintermänner und die Verbindungen dieser Person offen gemacht werden.
Es gibt zu diesem Thema einige Anhaltspunkte, die eine Betrachtung wert sind. Eine Stunde nach Bekanntwerden der Morde meldet sich der AKP-Sprecher Hüseyin Çelik zu Wort und sprach von einer „internen Abrechnung“. Danach haben der türkische Ministerpräsident und weitere AKP-Verantwortliche dasselbe behauptet. Einige Stunden vor der Erklärung der französischen Staatsanwaltschaft hat dann der stellvertretende AKP-Vorsitzende Mehmet Ali Şahin davon gesprochen, dass ähnliche Fälle sich demnächst auch in Deutschland ereignen könnten. Diese aufeinanderfolgenden Erklärungen stärken den Verdacht, dass diese Kreise etwas wissen und deshalb versuchen Verwirrung zu stiften. Was steckt dahinter, dass seit der ersten Stunde die ganze Zeit nur die Rede von „interner Abrechnung“ ist?
Nach unserer Einschätzung gibt es zwei Möglichkeiten, wer sich hinter dieser Tat verbergen könnte. Zunächst einmal wissen wir, dass die AKP-Regierung seit knapp eineinhalb Jahren unserer Bewegung den vollständigen Krieg erklärt hat. Es ist die Rede von einem „vielschichtigen integrativen Konzept“. Wir wissen auch, dass die Eliminierung von Führungskadern der Bewegung Teil dieses Konzepts ist. Nun sind sie mit diesem Teil des Konzepts in Kurdistan wenig erfolgreich gewesen. Deswegen besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass die aktuelle Regierung im Rahmen ihres „integrativen Konzepts“ für das Massaker in Paris verantwortlich ist. Es kann sein, dass der Befehl für die Tat nicht nach dem Beginn der Gespräche auf Imralı erteilt worden ist. Es ist ohnehin nicht möglich, solch eine Tat binnen eins, zwei Wochen zu planen und umzusetzen. Der Angriff dürfte mindestens ein Jahr an Vorbereitungszeit in Anspruch genommen haben.
Die zweite Möglichkeit besteht darin, dass hinter der Tat eine gemeinsame Aktion der Gladio der NATO und der türkischen Gladio steckt. Die Gladio verfügt immerhin auch über einen Arm in Frankreich. In diesem Fall könnte es auch sein, dass der Tiefe Staat für die Täterschaft verantwortlich ist. In diesem Fall würde die Verantwortung über die AKP hinausgehen. Es könnte aber auch sein, dass die sogenannte „Grüne Gladio“ [Der Teil der türkischen Gladio, der unter der Kontrolle der AKP ist; Anm. d. Übersetzers] hinter der Tat steckt und diese eben im Rahmen der integrativen Strategie der AKP durchgeführt hat. Welche der Möglichkeiten auch zutreffen mag, wir zweifeln nicht daran, dass der türkische Staat da mit drin steckt.
Ich möchte an dieser Stelle noch einmal betonen: Die Gerüchte, dass es sich hierbei um eine PKK-interne-Abrechnung handelt, sind an den Haaren herbeigezogen und sollen ausschließlich für Verwirrung sorgen. Das sind Behauptungen, die vom türkischen Staat immer wieder gestreut werden. Ich will unseren FreundInnen und unserem Volk nochmals mitteilen, dass dies in keiner Weise der Wahrheit entspricht. Dahinter stecken in jedem Falle uns gegenüber feindlich gesinnte Kräfte. Innerhalb der Bewegung gibt es auch keinerlei interne Probleme und keine Fraktionsbildung. Das sind erfundene Szenarien und Teil der staatlichen Antipropaganda gegen unsere Bewegung.

Inwiefern ist es wichtig, dass die Hintergründe der Tat geklärt werden?
Die Aufklärung der Tat ist für die aktuelle Phase von grundlegender Bedeutung. Wir wollen erfahren, ob der Mord tatsächlich in Verbindung mit der propagierten „integrativen Strategie“ steht. Es spricht viel dafür. Denn am 31. Dezember wurden in Pîran (Lice) zehn unserer Freunde bei Gefechten getötet. Unter diesen Freunden befindet sich auch der Genosse Numan (Ertem Karabulut). Er war dort unser Gebietsverantwortlicher. Die Rolle des Gebietsverantwortlichen ist bei uns vergleichbar mit dem Rang eines Generals beim Militär. Das bedeutet, dass er sich durchaus auch auf der Zielscheibe des türkischen Staates der zu eliminierender PKK-Führungskader befunden haben könnte. Wie gesagt, der Freund Numan wird am 31. Dezember ermordet, anschließend geschieht am 9. Januar der Mordanschlag in Paris auf Sakine Cansız und die Genossinnen Leyla und Fidan und dann werden auch noch am 14. Januar die Meder-Verteidigungsgebiete weiträumig bombardiert, mit dem Ziel, die führenden Mitglieder unserer Bewegung zu töten. Wenn wir uns dies alles zusammen vor Augen führen, wird klar, dass wir es eigentlich mit einem klaren Konzept zu tun haben.
Wenn nun aber die AKP doch nicht in Verbindung mit diesem Mord steht, dann sollte sie selbst auch all ihre Möglichkeiten nutzen, um die Tat aufzuklären. Denn aktuell zeigen die Finger auf sie. Die Aufklärung der Tat wird für unsere Bewegung auch dahingehend von Bedeutung sein, in welche Richtung die Phase der Gespräche auf Imralı gehen werden.

Quelle: ANF, 22.01.2013, ISKU

ISKU | Informationsstelle Kurdistan