Aydar: Attentatspläne gegen kurdische AktivistInnen in Europa existieren schon länger

MAXİME AZADİ – Zübeyir Aydar, Mitglied des KCK-Exekutivrates, äußert sich im Interview mit der Nachrichtenagentur Firat (ANF) über Hinrichtungskommandos, die bereits im Jahr 2011 nach Europa geschickt worden seien. Nach Aydar hatten der Iran und die Türkei vor zweieinhalb Jahren erste Pläne für die Entsendung von Hinrichtungskommandos gegen kurdische AktivistInnen in Europa gemacht. Im Jahr 2012 soll solch eine Gruppe aus einem anderen europäischen Land nach Belgien gekommen sein. Bereits vor dem Mord in Paris soll es weitere Anschlagspläne auf kurdische AktivistInnen gegeben haben. Aydar äußerte im Interview auch seine Gedanken darüber, wer hinter den Morden am 09. Januar in Paris gegen Sakine Cansız, Fidan Doğan und Leyla Şaylemes stecken könnte.

Wer könnte hinter den Morden von Paris stecken?
Wir haben uns nach dem Mord an unseren drei Freundinnen intensiv Gedanken gemacht, wer hinter dieser Tat stecken könnte. Wir sind zu dem Schluss gekommen, dass wir uns diese Tat nicht unabhängig vom türkischen Staat und den Feinden der KurdInnen annehmen können. Diejenigen, die uns in der Heimat ermorden, werden mit Gewissheit auch diejenigen sein, die hinter diesem Mord stecken. Die Vollstrecker der Tat können andere sein, aber das Gedankengut dahinter ist mit Sicherheit gleich.

Warum wurde Paris als Ort für den Mord ausgesucht?
Anscheinend haben sie sich in Paris sicherer gefühlt. Die Annäherung der Vorgängerregierung in Frankreich unter Nicolas Sarkozy war nicht positiv. Die KurdInnen wurden kriminalisiert. Genau wie bei den KCK-Verfahren in der Türkei wurden in Frankreich neun Sammelverfahren gegen die KurdInnen aufgenommen, die auch noch weiter andauern. Es gibt gegenwärtig in Frankreich gegen mehr als 200 KurdInnen juristische Ermittlungen. Es gibt seit der Zeit der Jungtürken enge Beziehung zwischen der Türkei und Frankreich. Vielleicht hat dieser Umstand den Tätern eine gewisse Sicherheit gegeben. Aber das bedeutet nicht, dass solche Morde an sonst keinem anderen Ort hätten stattfinden können.
Wir wissen, dass es zwischen dem französischen und dem türkischen Geheimdienst einen starken Informationsaustausch gibt. Wir konnten aus einigen Dokumenten diese Tatsache entnehmen. Aber ich denke nicht, dass die Tat eine direkte Zusammenarbeit beider Geheimdienste darstellt. Man muss da schon tiefer gehen. Aber wir dürfen die Tat auch nicht gänzlich unabhängig von der Zusammenarbeit beider Geheimdienste betrachten.

Spielt das Sicherheitsabkommen zwischen Ankara und Paris, das auch gemeinsame Operationen gegen kurdische AktivistInnen vorsieht, bei der Tat eine Rolle?
In den letzten sechs Jahren, vor der Regierungszeit der aktuellen sozialistischen Partei, haben die Machthaber in Paris keine gute Rolle hinsichtlich der kurdischen Bewegung eingenommen. Wie schon gesagt, es laufen aktuell neun Sammelverfahren. In den Gefängnissen befinden sich politische Gefangene. Das Mitglied des Kurdischen Nationalkongresses (KNK) Adem Uzun wurde durch eine Verschwörung inhaftiert. Der französische Geheimdienst teilt seine Informationen, die er über die kurdischen PolitikerInnen in seinem Land sammelt, mit dem türkischen Geheimdienst. Das alles spielt selbstverständlich auch eine Rolle bei den Morden. Wir fordern von der aktuellen Regierung Frankreichs, dass sie sich von der antikurdischen Politik der Regierung Sarkozy abkehrt. Wir fordern ein Ende der Sammelverfahren, ein Ende der Verfolgung der KurdInnen. Wir fordern auch, dass Frankreich stattdessen eine Position einnimmt, die dabei behilflich ist, dass die Morde an den KurdInnen ein Ende finden. Frankreich sollte alles dafür in Bewegung setzen, dass diese Morde aufgeklärt werden. Und es muss auch wissen, dass die Arme dieses Mordes bis in ihre Strukturen, in ihre Institutionen hineinreichen.

Es gibt Informationen darüber, dass im Jahr 2011 ein Hinrichtungskommando mit dem Auftrag Verantwortliche der kurdischen Bewegung zu ermorden, in Richtung Europa geschickt worden ist. Können Sie uns dazu weitere Einzelheiten benennen?
Vor zweieinhalb Jahren haben wir durch offizielle Kanäle eines europäischen Staates Informationen in dieser Richtung erhalten. Dieselbe Information haben wir dann auch innerhalb des Irans erhalten. Das heißt, von zwei unabhängigen Stellen haben wir dieselbe Information erhalten. Es hieß, dass es drei Ziele gibt. Haci Ehmedi (PJAK-Vorsitzender), Remzi Kartal (Kongra-Gel-Vorsitzender) und ich, Zübeyir Aydar. Wir drei waren also das Ziel dieses Kommandos. Aus unseren Informationen ging hervor, dass die Türkei und der Iran diese Mordaufträge gemeinsam geplant haben.
Wir haben diese Informationen dann der belgischen Polizei mitgeteilt und sie haben entsprechende Sicherheitsvorkehrungen getroffen. Sogar in Deutschland wurden Vorkehrungen getroffen. Dort hatten die deutschen Behörden Haci Ehmedi persönlich gerufen und ihm mitgeteilt, dass einige Vorkehrungen getroffen werden. Zuvor war in Deutschland eine türkische Verbrecherbande gefasst worden. Bei ihnen hatte man auch ein Bild, die Anschrift und die Telefonnummer von Ehmedi gefunden.
Als die Gespräche zwischen der kurdischen Bewegung und der Türkei abgebrochen und die militärischen Auseinandersetzungen wieder zugenommen hatten, das war Ende 2011, haben wir eine Information aus der Türkei erhalten. Die Information stammt aus Kreisen, die enge Verbindungen zur AKP-Regierung pflegten. Sie sagten uns, dass nach Europa einige Hinrichtungskommandos entsandt worden sind und Morde gegen Verantwortliche unserer Bewegung geplant seien. Diese Information wurde an mich persönlich weitergeleitet und wir haben dies erneut an die belgische Polizei weitergeleitet.
Im Jahr 2012 haben wir dann von der belgischen Polizei die Information erhalten, dass sie einen oder mehrere Menschen eines Hinrichtungskommandos festgenommen und ein mögliches Attentat unterbunden hätten. Sie suchten uns in der Mesopotamischen Akademie für Sozialforschung in Charleroi auf und teilten uns das mit. Wen sie festgenommen haben oder wie viele es waren, sagten sie nicht. Die einzige Info, die wir erhielten, war, dass sie von Großbritannien nach Belgien gereist waren, um Attentate an den Verantwortlichen der kurdischen Bewegung durchzuführen.
Seit 2007 versucht die Türkei im Heimatland die Verantwortlichen der kurdischen Bewegung zu ermorden. Es werden gegen jeden einzelnen Verantwortlichen Attentatspläne geschmiedet. Die Attentate sollen durch unbemannte Flugkörper durchgeführt werden. Hierfür fordern sie eigens aus den USA mit Waffen ausgestattete unbemannte Kriegsflugzeuge.
Während sie dort Pläne dieser Art entwickeln, versuchen sie es hier mit Morden wie in Paris. Wir haben die Informationen in diese Richtung stets ernst genommen. Aber die Namen der Freundinnen tauchten in diesen Informationen kaum auf.

Wie ist der Zusammenhang zu den Morden an den drei kurdischen Frauen zu sehen?
Es scheint, dass sie aufgrund der Vorkehrungen mit ihren Plänen gegen uns gescheitert sind und daraufhin sich die drei Frauen zum neuen Ziel auserkoren haben. Es ist kein Zufall, dass die Freundin Sakine ausgewählt worden ist. Das hat eine tiefere Bedeutung. Die Leitung der Bewegung wurde als Ziel ausgewählt. Seit sechs Jahren versuchen sie dies. Und diese Tat steht in direkter Verbindung dazu. Alle Führungsmitglieder der Bewegung stehen im Visier solcher Attentate. All unsere Namen wurden der Interpol übergeben und wir werden alle mit einer roten Notiz gesucht. Deswegen kommt es auch immer wieder zu Festnahmen. Die Freundin Sakine war in Deutschland festgenommen worden, allerdings konnte sie nicht inhaftiert werden und der Auslieferungsantrag der Türkei wurde abgelehnt. Und nun haben sie sie ermordet. Das hängt auch mit der aktuellen Phase zusammen.
In der Türkei wurde der tiefe Staat noch nicht ausgelöscht. Die Gladio oder die Ergenekon, wie sie in der Türkei bezeichnet wird, existiert weiterhin. Ein Flügel des Ergenekons, den sie als nationalistisch bezeichnen, wurde zur Strecke gebracht. Stattdessen hat sich eine grüne Gladio [grün steht in diesem Zusammenhang für islamistisch bzw. der AKP nah, Anm. d. Übersetzers] gebildet. Vielleicht ist es wahr, dass die Regierung in Zeiten von Gesprächen [mit Öcalan] aus dem Attentat keinen direkten Nutzen ziehen kann. Aber wir wissen auch, dass es im Staat Kreise gibt, die keinen Frieden wollen. Vielleicht wurden im Rahmen solcher Pläne auch die Kommandos nach Europa geschickt. Dies muss tiefergehend erforscht werden.

Welche Bedeutung haben die Morde auf die Gespräche in Imralı?
Dass diese Morde in solch einer Phase geschehen, hat eine tiefe Bedeutung. Die Gespräche auf Imralı werden öffentlich, die Hoffnungen auf den Dialog und den Frieden steigen und dann kommt es zu diesen Morden an unseren drei Freundinnen. Diese Morde werden sicherlich die Gespräche negativ beeinflussen. Denn wir wissen, dass durch solche Taten bei allen die Hoffnungen für einen Frieden zerbrechen. Sie wollen mit der Tat sagen: „Wir töten euch dort, wo wir euch erwischen.“ Tayyip Erdoğan hatte eine Erklärung abgegeben, in der er erklärte, „entweder ergebt ihr euch oder wir erwischen euch in euren Höhlen und vernichten euch.“
Aber wir als Bewegung nähern uns dem Dialog und dem Frieden aufrichtig an. Wir werden uns Mühe geben, dass diejenigen, die diese Phase sabotieren wollen, nicht an ihr Ziel gelangen. Sie wollen ein Ende des Dialogs und ein Aufflammen des Kriegs. Wir werden alles dafür tun, damit ihnen dies nicht gelingt. Aber wir haben auch nicht alles in unserer Hand. Wenn jemand versucht uns zu ermorden, werden wir uns auch zu verteidigen wissen. Und das in jeder Hinsicht und mit jedem Mittel. Wir fordern, dass die Täter des Mords schnell ausfindig gemacht und vor Gericht gebracht werden. Dafür werden wir alles tun.

Gibt es Angriffsdrohungen gegen ihre Person?
Die Mörder bewegen sich gegenwärtig frei herum. Und diese Leute wollen sicherlich auch andere Menschen ermorden. Und sie sind auch nicht auf sich allein gestellt. Sie sind organisiert und verfügen über dementsprechende Möglichkeiten. Deshalb sind gegenwärtig alle bekannten FreundInnen unter uns bedroht. Wir versuchen, dementsprechende Sicherheitsvorkehrungen zu treffen.

Bereits in den ersten Stunden nach den Morden, ohne dass jegliche Informationen über die Untersuchungen der Tat bekannt geworden sind, behaupteten türkische Verantwortliche, es handele sich wohl um eine innerparteiliche Abrechnung. Wie bewerten Sie solch eine Erklärung?
Sie wollen die Köpfe der Bevölkerung durcheinander bringen. Das sind würdelose Verleumdungen. Wir weisen diese Behauptungen mit aller Klarheit zurück. In Europa wendet die kurdische Freiheitsbewegung noch nicht einmal gegen ihre Feinde Gewalt an. Eine Gewaltpolitik in Europa wird strikt abgelehnt. Sie macht in Europa lediglich von ihren demokratischen Rechten Gebrauch. Wie könnte sie dann gegen sich selbst, ihre GenossInnen, ihre ArbeiterInnen, ihre FreiheitskämpferInnen solch eine Tat tun? Solche Behauptungen entbehren jeglicher Moral. Diese Tat wurde gegen uns alle verübt. Unsere Feinde stecken dahinter. Neben den Schmerz, den wir alle empfinden, versuchen sie noch die Köpfe unserer Bevölkerung durcheinander zu bringen.

Stimmt die Behauptung, dass Sakine Cansız bei den Oslo-Gesprächen dabei war?
Unsere Freundin Sakine war bei diesen Gesprächen nicht dabei. Sie war seit ihrer Gründung stets mit Führungsfunktionen in der Bewegung beauftragt und hat diese nach bestem Gewissen durchgeführt. Sowohl in der gesamten Bewegung als auch in der Frauenbewegung hatte sie eine führende Rolle inne. Sie galt als Vorbild innerhalb der Bewegung und des Volkes. Vor allem in ihrer Gefängniszeit in Amed (Diyarbakır) hat sie durch ihren großartigen Widerstand von sich Reden gemacht. Sie wurde bewusst als Ziel dieses Attentats ausgesucht. Sie wollen uns die Botschaft übermitteln, dass sie uns von der Wurzel her bekämpfen wollen. Wir bewerten dies auf diese Weise und werden dementsprechend darauf unsere Antwort geben.

Quelle: ANF, 15.01.2013, ISKU

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