Ein Brief aus dem Gefängnis:

Nur die Bevölkerung kann uns am Leben halten

Faysal Sarıyıldız

Der inhaftierte BDP-Abgeordnete Faysal Sarıyıldız, zurzeit im D-Typ Gefängnis von Amed (Diyarbakır) ist seit 33 Tagen im Hungerstreik. In seinem Brief analysiert er den Hungerstreik und appelliert an die Bevölkerung: „Die Unterstützung der Bevölkerung ist das Wasser und das Brot der Gefangenen. Sie werden durch das Volk weiterleben.“

Ja, liebe/r Leser/in, Während du diesen Text liest, könnten – ich kann das Wort Tod nicht über die Lippen bringen –, Mazlum, Dijwar, Mahir oder Tayyip, Fırat, Ferhat aus der Nebenzelle oder eine oder einer der Tausenden, sich im Widerstand befindenden Genossen in den anderen Gefängnissen, die kritische Grenze zurück zu einem normalen, gesunden Leben überschritten haben.

Nur ihr könnt sie am Leben halten
Wir erleben selbst, was es bedeutet, dass sich ein Körper Zelle für Zelle auflöst und Tropfen für Tropfen dahinschmilzt. Sie haben keine Erwartungen an das faschistische System. Wir wissen hinreichend gut die Bedeutung dessen, von der Gerechtigkeit des Systems verlassen zu werden und keine Hilfe erwarten zu können, und wir wollen, dass unsere Bevölkerung sich dessen bewusst verhält. Je stärker sich unsere Bevölkerung für sich und somit auch für uns einsetzt, desto länger leben wir.

Ich habe mich am 34. Tag des am 12. September begonnenen, unbefristeten Hungerstreik der kurdischen, politischen Gefangenen, der zur Lösung des altbekannten Problems zwei grundlegende, legitime Forderungen hat, angeschlossen. Zum jetzigen Zeitpunkt zeigen sich bei den Körpern die Gewichtsverluste, die Hautfarbe nimmt eine strohgelbe Farbe an, die Aorta und die Augäpfel fallen ein, aber nichtdestotrotz ist die Kraft, Moral und das Bewusstsein der Widerständler auf dem Höhepunkt.

Dieses Erlebnis mit den sieben, in derselben Zelle sitzenden Genossen und den später sich ebenfalls an der Aktion anschließenden drei weiteren Genossen, zeigt neben dem Hungerstreik auch sehr gut einen sozialen Querschnitt innerhalb der politischen, kurdischen Bewegung. Es gibt GenossInnen, die sich von den Universitäten, den Dörfern, den Städten der Guerilla angeschlossen haben und später gefangen genommen worden sind. Es gibt auch GenossInnen, die Mitglieder des Zentralkomitees der BDP sind und Mitglieder der Stadträte. Es gibt GenossInnen, die aus Behörden, auf Demonstrationen oder an ihrem Arbeitsplatz festgenommen worden sind. Es gibt aus allen Schichten der kurdischen Gesellschaft Menschen, deren Seele mit derselben Liebe erfüllt sind und die wegen des Faschismus, der Unterdrückung und dem ausbeuterischen System verbittert sind. Kurzum, an den Aktivisten, deren Körper sich zu verkümmern beginnen, spiegelt sich das demokratische, nationale Paradigma.

„Dijwar, Mahir und Dr. Cihan können keine Flüssigkeit mehr aufnehmen“
Mit dem heutigen Tag haben meine Freunde den 63. Tag erreicht, ich selbst bin im 31.Tag des Hungerstreiks. Ich bin also fast so weit, wie sie es damals bei meinem Beginn waren, und sie sind an einem Punkt, an dem bei manchem schon unwiederbringliche Zerstörungen begonnen haben. Die Genossen Dijwar, Mahir und Dr. Cihan können schon keine Flüssigkeit mehr aufnehmen. Dijwar, der bei Beginn der Aktion 74 kg gewogen hatte, wiegt jetzt 59 kg. Ein Genosse, der uns begleitet, nutzt seine natürliche Autorität und zwingt sie Flüssigkeit einzunehmen. Er sagt: „Ein Revolutionär muss sogar auf seinem Weg zum Tod bis zum letzten Schluss sein Bewusstsein und seine Haltung bewahren.“

Der 53 kg wiegende Genosse Dr. Cihan widersetzt sich zwar unerbittlich der biologischen Realität, aber sein Gehör und das Sehvermögen verringern sich von Tag zu Tag. Und einige Genossen werden gegen Geräusche immer überempfindlicher. Als Genosse Cihan, der in den Nachrichten statt „Arbeit“ („çalışma“) „Kampf“ (çatışma“) verstanden hatte, sagte, „Genossen, es hat einen Kampf gegeben“, sagte die Moral- und Motivationsquelle unserer Zelle Genosse Pir Ali: „Der Taube hört nichts, er ratet einfach.“ Darüber lachten die auf den Pritschen liegenden Genossen mit einem leider nicht mehr so kräftigem Gelächter.

Zurzeit sind die Körper aller Genossen im Widerstand, ein Kampf des Bewusstseins, der Tugend und Metaphysik gegen die biologische Realität. Obwohl das Bewusstsein dem eigenen Körper befiehlt, „sich nicht den anderen gegenüber zu blamieren“, gibt es immer öfter Zeiten, da dies nicht mehr erhört wird. Während in der ersten Zeit der Aktion alle Genossen gemeinsam täglich zu einer bestimmten Zeit ihre Runden in der Zelle drehten, nimmt die Zahl der gehfähigen weiter ab. Und diejenigen, die ihre Runden drehen, ziehen sich nach kurzer Zeit wieder zurück und torkeln. Versteht es also so, dass unsere Zelle die ruhigsten Tage erlebt. Genosse Özgür muss bei der Treppe mit 24 Stufen bis nach oben drei Mal unterbrechen, eine Pause machen und sich auf den Stufen hinhocken. Er wartet darauf, dass sein gefallener Blutdruck sich wieder sammelt.

Genosse Mazlum (Tekdal), der mit seinem zweimonatigen, wuscheligen Bartwuchs an den Helden Kawa erinnert, führte von Beginn der Aktion an sein diplomatisches Netzwerk weiter. Leider war er im Zentralkomitee einer Partei, die die wirksamste Opposition gegen das despotische Sultanat des Erdoğan's führte. Auch wenn er zurzeit „das kommt euch nur so vor“ sagt, ist sein Leistungsabfall doch nicht zu übersehen. Er muss zu den Besuchen des Rechtsanwalts mit dem Rollstuhl gefahren werden, weil er nicht mehr allein auf seinen Beinen stehen kann. Aber nur damit sein Charisma nicht darunter leidet, sagt er dann: „Genossen, es kommt nicht gut an, wenn immer nur ich Besuch empfange.“ Ja, ja, alles klar!

Freund Mahir – also der, den das Gericht nach Entschluss des Richters, „da er ja eh beim Hungerstreik stirbt“, zu 16 Jahren Gefängnisstrafe verurteilt hat – mit seinem lang gewachsenem Bart, der papierweißen Haut und seinem ausgedörrtem Körper, sieht es als seine Mission an, sowohl weiter an der Aktion teilzuhaben, als auch diese zu analysieren und nach außen zu tragen. Er erklärt den Beamten, Ärzten, allen die von draußen kommen, lauthals unsere Absichten. Aber auch er tut sich mittlerweile schwer mit dem Sprechen. Er muss während des Sprechens mehrfach schlucken, und sagte das letzte Mal zu dem Arzt der kommt: „Herr Doktor, meine Zeit naht, aber wenn ich mein Bewusstsein verliere, dann greifen sie auf keinen Fall ein.“ Er erinnert sie an die medizinische Ethik, den Eid des Hippokrates, die Ehre, das Gewissen und die Abkommen von Malta.

Ich glaube nicht, dass ein Arzt, der uns aus der Nähe gesehen hat, uns nicht verstanden hat. Die Reaktionen der jungen Beamten des Gesundheitswesens, die in die Region geschickt worden sind, waren nach einigen Gesprächen so, als wenn sie einen neuen Kontinent entdeckt hätten. Wir erleben mit eigenen Augen, wie das Bewusstsein der Hälfte der Menschen, die in diesem Land leben, manipuliert ist. Ihr hättet mal die Traurigkeit sehen müssen, als ein junger Arzt aus dem Westen erfuhr, dass unter uns jemand ist, der in derselben Fakultät wie er zeitgleich sein Studium beendet hatte.

Freund Salih ist der jüngste, der fröhlichste und der schläfrigste von uns. Auch wenn er über seine zu früh ausfallenden Haare jammert, versucht er es sich nicht anmerken zu lassen. Er tut sich mit den provokativen und verantwortungslosen Erklärungen Erdoğans am schwersten von uns. Bei jedem Mal, wenn der Ministerpräsident seinen Mund öffnet, maßt sich Freund Salih eine Antwort an, aber er hat gelernt, dass der Anstand uns das Fluchen verbietet. Weil er jung und voller Selbstvertrauen ist sagt er: „Genossen, ich werde es nicht ertragen können, wenn einer von euch vor mir zusammenbricht.“

Nach und nach verschwinden die Bücher von unseren Bettkanten
Mit der Befürchtung, die Regierung werde die Aktion manipulieren oder einen Angriff vorbereiten, haben wir bis zum 52. Tag den Wunsch der Gefängnisleitung nach Untersuchungen und Messungen abgelehnt. Aber nach dem Besuch der BDP-Delegation, unter denen auch unsere Co-Vorsitzenden waren, haben wir auf deren dringenden Wunsch gestattet, dass unser Blutdruck, Herzschlag und Gewicht von den Ärzten gemessen werden können. Da die Erkenntnis der Wichtigkeit des Hungerstreiks und deren wahre Bedeutung trotz aller Vermittlungen ergebnislos blieb, und die BDP bloß gegen eine chauvinistische und despotische Wand der Regierung sprach, erklärte nun auch sie, dass sie in der aktuellen Lage, in der jederzeit Todesfälle auftreten können, sie nicht stumm bleiben werden. Es schlossen sich sieben ihrer AbgeordnetInnen und ein Bürgermeister draußen dem unbefristeten Hungerstreik an.

Übrigens ist mittlerweile bei allen Genossen eine Trägheit und Begriffsverlust spürbar. Von ihren Bettkanten sind zunächst die theoretischen Bücher und später die Romane verschwunden. Zurzeit können nur noch Zeitungen mit Nachrichten und über die Aktion gelesen werden. Die Fernseher werden nur noch zu den Hauptnachrichtenzeiten angeschaltet.

Dahinschmelzen des Körpers Tropfen um Tropfen ...

Ja, liebe/r Leser/in, während du diesen Text liest, könnten – ich kann das Wort Tod nicht über die Lippen bringen –, Mazlum, Dijwar, Mahir oder Tayyip, Fırat, Ferhat aus der Nebenzelle oder eine oder einer der Tausenden, sich im Widerstand befindenden GenossInnen in den anderen Gefängnissen die kritische Grenze zurück zu einem normalen, gesunden Leben überschritten haben. Wir erleben selbst, was es bedeutet, dass sich ein Körper Zelle für Zelle auflöst und Tropfen für Tropfen dahinschmilzt. Sie haben keine Erwartungen an das faschistische System. Sie wissen hinreichen gut die Bedeutung davon, von der Gerechtigkeit des Systems verlassen zu werden und keine Hilfe erwarten zu können, und sie kennen die widerliche Natur der Regierung und das erst kürzlich durchgeführte Massaker des Staates in den Knästen unter dem Namen „Zurück zum Leben“. Sie wollen, dass unsere Bevölkerung sich dessen bewusst verhält. Je mehr unsere Bevölkerung sich für ihre Aktion einsetzt und auf die Straßen geht, das despotische System in die Ecke drängt, nur dann, nur so können sie uns und sich selbst retten. Unsere Lebensquelle, Wasser und Brot, ist die Unterstützung durch die Bevölkerung. Sich einsetzen heißt, dem despotischen System die Ruhe rauben und zur Veränderung drängen und überall den Widerstand aufrecht halten. Es ist unsere historische, moralische und politische Pflicht, für die Freiheit unseres Volkes und unserer Führung nicht davor zurückzuschrecken, unser Leben zu opfern, auf der Seite der Widerstandskämpfer in den Knästen zu stehen und ihnen beizustehen.

Quelle: Özgür Gündem 15. November 2012, ISKU

ISKU | Informationsstelle Kurdistan