Çiğdem Demirel führte das Interview für die in Europa erscheinende kurdische Tageszeitung Yeni Özgür Politika. Das Interview erschien am 03.11.2012 in der Wochenendausgabe.

Eine Revolution der Völker Syriens

Salih Müslim (61 Jahre) ist Co-Vorsitzender der Partei der Demokratischen Einheit (PYD). Die PYD gilt als größte kurdische Partei in Syrien, die von etwa 75 % der KurdInnen Syriens Unterstützung erhält. Salih Müslim vertritt zudem die PYD im Kurdischen Hohen Rat (KHR), der aus insgesamt zehn VertreterInnen aller kurdischen Parteien und Organisationen Syriens besteht.

In einem ausführlichen Interview sprach die Journalistin Çiğdem Demirel mit Salih Müslim über die Angriffe in Aleppo und Efrin, den Hintergrund der Ermordung der YPG- (Volksverteidigungseinheiten) Kommandantin Nujin Derik, die Aktivitäten gegen die PYD, die Erklärung von US-Außenministerin Clinton, der Unterstützungserklärung der KCK (Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans) und der Schließung der Grenzen zu Südkurdistan (Nordirak).

Was passiert in den kurdischen Vierteln in Aleppo?
Wir hatten schon von Anfang an die Befürchtung, dass Kurden, die von außen kontrolliert und instrumentalisiert werden, Angriffe dieser Art tätigen könnten. Den Angriff auf das Stadtviertel Eşrefiye in Aleppo hat die Selahaddin Eyyubi Brigade, die der Freien Syrischen Armee (FSA) angehört, ausgeübt. Bei dieser Brigade handelt es sich um eine bewaffnete Gruppierung, die von Selahaddin Bedrettin, der selbst Kurde ist, Unterstützung erhält. Bedrettin ist jemand, der von der Türkei Unterstützung erfährt. Diese Brigade hält sich durch die finanzielle Unterstützung und durch Waffenlieferungen der Türkei auf den Beinen. Sie agiert gemeinsam mit der FSA. Wie gesagt. diese Brigade handelt auf Anweisungen von Selahaddin Bedrettin und von Selahaddin Bilal, die von der Türkei gelenkt werden. Hinter den Angriffen auf die KurdInnen in Aleppo stecken diese beiden Personen. Die Angriffe in Aleppo und in Efrin können nicht getrennt voneinander bewertet werden. Die Selahaddin Eyyubi Brigade, operiert gemeinsam mit der turkmenischen Gruppierung Emmar Dadiki, die in Efrin einen Angriff auf ein yezidisches Dorf verübt hat. Der Vorsitzende dieser turkmenischen Gruppierung war vor den Aufständen für den syrischen Geheimdienst tätig. Nun hat er die Seiten gewechselt und kämpft mit Unterstützung der Türkei gegen Assad. Diese Formationen versuchen durch ein gemeinsames agieren die KurdInnen einzukesseln.
Wie bekannt ist, sorgen die Volksverteidigungseinheiten (YPG) für den Schutz der Bevölkerung des Eşrefiye Viertels in Aleppo. Am 25. Oktober griffen Soldaten von Assad die Ostseite des Viertels an. Sie verfolgten Mitglieder der FSA, die auf der Flucht vor den Soldaten in das Viertel eingedrungen waren. Die Kräfte der YPG setzten dagegen und es kam zum Gefecht. Hier kam es auch schon im Vorfeld zur Gefechtssituation zwischen der FSA und den Soldaten von Assad. Jedoch war es, dass erste Mal, dass die Armee von Assad ein kurdisches Viertel unter Beschuss nahm. Bei diesem Angriff verloren 15 ZivilistInnen ihr Leben, neun von ihnen waren KurdInnen. Dann, am 26. Oktober drangen 200 Kämpfer der Selahaddin Eyyubi Brigade, die auch zur FSA gehört, von der Westseite in das Viertel, und verkündeten, dass sie das Viertel befreit und unter ihre Kontrolle gebracht hätten. Dagegen protestierte die dort lebende Bevölkerung mit einer Demonstration. Bei einem Kugelhagel auf die Demonstration kamen 13 Personen, darunter vier Frauen ums Leben. Mehr als 20 Menschen wurden verletzt. Daraufhin griffen die Einheiten der YPG diese Selahaddin Eyyubi Brigade und drängte sie aus dem Viertel. Bei dieser Auseinandersetzung kamen sieben KurdInnen ums Leben. Von den Eindringlingen wurden 19 Personen getötet und viele verletzt.
Nach diesem Vorfall errichtete die Selahaddin Eyyubi Brigade an der Straße von Aleppo nach Efrin einen Kontrollpunkt. Wegen der Erntezeit der Oliven benutzen in dieser Zeit hunderte Menschen die Straße. Bis jetzt wurden mehr als 200 Menschen gewaltsam verschleppt. Die YPG nahm daraufhin sieben Personen der Brigade fest, unter ihnen auch zwei Kurden. Zur selben Zeit wurde in Efrin ein kurdisch-yesidisches Dorf Opfer eines Angriffs. Diese Angriffe sind offensichtlich gegen ZivilistInnen gerichtet. Demgegenüber hat die YPG keinerlei Aktion gegen irgendeinen Zivilisten verübt. Wenn es zu weiteren Angriffen auf die kurdische Zivilbevölkerung kommt, wird die YPG dem seine notwendige Antwort erteilen müssen.

Nujin Derik, eine Kommandantin der YPG wurde ermordet. Was können Sie dazu sagen?
Nujin Derik wurde Opfer eines verräterischen Angriffs. Auf brutale Art und Weise wurde sie ermordet. Einen gefangengenommenen Menschen zu ermorden, hat nichts mehr mit Menschlichkeit zu tun. Vor zwei Monaten wurde in Efrîn das YPG-Mitglied Çekdar Amed entführt, gefoltert und anschließend durch Messerstiche ermordet. Diese grausame Brutalität kann von unserer Seite nicht akzeptiert werden. Das kurdische Volk wird das nicht akzeptieren und den Tätern die notwendige Antwort geben.

Die Freie Syrische Armee (FSA) sagt, dass sie mit den Angriffen nichts zu tun hat. Was sagen Sie dazu?
Innerhalb der FSA gibt es viele verschiedene Gruppierungen und Gestalten. Bei der FSA handelt es sich um keine homogene Einheit, die von einem Zentrum aus gesteuert wird und über Grundprinzipien verfügt. Jeder, in dessen Hand sich eine Waffe befindet, sagt, „Ich kämpfe für die Freie Syrische Armee“. Dies ist eine Realität. Innerhalb der FSA sind einige, denen es um die Belange der Völker von Syrien geht und aufrichtig für die Verteidigung des Volkes kämpfen. Diese Gruppen betrachten die KurdInnen als einen Teil der syrischen Revolution. Allerdings sind dabei auch Gruppierungen vorhanden, die mit der Unterstützung der Türkei gegen die KurdInnen agieren. Diese bewaffneten Organisationen fühlen sich von der Erstarkung der KurdInnen und von der Ausrufung der Autonomie gestört. Sie greifen auf Anweisung der Türkei die KurdInnen an. Für diese Angriffe tragen ganz allein die Selahaddin Eyyubi Brigade und die Emmar Dadiki, die von der Türkei Waffen und Geld bekommen, die Verantwortung. Diese beiden Formationen wirken in dem anti-kurdischen Verbund zusammen.

Wird es Ihrer Meinung nach zu neuen Angriffen gegen KurdInnen kommen? Falls ja, was wird dann passieren?
Wir, als PYD, sind eine politische Partei und führen keinen bewaffneten Kampf. Allerdings wird die YPG bei Angriffen auf KurdInnen, egal von welcher Seite, die Bevölkerung verteidigen. Gegen diese Gruppierungen hat die YPG sämtliche Vorkehrungen getroffen. Die Einheiten der YPG verfügen über die Kraft, die ZivilistInnen in jeder Situation zu schützen. Die von der Türkei gesteuerten Gruppierungen greifen die ZivilistInnen an. Unsere Bevölkerung ist deswegen sehr wütend. Die Situation in Aleppo ist sehr angespannt. Wir halten die Menschen nur schwer unter Kontrolle. Derzeit sind die Sicherheitsvorkehrungen in den Städten erhöht worden. Für die Sicherheit der Bevölkerung werden aktuell von der YPG neue Straßenkontrollen errichtet.

Stimmt es, dass der Kurdische Hohe Rat eine scharfe Erklärung gegen die PYD veröffentlicht hat?
In Kobani und an anderen Orten wurde z. B. 2-, 3-mal Erklärungen dieser Art veröffentlicht. Jedoch wissen wir nicht von wem sie verfasst und veröffentlicht worden sind; unter den Texten sind keine Namen. Diese namenlosen Veröffentlichungen sollen die PYD diffamieren. Erst gestern wieder wurde eine derartige Erklärung veröffentlicht. Der Kurdische Hohe Rat hat dagegen Stellung bezogen, u. a. mit den Unterschriften von Muhiddin Şehvali und Nusreddin Ibrahimi, die ebenfalls dem Rat angehören.

Der Kurdische Hohe Rat hat eine außerordentliche Sitzung abgehalten und den Kurdischen Nationalrat von Syrien (ENKS) zur Einhaltung der Einheit gemahnt. Gibt es dazu weitere Entwicklungen? Konnten Übereinkünfte erzielt werden?
Die Warnungen waren gegen die Partei Azadi gerichtet. Die Azadi Partei ist dem Kurdischen Nationalrat von Syrien untergeordnet. Fünf Personen des ENKS sind im Kurdischen Hohen Rat vertreten. Die Haltung der Azadi Partei muss aufgeklärt werden. Es gibt zwei Azadi Parteien. Eine untersteht Mustafa Cuma, die andere wird von Mustafa Osu geleitet. Die zu Mustafa Cuma gehörende Azadi Partei ist für das schmutzige Verhalten verantwortlich. Sie verfügen über keine Kraft und sind eher als eine Partei, die sich auf dem Papier befindet, zu definieren. Durch die Angriffe gegen die PYD versuchen sie ihre Lebenszeit zu verlängern. Der ENKS wurde auf der außerordentlichen Sitzung ermahnt, damit die Azadi Partei von dieser Haltung ablässt.

Es wird behauptet, dass die PYD sich nicht an das Hewlêr-Abkommen halten würde. Was sagen Sie dazu?
Von Anfang an haben wir erklärt, dass wir an die Entscheidungen des Rates gebunden sind und danach handeln werden. Jedoch wird versucht, die Öffentlichkeit zu täuschen. Die PYD soll weiter diffamiert werden. Von Zeit zu Zeit entstehen aufgrund der Aktivitäten der Azadi Partei gegen die PYD Differenzen. Jedoch werden diese Probleme auf den Zusammenkünften des Rates gelöst. Für die Lösung von Problemen betrachten wir den Rat als Ansprechpartner. Bis jetzt haben wir uns an die Entscheidungen des Rats gehalten und werden dies auch weiterhin tun. In keiner Angelegenheit treffen wir alleinige Entscheidungen. Durch diese Propaganda soll die PYD zum Angriffsziel erklärt werden. Allerdings haben die Anschuldigungen nichts mit der Realität zu tun.

Die Außenministerin der USA, Hillary Clinton, hat die Auflösung des Syrischen Nationalrats gefordert. Der SNR gab bekannt, seinen Sitz nach Damaskus zu verlegen. Wie bewerten Sie diese Entwicklungen?
Der Syrische Nationalrat, der von Anfang an offiziell von der Türkei unterstützt wurde – die KurdInnen und die PYD ausschloss –, sollte von der USA zum Revolutionsführer gemacht werden. Allerdings konnte der SNR nicht die erhofften Erwartungen erfüllen. Weil selbst die FSA äußert, dass der SNR sie nicht repräsentiert. Es herrscht eine starke Ablehnung gegen den SNR. Der SNR repräsentiert nicht das syrische Volk und die wahren oppositionellen Kräfte. Das bedingt es, dass eine Veränderung dringend vollzogen werden muss. Dies hat mittlerweile auch die USA erkannt und die Auflösung des SNR gefordert. Auf der Konferenz nächste Woche in Katar wird der SNR mit großer Wahrscheinlichkeit aufgelöst und die USA wird an die Stelle von Abdulbasit Seyda ein neues Oberhaupt herantragen. Ich hoffe, dass sich dieses Mal eine Organisation entwickelt, die die Völker von Syrien repräsentiert und aus den wahren Vertretern des Kampfes für die Freiheit besteht.

Die KCK (Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans) erklärte, dass sie, falls es notwendig erscheint, Westkurdistan auch militärische Unterstützung geben könnte. Wie verstehen Sie diese Erklärung?
Die Erklärung der KCK hat uns moralisch Kraft gegeben. Ebenfalls hat die Bevölkerung diese Unterstützung mit Freude aufgenommen. Wir erwarten auch von den anderen kurdischen Organisationen eine derartige Erklärung. Denn der Freiheitskampf in Westkurdistan hat die Kraft, die sich auf alle Teile Kurdistans auswirkt. Hierbei handelt es sich um einen großen Schritt auf dem Weg zur Freiheit der KurdInnen, zur Freiheit aller KurdInnen.

Zum Schluss des Interviews möchte ich Sie fragen, wie Ihre Beziehung zu der Regierung in Südkurdistan aussieht? Stimmt es, dass die Grenzen zwischen den Ländern geschlossen worden sind?
Das stimmt, die Grenzen sind geschlossen. Wer die Grenze überschreiten will, ist mit vielen Schwierigkeiten konfrontiert. Aber um ehrlich zu sein, wir wissen nicht, ob die Entscheidung, die Grenze zu schließen, von der Zentralregierung gefällt worden ist. Falls die Grenze seitens der Zentralregierung geschossen worden sein sollte, dann widersprechen sich die Aussagen von Mesud Barzani (Präsident der Autonomen Region Kurdistan/ Nordirak), der erklärte, uns sämtliche Unterstützung zu geben und sie unseren Kampf unterstützen werden. In Syrien herrscht Bürgerkrieg. Es bestehen große Schwierigkeiten Nahrungsmittel, Medikamente und Sachen, um die Grundbedürfnisse der Menschen zu befriedigen, aufzubringen. Die einzige Möglichkeit der KurdInnen Luft zu schnappen, sind die Türen zu Südkurdistan (Nordirak). Es ist von lebenswichtiger Bedeutung, dass die Grenzen wieder geöffnet werden.

Quelle: YÖP, 03.12.2012, Übersetzungskollektiv

ISKU | Informationsstelle Kurdistan