Pınar Selek: Stoppt dieses Grauen...

In meinen letzten Kolumnen habe ich von der Hoffnungslosigkeit geschrieben. Ich wusste, dass ich damit nicht allein bin. In den letzten Tagen ist in der Türkei ein Schrei der Hoffnungslosigkeit laut geworden. Die Kurden sind auf den Straßen. In Diyarbakir und anderen kurdischen Provinzen findet ein Aufstand statt. Ein Aufstand gegen die Hoffnungslosigkeit. Ein Aufstand gegen die Sinnlosigkeit. Ein gleitender Übergang vom Leben in den Tod. Und die Furchtlosigkeit vor dem Tod.

Die Hoffnungslosigkeit stoppt das Denken. Hoffnungslosigkeit macht wütend. Hoffnungslosigkeit führt zu einer Entfernung vom Leben. Hoffnungslosigkeit erfüllt die Menschen mit Schmerz. Hoffnungslosigkeit steigert die Reizbarkeit.

Hoffnungslosigkeit hat sich in meinem Land breit gemacht. Ein Ausweg ist nicht zu erkennen. Der Druck wurde monatelang gesteigert. Und die Menschen sind explodiert…

Im Vorfeld von Newroz kündigten die Unglücksboten lautstark ein Blutvergießen an. Wir alle erinnern uns an letztes Jahr, als Newroz über eine Provokation terrorisiert wurde, und an die schmutzige Operation, die in Semdinli offen zutage getreten ist. Dieses Jahr hieß es aus Kreisen, die sich von den demokratischen Aktivitäten der Menschen gestört fühlen: „Es werden Provokationen stattfinden, Menschen werden sterben, es wird zu gewalttätigen Auseinandersetzungen kommen und der Staat wird dazu Stellung beziehen.“ Damit war klar, dass eine Provokation stattfinden wird, die Semdinli und die jüngsten Aufrufe zu Frieden in den Schatten stellt. Das Angriffsziel und die angeblichen Täter wurden der Öffentlichkeit bereits im Vorfeld präsentiert.

Aber diese Erwartungen wurden nicht erfüllt. Die Menschen gingen trotz der Warnung vor Provokationen auf die Straße und brachten ihre demokratischen Forderungen trotz der auf sie gerichteten Waffen zur Sprache. Dieses Newroz verlief nicht blutig. Im Gegenteil waren die Feiern von großer Beteiligung, Begeisterung und Farbenvielfalt geprägt. Die Kurden signalisierten ein weiteres Mal ihren Wunsch nach Frieden und brachten konkret ihre Forderungen hervor. Provokationen fanden nicht statt. Dem Militarismus wurde kein Platz eingeräumt. Frieden prägte das Bild des diesjährigen Newroz. Und die demokratischen Forderungen der Kurden.

Sollte der Militarismus angesichts dieser Erfolglosigkeit keine Revanche fordern?

Doch.

Direkt im Anschluss an Newroz wurden 14 Guerillakämpfer mit chemischen Waffen getötet. Bereits vorher war klar, welche Entrüstung damit in der Bevölkerung ausgelöst wird. Das Ziel dabei war, einen Aufstand auszulösen, eine militärische Lösung ins Spiel zu bringen und den Krieg zu totalisieren. Die Kurden wurden ganz bewusst zum Aufstand angestachelt.

Wie bei den Aufständen der Vergangenheit wurden die Menschen vor die Alternative gestellt, zu rebellieren oder ausgelöscht zu werden, um dann Aufstand und Vernichtung nacheinander zu vollziehen.

Gegen die Serhildans, die an vielen Orten einsetzten, wurden Waffen eingesetzt. Nacheinander kamen immer neue Todesmeldungen. Gepanzerte Einheiten wurden in die Stadtzentren verlegt, die Straßen mit Panzern besetzt. Gegen die kleinste Bewegung finden bewaffnete Interventionen von Armee und Polizei statt.

Die Erwartungen wurden erfüllt. Die Revanche eines friedlichen Newrozfestes hat stattgefunden. Die Kräfte, die nicht gegen den Terror, sondern gegen die Entwicklung kurdischer Politik kämpfen, ließen Blut fließen, um alle politischen Alternativen ausscheiden zu lassen.

Die Alternative, die kurdische Frage auf politischem Wege zu lösen, wurde damit unmöglich gemacht. Für eine Lösung wurde nicht das Geringste unternommen. Selbst absolut menschliche Forderungen blieben unbeachtet. Alle demokratischen Kanäle wurden verschlossen. Kurz gesagt, wurde die Hoffnungslosigkeit angefacht. Die Dosis der Gewalt wurde erhöht. Dass damit die gesellschaftliche Anspannung gesteigert wird, war allen bewusst. Die Politik schweigt, die Waffen sprechen. Und das war es, was der Militarismus wollte.

Alles läuft wie geplant. Eine Lösung wird unmöglich gemacht. Und die ohnehin kümmerlichen Demokratie-Kräfte stützen diese Politik der Nicht-Lösung noch, indem sie gar nichts unternehmen und schweigen. Oder indem sie bloß reden.

Abdullah Duran, ein neunjähriger Grundschüler, wurde von der Polizei erschossen, als er von der Terrasse seiner Wohnung die Vorfälle beobachtete. Seine Familie appelliert: „Stoppt dieses Grauen!“. Wer kann es stoppen?

Diejenigen, die Waffen in ihren Händen halten? Wer? Die DTP hatte angekündigt, die Initiative für den Frieden zu ergreifen. Aber auch sie begnügt sich damit, Aufrufe zu machen.

Um dieses Grauen zu stoppen, müssen die Demokratie-Kräfte aktiv werden. Dieser Verlauf muss gestoppt werden. Das ist die einzige Medizin gegen unsere Hoffnungslosigkeit.

Ansonsten wird die Hoffnungslosigkeit noch größer werden.

Es ist offensichtlich: Auf uns kommen noch schlechtere Zeiten zu.

Quelle: Gündem, 31.03.2006, ISKU