Pinar Selek: Trotz allem Soziologie

Trotz allem passieren auch gute Dinge. Während sich Millionen Menschen visuell, physisch und seelisch im „Tal der Wölfe“ grämen, werden anderswo schmale Pfade geebnet. Diese Woche konnte ich miterleben, wie ein weiterer Pfad entstand. Ich spreche von den Soziologie-Tagen an der Technischen Universität Mittlerer Osten (ODTÜ) in Ankara.

Die Soziologie-Kongresse, die seit Jahren Studierende in der Türkei zusammen bringen, waren auch in meiner Studienzeit schon Treffen, an denen ich mit großer Aufregung teilnahm. Einige Diskussionen auf diesen Versammlungen, die das Wissen verschiedener Universitäten vereinigten, sind mir immer noch im Gedächtnis. Die im Fachbereich Soziologie Studierenden an der ODTÜ haben einen weiteren Schritt gesetzt und damit begonnen, an ihrer Universität Soziologie-Tage zu organisieren, um mit Diskussionen den alljährlichen Soziologie-Kongress vorzubereiten. Dabei soll jede Universität selbst die gewünschten Themen festlegen.

Das Thema auf den in diesem Jahr zum zweiten Mal stattfindenden Soziologie-Tagen lautete „Formen des Nationalismus“. Genau: In einem Land, in dem Krieg, nationalistische und militaristische Politik Grauen auslösen, hat die Soziologie-Community an der ODTÜ Menschen wie Tanil Bora und Baskin Oran, die Fachleute zum Thema Nationalismus sind, zusammen gebracht und somit eine fundierte Diskussion ermöglicht.

Während ich die Diskussionen verfolgte, sagte ich mir: „Ja, das ist Soziologie. Sie bringt die Menschen dazu, gefährliche Dinge zu denken und Heiligtümer zu hinterfragen. Sie berührt gesellschaftliche Wunden und sie berührt das Feuer…“. Im Zeitraffer sah ich dabei die bittere Geschichte der Soziologie in der Türkei vorbeilaufen. Sabiha Sertel... Behice Boran... İsmail Beşikçi...

Die Narbe, die das Messer vor einem halben Jahrhundert zurück gelassen hat, ist immer noch sichtbar. Vor 55 Jahren schaffte der Staat den Lehrstuhl für Soziologie ab, weil er zu einem Fokus der Gefahr geworden war. Das lief so ab: Am 10. Februar 1950 wurden mehrere DozentInnen, darunter Behice Boran, Niyazi Berkes und Pertev Nail Boratav wegen „Propaganda für den Kommunismus“ von der Universität ausgeschlossen. Den Anschuldigungen fehlte jegliche Grundlage. Deshalb bekamen sie vor Gericht Recht. Aber die Anklage blieb haften und der Lehrstuhl für Soziologie wurde vom Ministerium abgeschafft. Der Lehrstuhl für Soziologie in Ankara hatte eine Vorreiterrolle in soziologischer Forschung in der Türkei. Dort entstanden klassische Werke, die in Vorlesungen auch nach fünfzig Jahren noch verwendet werden. Dieser Lehrstuhl wurde beseitigt. So fing das Abenteuer Soziologie in der Türkei an. Dieselbe Mentalität führte das Land in eine Zeit voller Gewalt, verursachte großes Leid und war der Grund dafür, dass sich hier die Geschichte ständig wiederholt. Die Suche nach Lösungen für gesellschaftliche Probleme mit objektivem Blickwinkel wurde nicht gestattet. Und deshalb sagten die Generäle: „Dieses Land braucht keine Soziologie…“.

Ich habe den Fachbereich Soziologie bewusst gewählt. Ich wollte Antworten auf die Fragen in meinem Kopf finden. Ich suchte nach Freiheit, ich wollte mein eigenes Leben leben. Nicht zu vergessen ist auch der Einfluss, den Behice Borans Schilderungen auf mich als Kind ausübten.

Auf was für eine Reise ich mich da eingelassen hatte, merkte ich, je mehr Wegstrecke ich zurücklegte. Meine Lehrerin Schwester Monique, die zugleich Forscherin und Nonne war, sagte mir in der letzten Klasse des Gymnasiums etwas, das ich erst viel später begriff. Als ich ihr sagte, dass ich Soziologin werden will, schaute sie mich über ihre Brillenränder hinweg an und erwiderte: „Das ist sehr gefährlich. In der Türkei ist das sehr gefährlich. Für Menschen wie Dich ist das sehr gefährlich. So wie Astronaut oder Taucherin. Verstehst Du?“

Ein Arzt, der kein Blut sehen kann und sich vor Wunden ekelt, ist undenkbar. Analyse und Lösung gesellschaftlicher Verletzungen ist Aufgabe von Soziologen. Aber diese Arbeit ist noch gefährlicher als der Arztberuf. Denn die Soziologin ist Teil dieser Wunde und die Probleme sind gleichzeitig Themen politischer Konflikte. Wenn ein Soziologe Heiligtümer, nicht diskutierbare Prinzipien und sensible Punkte hinterfragt, gerät er in Konfrontation mit der Macht.

Die Themen der Soziologie sind gefährlich. Die aufgeworfenen Fragen sind gefährlich. Alles, was heilig oder verdammt ist, wird als ein Phänomen untersucht. Deshalb steht die Soziologie im Allgemeinen im Widerspruch mit der herrschenden Politik. Es kann sogar zu ernsten Konflikten kommen…

Über diese Dinge habe ich auf dem Plenum nachgedacht. In diesem großen Gefängnis, das das Denken stoppt, das Hinterfragen bestraft und das Fragen verbietet, habe ich mich an der ODTÜ als eine Soziologin, die die Lust am Abenteuer Soziologie noch nicht verloren hat und immer noch Tunnel gräbt, wie vermehrt gefühlt.

Ich habe mich gut gefühlt.

pinarselek@gmail.com

Quelle: Gündem, 24.02.2006, ISKU

Übersetzung aus dem Türkischen
ISKU | Informationsstelle Kurdistan