Reinheit und Aufrichtigkeit

Kolumne zu Pinar Selek

Von Yıldırım Türker

Mit Pinar Selek habe ich mich vor fünf Jahren getroffen, als sie aus dem Gefängnis entlassen wurde.
Damals war sie 29 Jahre alt. Als angebliche Bombenattentäterin hatte sie gerade zweieinhalb Jahre ihres Lebens im Gefängnis Umraniye [Istanbul] verbracht und war nach der blutigen Gefängnisoperation am 19. Dezember 2000 aus der Haft entlassen worden. Sie hatte viel gesehen und viele Verletzungen davon getragen. Aber sie schwor nach wie vor darauf, sie selbst zu sein und den Kampf dafür weiter zu führen. Ich erinnere mich, dass wir uns an einem sonnigen Vormittag wie zwei Geheimagenten getroffen haben. Sie hatte Journalisten und andere Neugierige abgeschüttelt und war zum Treffpunkt gekommen. Wir suchten uns ein Versteck und redeten lange. Am meisten verwunderte mich, dass sie keine Spur von Verbitterung zeigte. Sie hatte nichts verloren von ihrer Begeisterung und ihrer Lebenslust. Ihre Aufrichtigkeit und Herzlichkeit hatten nichts abbekommen in dieser Zeit. Gebannt von der Liebenswürdigkeit dieses jungen Menschen fängt man an, zunächst an ihr und dann an sich selbst zu zweifeln. Ziel meines Treffens mit ihr war es, ihre Erlebnisse aus ihrem eigenen Mund zu hören und anstatt der veröffentlichten „bunten“ Kommentare in den Zeitungen ihr Abenteuer so zu schildern, wie es sich abgespielt hatte. Ich führte ein Interview mit ihr. Die übereifrigen Journalisten großer Zeitungen hatten ihr sei ihrer Haftentlassung übel mitgespielt. Sie hielt sich die Journalisten fern, die während unseres Gesprächs anriefen und beharrlich Aufnahmen von ihr forderten, indem sie versuchte, sie zu überzeugen, ohne sie zu kränken. Wenn man bedenkt, dass ihre Gegenüber stets die Aufnahme einer Pose wollten, in der sie als Parodie auf das Todesfasten isst oder in Anspielung auf die bewusste Explosion im Misir-Basar einkauft, ist es aus meiner Sicht geradezu ein Wunder, dass sie diese Telefonate ohne Beschimpfungen beenden konnte. Ich wurde wütend, aber sie lachte nur. Unser Gespräch an jenem Tag dauerte Stunden. Während sie über sich selbst erzählte, bemühte sich Pinar verlegen, die eigene Person unsichtbar zu machen und flüchtete nicht einen Moment lang in eine Opferhaltung. Eine Schilderung der erlittenen Folter nach ihrer Festnahme lehnte sie als „unpassend“ ab. Sie neigte nicht zu Heldentum und stellte sich nicht in den Vordergrund.

Ich gab die Idee auf, das Interview zu veröffentlichen. Wie hätte ich das, was mir diese junge, offenherzliche, empathiefähige Soziologin an jenem Tag erzählte, wieder geben können? Jeder schrieb eine eigene Geschichte über sie. Ich fühlte, dass ich automatisch in den gleichen Fehler verfallen würde. Es wäre Unrecht, sie in ein paar Worte einzuketten. Jetzt, während eine lebenslange Haftstrafe für sie gefordert wird, habe ich genug Material zur Hand, um über Pinar zu schreiben.

Im Dezember 2000 hat Pinar sich im Gefängnis in Umraniye hingesetzt und das Vorwort für ihr 600-seitiges Buch „Wir haben keinen Frieden geschlossen“ geschrieben, das uns nahezu eine neue Sprache, eine neue Haut vorschlägt:

„… In meiner Kindheit machte ich die Bekanntschaft mit den Friedensaktivisten, die als ‚Vaterlandsverräter’ bezeichnet wurden. Es waren die dunklen Jahre, die vom [Militärputsch am] 12. September 1980 gezeichnet waren. Alles machte einen so hässlichen Eindruck auf mich, dass das Gefängnistor, durch das wir jede Woche nach mehrstündigen Militärkontrollen schritten, wie ein Ort der Andacht erschien. Die Gelegenheit, lange mit den Menschen hinter den Gitterstäben zu sprechen, hatte ich nie. Es reichte mir, sie nur zu sehen und ihr Lächeln für immer in meinem Herzen aufzubewahren. Den Rest erledigte meine Vorstellungskraft.

Ich wusste, dass sie im so genannten ‚Friedensprozess’ angeklagt waren. Das Wort Frieden passte zu meinen Träumen, die aufgrund der Märchen, die mir erzählt wurden, kunterbunt geworden waren. Es war magisch. Und die Friedensaktivisten waren meine Märchenhelden. Ich fühlte, dass die bewaffneten Ungeheuer, die sie gefangen hielten, sich vor ihnen fürchteten. Ich dachte, dass das Leben nicht wie vorher weiter gehen würde, wenn die Friedensaktivisten aus dem Kerker kommen würden, denn ich hielt ihre Gefangenschaft für den Grund aller Schlechtigkeit auf dieser Welt. Immer, wenn ich etwas Schlimmes erlebte, dachte ich mit zusammen gepressten Lippen: ‚Ihr werdet es noch sehen, sie werden frei kommen und dann wird sich alles ändern…’. Es vergingen Jahre. Die Friedensaktivisten wurden frei gelassen, ohne dass ich, die ich auf sie wartete und langsam meine Kindheit zurückließ, davon wusste. Ich wartete darauf, dass sie jetzt alle zusammen kommen würden. Aber es geschah nichts. Jeder kehrte an die eigene Arbeit zurück. Vielleicht ist das eine Taktik, sagte ich mir. Aber so war es nicht. Damit hatte ich die erste Lektion der Niederlage in meinem Leben erhalten. Mit der Niederlage des Friedens.

Jahrelang assoziierte ich das Wort Frieden mit Niederlage. Deshalb habe ich es in meinen ersten Jugendjahren vorgezogen, dem Frieden fern zu bleiben. Dann verließ ich eines Tages Istanbul. Als ich mit meinem verwöhnten Kopf gegen die durch Schmerz zu Stein gewordene Realität meines Landes stieß, zerbrach ich. Ich lernte den Krieg kennen. Ich lernte mein Land kennen. Ich lernte den Tod kennen. Und dann die Schmerzensschreie, die Klagen, den nie endenden Kummer, der sich in meine Knochen und das Mark einfraß. Es war, als sei ich in einen Alptraum geraten. Ich wurde zu einem von Millionen unschuldigen Menschen, die von viel schrecklicheren Kreaturen als den Ungeheuern meiner Kindheit eingekreist waren. Vor meinen Augen wurden Dörfer, Felder, Tiere und Menschen verbrannt. Ich sah, wie die Haut von jungen Körpern abgezogen und ihre Ohren abgetrennt wurden. Die Schreie der vergewaltigten Mädchen hallen immer noch in meinen Ohren. Ein Leid folgte auf das andere.

Genau in dem Moment, in dem ich mir sagte, ich kann das nicht aushalten, lernte ich noch schlimmeres kennen. Der Geruch der Gewalt, die Farbe des Mannes. Die Stimme des Krieges… Mein Genick wurde gebrochen, meine Lungen durchbohrt, mein Herz durchlöchert, meine Finger- und Fußnägel gezogen. Ich wurde am Haken aufgehängt, ich weinte, ich weinte nicht… Meine Mutter starb, mein Kind wurde ermordet, mein Vater… Ich starb, ich wurde getötet… Das Leben starb.

… Je mehr ich erfuhr, desto schwerer wurde die Last auf meiner Schulter. Der Versuch, Wurzeln zu schlagen, wenn ein Erdbeben dem anderen folgt; der Wunsch, zur Platane zu werden und den Himmel zu umarmen; der Entschluss, genau das genau hier, im Gefängnis, zu tun, gegen den Beton… Mir schaudert, und ich sage mir, wahrscheinlich ist das so, wenn man fühlt, dass man lebt. Ich frage weiter, um weiter leben zu können.

In was für einer Zeit haben sie sich auf den Weg gemacht? Was wollten sie erreichen? Wo haben sie Fehler gemacht? Ohne Antworten auf diese Fragen können wir nicht die Zukunft begründen.

Vom Fenster des Friedens aus bin ich ins Meer hinaus geschwommen. Im Gefängnis.
Die Piraten haben mir etliche Male den Weg abgeschnitten, aber ich konnte sie jedes Mal wieder abschütteln, bis ich hier zu euch kam…“

Und warum?

Pinars Prozess geht weiter. Hinter der ewigen Verschleppung des Verfahrens steckt die Tatsache, dass Pinar den Weg nicht aufgibt, den sie sich vorgenommen hat.
In ihrem Buch „Wir haben keinen Frieden geschlossen“ ist eine Epigraphie eines Gandhi-Zitates: „Im friedlichen Kampf reicht der kleinste Zweifel für Erfolglosigkeit. Der Weg zum dauernden Erfolg lautet Reinheit und Aufrichtigkeit.“
In ihren eigenen Worten fährt sie fort: „Kriegsgegnerschaft kann als Haltung gegen den Krieg verstanden werden. Ausschlaggebend sind nicht die Kriege, sondern die Gegnerschaft dazu. Deshalb hat sie Prinzipien. Krieg wird aus welchem Grund auch immer abgelehnt. Für die Kriegsgegnerschaft ist nicht die den Bedingungen angepasste Form des Krieges maßgeblich. Krieg wird nicht in Kategorien eingeteilt. Krieg wird abgelehnt, ohne eine Einteilung in gerecht und ungerecht zu machen. Diese Ablehnung bezeichnet eine Haltung, die auf nicht auf klassen- oder geschlechtsspezifischen oder kulturellen Interessen basiert, sondern auf ethischen Gründen. Auf dem Niveau, das die Diskussion über den Krieg mittlerweile angenommen hat, wendet sich die Kriegsgegnerschaft nicht nur gegen ein bestimmtes Moment der kriegerischen Auseinandersetzung, sondern gegen den Prozess, der diesen Krieg organisiert, und insbesondere gegen den Militarismus. Somit lehnt der Kriegsgegner es ethisch ab, Menschen zu töten und zum Militär zu gehen. Die Verweigerung aus Gewissensgründen ist ein Resultat der Antikriegslinie. Diese Linie steht gegen jede Art militärischer Organisierung und die Hegemonie dieser Organisierung über die Gesellschaft wie zum Beispiel gegen Militärgerichte. Wenn der Kriegsgegner sich gegen den Krieg positioniert, muss er sich unweigerlich auch mit Militarismus, Nationalismus, Rassismus, Kolonialismus und Patriarchat auseinandersetzen. Er muss die wirtschaftlich-kulturell-sozial-politische Struktur hinterfragen, die den Krieg nährt.“

Gewisse medien-interne Milizen, die von Pinar Selek als der ‚Bombenlegerin vom Misir-Basar’ sprechen, sowie die Linken der ‚Rote-Apfel-Fraktion’ beten geradezu für die Verbüßung einer lebenslangen Haftstrafe für sie, die sie zur Vaterlandsverräterin erklärt haben. Ebenso wie einige zu diesem Thema schweigende Liberale. Denn diese Frau ist ihnen eindeutig nicht geheuer. Sie schreibt für die Zeitung der Kurden. Sie spricht von Frauenbefreiung, vom Widerstand gegen Heterosexismus, von Gewissensverweigerung. Und obwohl ihr Prozess immer noch andauert, sieht sie ungebrochen aus.

Und diese junge Forscherin soll aus einer Laune heraus, damit die von Hypertrophie betroffene nationale Sensibilität nicht verletzt wird, ihr Leben im Gefängnis verbringen?
Wir sind wirklich verrückt, wir Türken!

Quelle: Radikal, 06.02.2006, ISKU

Übersetzung aus dem Türkischen
ISKU | Informationsstelle Kurdistan