Der Nationalstaat basiert auf Assimilation

Pinar Selek im Interview mit Prof. Dr. Baskin Oran

Es bewegt sich etwas in der Türkei. Begriffe, die zuvor nicht in den Mund genommen wurden, kommen zur Sprache. Es werden Fragen gestellt, die sich niemand hatte vorstellen können. Jahrelang wurden gesellschaftliche Probleme lediglich nach dem bekannten Muster der inneren Sicherheit bewertet. Der Wissenschaft wurde kein Rederecht zugesprochen. Jetzt sieht es so aus, als sei der Weg frei für die Wissenschaft. Heilige Begriffe wie das Türkentum, der Staat, die Staatsbürgerschaft stehen zur Diskussion und es wird über jahrhundertealte Probleme der Türkei gesprochen. Ein Aufschrei geht durch das Land: Kann das Türkentum etwa eine Subidentität sein? Fahnen werden gehisst und Schwerter gezogen. Aber die Fragen und die Suche nach Antworten lassen sich nicht aufhalten. Es werden die Schwerter sprechen oder aber die Menschen…

Die Schwerter dürfen unsere Stimmen nicht unterdrücken. Wir müssen die Formel finden, nach der wir miteinander leben können. Wir müssen über eine solche Formel diskutieren.

Über die Suche nach Antworten auf aktuelle Fragen haben wir mit Prof. Dr. Baskin Oran gesprochen. Oran beschäftigt sich seit Jahren mit diesem Thema. Er schreibt, unterrichtet und gibt Stellungnahmen dazu ab. Er findet einfache Lösungen für komplizierte Sachverhalte. Wir haben so viele Beschwerden und ahnen schon den Tod herbei, aber der Arzt sagt: „Die Behandlung ist ganz einfach, Sie müssen nur morgens und abends spazieren gehen…“ Für einen, der in einem Nest fest hängt, ist es schwer, morgens und abends spazieren zu gehen, aber genau so einfach ist es, dem Tod zu entkommen…

Lauschen wir Baskin Oran:

Wie beeinflusst der gesellschaftliche Zusammenhang die soziale Identität im Bildungs- und Selbstdefinierungsprozess? Wie reagiert die soziale Identität auf Diskriminierungsmechanismen bzw. auf eine freie Umgebung?

Eine gesellschaftliche Identität bildet sich bei einer Person oder Gruppe heraus, wenn sie in Kontakt mit anderen kommt. Bei einem Klan, der zurückgezogen in einer Ecke lebt, kann im heutigen Sinne nicht von einer sozialen Identität gesprochen werden. Gesellschaftliche Identität ist etwas, das die Moderne mit sich gebracht hat. Sie entsteht im Gegensatz oder durch die Ähnlichkeit mit einer anderen gesellschaftlichen Identität.

Welche Eigenschaften werden zu Identität?

Manche sagen: „Meine Subidentität ist mein Dasein als Dichter“. Das ist falsch. Die Tatsache, dass jemand Gedichte schreibt, macht noch keine Subidentität aus. Diese Annahme beruht auf Unwissenheit. Subidentität ist ethnisch oder religiös. Manche Besonderheiten kämpfen aufgrund ihrer Unterdrücktheit für ihre Existenz und Identität und gewinnen so an Struktur. An dem Punkt, an dem sie nicht mehr unterdrückt wird, verliert die Identität ihre Besonderheit. Aber ethnische und religiöse Zugehörigkeit machen die Subidentität aus, auch wenn sie nicht unterdrückt werden. In den USA werden Juden nicht unterdrückt, aber die Subidentität eines jüdischen Bürgers ist Jude, die Überidentität dagegen seine Zugehörigkeit zu den USA. Identität ist wie die Schichten einer Zwiebel, um es mit einem viel genutzten Begriff auszudrücken.

Unter welchen Bedingungen entsteht eine auf Identität basierende Politik?

In der modernen Gesellschaft ist die Identität für das Individuum und die Gruppe unverzichtbar. Die Menschen sind nicht wie Staubteilchen im Universum. Sie existieren mit der Identität der Gruppe, in die sie hinein geboren worden sind oder die sie selbst gewählt haben. In diesem Sinne ist die Ablehnung einer Gruppenidentität im Grunde genommen die Ablehnung des Individuums. Das Individuum kann die Identität der betreffenden Gruppe akzeptieren oder ablehnen, aber wenn diese Gruppenidentität angegriffen wird, reagiert es und kämpft gegen den Angreifer. Subidentitäten politisieren sich, wenn sie sich unter Druck gesetzt fühlen. Sie verhärten sich. Identitäten mit ethnischer Basis werden so nationalistisch.

In der Diskussion wird im Allgemeinen angenommen, dass Identitätspolitik eine beengende und beengte Struktur hat. Aber ist es nicht so, dass Identitätspolitik unter Bedingungen, in denen kulturelle, geschlechtliche und soziale Besonderheiten keine Anerkennung finden und nur eine dominante Identität das Leben beherrscht, einen demokratischen Wandel einleiten kann?

Eine Identitätspolitik, die anstrebt, in Ländern, in denen Subidentitäten nicht geachtet werden, eine Gleichheit für alle Bürger zu erreichen, verursacht keine gewalttätigen Konflikte. Eine solche Politik kann einen gesellschaftlichen Wandel einleiten und in gewissem Ausmaß fortschrittlich wirken. Konflikte entstehen aus einer Identitätspolitik, die anstrebt, die Oberhand zu gewinnen. (…)

In Ihren Texten verwenden Sie Kategorien der Identität. Eine davon ist der individuelle und kollektive Unterschied. In welcher Situation geraten individuelle und kollektive Identität miteinander in Konflikt?

Eine Frau, die in einer Familie aufwächst, in der Kopftuch getragen wird, kann die Kopfbedeckung für sich ablehnen. Wichtig ist hier das Individuum. Wir kommen an diesem Punkt nicht weiter, weil sich unsere Mentalität einhergehend mit der Auffassung der Treue zum Staat geformt hat. Wenn wir von Nationalismus sprechen, beten wir nicht die Nation an, sondern den Staat. Wir beachten das Individuum nicht, weil wir in der Beziehung Gemeinschaft – Individuum oder Nation – Individuum noch nicht die Mentalitätsstufe erreicht haben, die dem Individuum die notwendige Bedeutung beimisst. Wichtig ist das Individuum. Wenn das Individuum will, lehnt es die angeborene Identität ab und tritt von einer Identität zur anderen über. Aber manche Identitäten kann man nicht einfach annehmen. Beispielsweise muss man als Alevit geboren sein, um Alevit zu sein. Außer in solchen Ausnahmezuständen kann das Individuum seine Subidentität ändern. Allerdings kann kein Übertritt zu einer Identität stattfinden, die unterhalb der eigenen steht. Ein Zaza kann sich zum Beispiel Kurde nennen, aber ein Kurde sich nicht Zaza.

Ist es für ein gemeinsames Leben notwendig, dass es neben einer objektiven Subidentität eine subjektive Überidentität gibt? Welche Kriterien sind notwendig, um unter einer Überidentität stehende Subidentitäten zu schützen?

Die Aussage, dass Überidentität unnötig und unterdrückend ist, zeugt von Unwissenschaftlichkeit. Es gibt immer eine Überidentität. Da ein Leben ohne Staat noch nicht Thema ist, muss es für ein Zusammenleben in einem Staat unbedingt eine Überidentität geben. In einer Familie ist es wichtig, abends gemeinsam um den Esstisch zu sitzen, denn eine Familie ist kein Restaurant. Wenn eine Frau und ein Mann gemeinsam leben, aber ständig mit anderen Verhältnisse haben, hat das nichts mit Zusammenleben zu tun. Dann teilen sie lediglich die Miete. So wie in einer Familie ist auch im Staat für ein Zusammenleben eine Überidentität notwendig.

Wie ist der gesellschaftliche Einfluss von subjektiven Identitäten, die vom Nationalstaat geschaffen werden?

Ein Nationalstaat ist ein Staat mit dem Anspruch, dass die Nation aus einer einzigen ethnischen Gruppe besteht. Somit ist der Nationalstaat das Assimilierungswerkzeug schlechthin. England oder Australien sind keine Nationalstaaten. Die Türkei ist ein Nationalstaat und damit ein Assimilierungswerkzeug. Die USA stehen dazwischen, sind aber vom Nationalstaat weiter entfernt, weil die Türken dort eigene Demonstrationen veranstalten und die Italiener einen eigenen Feiertag haben. Sie verlieren dabei nicht ihre Subidentitäten. An die Überidentität wird dennoch ständig erinnert. Bekannterweise hissen die Bürger in den USA ständig Fahnen. Die Fahne wird sogar als Motiv für Unterwäsche genutzt. Das resultiert aus der Überzeugung, dass die Überidentität stark ist. Ein Staat, der Angst hat, schlägt zu. Wer zur Härte greift, hat Angst.
Aber Überidentität kann nicht allein vom Staat aufoktroyiert werden, sondern erfordert Anerkennung. Eine Überidentität, die von allen Bürgern abgelehnt wird, kann keinen Erfolg haben. Die goldene Regel lautet: Die Überidentität darf die Subidentitäten nicht unterdrücken, dann achten die Subidentitäten auch die Überidentität. Darüber hinaus ist noch keine Formel des gesellschaftlichen Zusammenlebens erfunden worden. (…) Ein Staat kann nur auf freiwillige Bürger vertrauen. Ein freiwilliger Bürger ist einer, der keine Schwierigkeiten mit dem täglichen Brot und der Identitätsfrage hat. Deshalb schießt sich ein Staat, der seine Bürger dazu zwingt, seine Bürger zu sein, selbst in den Fuß. (…)

Findet die türkische Überidentität gesellschaftliche Akzeptanz?

Das Türkentum wird seit achtzig Jahren als Überidentität verwendet, aber offensichtlich erfolglos. Diese Überidentität spricht die Zugehörigkeit zu einer ethnischen Gruppe an. Die Republik Türkei hat ihre Nation auf dem Türkentum aufgebaut. Es gibt die ethnische Gruppe der Türken. Manche Subidentitäten mögen darauf nicht negativ reagieren. Dabei handelt es sich um ethnische Gruppen, die nach der Republiksgründung eingewandert sind. Andere lebten schon vorher hier. Dabei handelt es sich zum Beispiel um Kurden, Araber, Armenier, Ponten (Griechen), Assyrer… aber die Juden, von denen die meisten eingewandert sind, nicht. Auch Georgier, Tscherkessen usw. haben keine Widersprüche zur türkischen Überidentität. Alles, was sie wollen, ist die Anerkennung der eigenen Sprache, die Achtung ihrer Kultur. (…) Bis heute wird den Tscherkessen verboten, ihren Kindern ihre Muttersprache beizubringen. Als eine lasische Zeitschrift erschien, wurde gleich die erste Auflage konfisziert. Eine Überidentität, die auf diese Weise Subidentitäten verbietet, führt zu Entfremdung und Verhärtung. Und so reagiert auch die nach den Türken stärkste der Subidentitäten sogar mit Waffengewalt auf dieses Vorgehen.
Artikel 66 der Verfassung besagt: „Jeder, der durch das Band der Staatsbürgerschaft mit dem türkischen Staat verbunden ist, ist Türke“. Dabei ist die Staatsbürgerschaft kein soziologischer Begriff, sondern ein juristischer. Bis heute wird jeder Staatsbürger Türke genannt. Im „Bericht über kulturelle und Minderheitenrechte“ haben wir ausgeführt, dass dadurch Konflikte hervorgerufen werden und statt „türkisch“ die Formulierung „aus der Türkei stammend“ verwendet werden muss. Daraufhin sind wir heftig angegriffen worden, vor allem von türkischen Nationalisten, die der Meinung sind, die türkische Überidentität könne nicht auf eine Subidentität reduziert werden. (…) Der Begriff Turkiya bezeichnet die von den Venezianern stammende geographische Kennung dieser Gegend seit der Zeit der Kreuzzüge und verstärkt seit der Gründung des Osmanischen Reiches. Seit dem 14. Jahrhundert wird dieses Territorium auf Landkarten als Turkiya bezeichnet. Im Abkommen von Sevres wird 20 Mal der Begriff Osmanisches Reich und 200 Mal das Wort Türkei verwendet. Sie werden mit der gleichen Bedeutung benutzt. Das Wort „Türke“ dagegen bezeichnet den Namen, den die Chinesen den Türken gegeben haben. Manche Völker und manche Staaten werden von anderen benannt. Es macht keinen Sinn mehr, Bezeichnungen zu widersprechen, die vor tausend Jahren entstanden sind. (…)
Bei den Protesten in Semdinli war ein Transparent zu sehen, das sehr wichtig und lehrreich war: „Wir sind Kurden aus der Türkei in Europa“. Genau das ist die Formel, die die Türkei retten kann. Mehr muss man dazu nicht sagen.

Weisen Ihrer Meinung nach die Beiträge zur Identitätsdiskussion in der Türkei auf eine Veränderung hin?

In der Türkei wird endlich das Individuum geboren, das es zuvor nicht gegeben hat. Die Türkei hat bis heute zwei Arten der Modernisierung durch eine „Revolution von oben“ erlebt. Die erste in den zwanziger Jahren mit dem Kemalismus, die zweite mit den Anpassungspaketen an die EU. Mit dem Kemalismus fand der Übergang vom Osmanischen Reich zum Staatsbürgertum der Republik statt. Dabei handelte es sich um ein erzwungenes Staatsbürgertum, weil die Identität des Individuums und der Gruppe nicht anerkannt wurde. Heute, in einer Atmosphäre, in der das Individuum entstanden ist, findet der Übergang von der erzwungenen Staatsbürgeridentität zur freiwilligen Staatsbürgeridentität statt. Das Individuum ist entstanden. Deshalb ist der Begriff der Gruppenidentität wichtig geworden und es kommt zu Konflikten. Insofern ist die Entwicklung in der Identitätsdiskussion normal. (…)

Quelle: Gündem, 22.12.2005, ISKU

Übersetzung aus dem Türkischen
ISKU | Informationsstelle Kurdistan