Wie im Ausnahmezustand

Nach den blutigen Vorfällen in Semdinli und Yüksekova sieht es in den beiden Kreisstädten in der Provinz Hakkari im Dreiländereck Türkei-Iran-Irak aus wie zu Zeiten des Ausnahmezustandes. Mit Einbrechen der Dunkelheit verschwinden die Menschen von den Straßen und ziehen sich in ihre Häuser zurück.

Die rund zwanzig Bombenanschläge in der Region und insbesondere der letzte Anschlag dieser Art auf einen Buchladen in Semdinli haben Panik innerhalb der Bevölkerung hervor gerufen. Die Lagepläne und Namenslisten des Jandarma-Geheimdienstes, die durch den Vorfall öffentlich geworden sind, haben dazu geführt, dass die Menschen der Region in ständiger Todesangst leben.

Die Geschäfte sind zwar wieder geöffnet, aber die Spannungen halten an. Blieben die Läden früher bis 23 Uhr offen, so leeren sich die Straßen jetzt ab 16 Uhr vollständig. Die Menschen haben Angst vor weiteren Anschlägen und Übergriffen der Sicherheitskräfte. Auch öffentliche Verkehrsmittel fahren nicht mehr in der Dunkelheit. Die Fahrten von Überlandbussen nach Van sind nachts annulliert worden, weil sich keine Reisenden mehr finden lassen.

SchülerInnen in Angst

In den im Tatfahrzeug in Semdinli aufgefundenen Dokumenten sind auch die Namen von Schulen in der Kreisstadt aufgetaucht. Viele Schüler gehen seit zehn Tagen nicht mehr zum Unterricht. „Hier sterben ständig Menschen. Wir kämpfen dafür, am Leben zu bleiben. Früher waren die Schulen sichere Gebiete. Aber jetzt mussten wir erfahren, dass auch die Schulen potentielle Angriffsziele sind. Würden Sie unter solchen Umständen zur Schule gehen?“ sagen die Schüler. „Wir ziehen es vor, am Leben zu bleiben und nicht zur Schule zu gehen. Die Schule ist hier ohnehin nicht so wichtig. Überleben ist wichtiger“.

Auch ein Lehrer des Gymnasiums in Semdinli, der aufgrund seiner Tätigkeit als Beamter anonym bleiben will, bestätigt, dass ein großer Teil der SchülerInnen nach dem letzten Anschlag nicht mehr in die Schule kommt. Diejenigen, die trotzdem kommen, thematisieren ständig die Vorfälle. „Der jüngste Anschlag in Semdinli beschäftigt die Kinder sehr. Unterricht findet kaum noch statt. Sie fragen nach, ob es auch in der Schule zu einer Explosion kommen kann. Sie fragen, warum die beiden Jandarma-Unteroffiziere frei gelassen worden sind. Eigentlich bräuchten alle Schüler hier psychologische Betreuung.“

Sicherheitskräfte als potentielle Täter

In Yüksekova ist nach den tödlichen Schüssen auf drei Demonstranten das Vertrauen in die Sicherheitskräfte vollkommen verschwunden. Dazu beigetragen hat auch der Umstand, dass Angehörige der Sicherheitskräfte von den Balkons ihrer Wohnungen im Stadtzentrum auf die Bevölkerung geschossen haben. Die Menschen fordern, den Sicherheitskräften keine Wohnungen in der Kreisstadt mehr zu vermieten.

Menschen fordern Sicherheit

Die Menschen in Semdinli fordern von der Staatsanwalt Sicherheit für ihr Leben. Betroffene wie der Inhaber des ausgebombten Buchladens, Seferi Yilmaz, und andere, deren Namen auf den aufgefundenen Todeslisten stehen, haben Anträge an die Staatsanwaltschaft gestellt, in denen sie Schutz fordern. Andere wenden sich an die Staatsanwaltschaft, um sich als Zeugen zur Verfügung zu stellen. Bisher sind zwanzig Personen als Zeugen angehört worden, weitere dreißig warten noch auf ihre Vernehmung.

Proteste werden fortgesetzt

Die Protestaktionen in anderen Städten der Türkei halten weiter an. An vielen Orten werden täglich bei Kundgebungen Kerzen mit der Forderung angezündet, „Licht in die Dunkelheit“ zu bringen. Dabei kommt es auch immer wieder zu Auseinandersetzungen mit der Polizei und Festnahmen.

Quelle: DIHA, 19.11.2005, ISKU

Übersetzung aus dem Türkischen
ISKU | Informationsstelle Kurdistan