Unruhen in Semdinli dauern an

Nachdem gestern bekannt wurde, dass im Fall des Bombenanschlags in Semdinli lediglich gegen zwei in den Vorfall verwickelte Personen als „Bauernopfer“ Haftbefehl ausgesprochen wurde, brandeten die Proteste der Bevölkerung neu auf. Die Inhaber der vormittags seit Tagen erstmalig wieder geöffneten Geschäfte zogen erneut ihre Rolläden herunter und die Menschen sammelten sich im Zentrum der Stadt. Wut erzeugten auch die von Sicherheitskräften errichteten Barrikaden in der Umgebung des Landratamtes.

Ramazan Yilmaz, der seinen Bruder Ali durch die Schüsse des Unteroffiziers Tanju Cavus auf eine Menschenmenge nach dem Bombenanschlag verlor, erklärte: „Verfügt der Staat denn über gar keine Macht? Wie kann es sein, dass der Staat mit seinem riesigen Militärapparat es nicht vermag, diejenigen zu stoppen, die auf zivile Menschen schießen? Wenn unser Bürgermeister 10.000 aufgebrachte Menschen mit einem einzigen Satz stoppen kann, wieso kann der Staat nicht zwei Soldaten aufhalten?“

Verbindung mit Ankara

Der ehemalige Vorsitzende der Kommission zur Aufklärung politischer Morde unbekannter Täter, Sadik Avundukluoglu, erklärte, die Vorfälle in Semdinli könnten aus einem Machtkampf im Drogengeschäft entstanden sein. „Wenn es in Semdinli illegale Strukturen gibt, so ist es unmöglich, dass dabei keine Verbindung mit Ankara besteht“, kommentierte Avundukluoglu.

Bürgermeister von Yüksekova bedroht

Wie der Bürgermeister von Yüksekova, Salih Yildiz, mitgeteilt hat, ist er von einem Polizisten an einem Kontrollpunkt an der Einfahrt nach Semdinli bedroht worden. „Ein uniformierter Polizist, von dem ich annehme, dass er aus Hakkari kommt, hat wortwörtlich zu mir gesagt: ‚Bald wird mit dem Innenminister die gesamte Regierung abtreten. Dann werden wir und Ihr Bürgermeister uns wieder sehen`.“ Auch aus der Bevölkerung sind mehrere von Polizisten ausgesprochene Drohungen bekannt geworden.

Dokumente belegen politische Morde

Unter den Dokumenten, die im Auto des militärischen Geheimdienstes JITEM, das die Bombenattentäter benutzt haben, gefunden wurden, sollen sich auch Informationen zu Morden unbekannter Täter der jüngsten Vergangenheit in der Provinz Hakkari befinden. Während es der Staat vermeidet, die Öffentlichkeit dazu aufzuklären, sind aus der Bevölkerung weitere Informationen über die Dokumente an die angereiste DTP-Abordnung weiter gegeben worden. Demnach sind nicht nur Namen und Geschäfte von durchgeführten und potentiellen Anschlagszielen aufgeführt, sondern auch Informationen über unaufgeklärte Morde in der Region. Die Dokumente befinden sich in den Händen der Staatsanwaltschaft und werden vor der Öffentlichkeit geheim gehalten. Nach Angaben von Rechtsanwalt Dogan Erbas (DTP) stärken alle bisher bekannt gewordenen Informationen aus der Bevölkerung und aus den Dokumenten die Überzeugung, dass die Vorfälle in Semdinli und Umgebung „systematisch und organisiert“ seien.

DTP-Gespräch mit Gouverneur Gürbüz

Die DTP-Abordnung traf gestern zu einem 15-minütigen Gespräch mit dem Gouverneur der Provinz Hakkari, Erdogan Gürbüz, zusammen. Rechtsanwalt Erbas teilte dazu mit: „Wir haben alle Informationen, die uns erreicht haben, an den Gouverneur weiter geleitet. Er sagte dazu, dem Aufmerksamkeit zu schenken, aber mit der Begründung der Geheimhaltung der Ermittlungen könne er uns keine weiteren Informationen geben. Der Ministerpräsident und andere Regierungsvertreter haben eine lückenlose Aufklärung der Vorfälle angekündigt. Beim Gouverneur konnten wir etwas in dieser Richtung nicht sehen.“ In der Bevölkerung herrsche die Meinung vor, dass der Gouverneur weniger der Regierung unterstehe als bestimmten Kräften in Hakkari. „Aus diesem Grund fordert die Bevölkerung den Rücktritt des Gouverneurs. Die Bevölkerung von Semdinli hegt starkes Misstrauen gegen den Staat. Die Beziehung zwischen Staat und Bürger ist ruiniert“.

Quelle: Özgür Gündem, 13.11.2005, ISKU

Übersetzung aus dem Türkischen
ISKU | Informationsstelle Kurdistan