Susurluk in Semdinli

Nach dem Bombenanschlag auf einen Buchladen in Semdinli sind die von der Bevölkerung gefassten und der Polizei übergebenen Täter verschwunden. In ihrem Auto, das auf die Jandarma angemeldet ist, wurden neben Waffen eine Todesliste und Landkarten gefunden.

Seit einer längeren Zeit herrschte Angst in Semdinli, weil es wiederholt zu Bombenanschlägen kam. Durch den spontanen Eingriff der Bevölkerung, mit dem die Täter gestellt wurden, stellte sich heraus, warum die Urheber des Terrors seit Monaten nicht gefasst werden konnten. Hinter den Bombenanschlägen, die das Leben in der Kreisstadt zur Hölle machten, steckt die Jandarma. Die Tatsache, dass die Täter Mehmet Agar angerufen haben, zeigt, dass Susurluk immer noch aktuell ist.

Bombe auf die „Hoffnung“

Der jüngste Angriff, der die Bevölkerung zum Aufstand auf die Straßen trieb, begann mit einem Bombenanschlag auf die Buchhandlung „Hoffnung“. Als es der Bevölkerung gelang, die drei flüchtenden Täter zu stellen, wurde ein vertuschter Skandal, ein Netzwerk schmutziger Beziehungen, ein Ableger der Susurluk-Bande in Semdinli aufgedeckt. Bei allen drei Tätern handelt es sich um Soldaten mit Offiziersrängen.

Der legale JITEM: JIS

In dem Fahrzeug, mit dem die Täter flüchten wollten und das von der aufgebrachten Bevölkerung zerstört wurde, wurde ein auf den Namen Ali Kaya ausgestellter Ausweis des Jandarma-Geheimdienstes JIS gefunden. Die im Fahrzeug gefundenen Materialien tragen die Herkunftsbezeichnung des staatlichen Betriebes MKE (Maschinen- und Chemieindustrie). Dabei handelt es sich um zwei Handgranaten, zwei Militärtarnwesten, zwei Kalaschnikow und vier Magazine. Außerdem wurden vier Dossiers mit einer Namensliste gefunden, auf der sich neben Hunderten Personen auch der Bürgermeister von Semdinli, Hursit Tekin befindet. Der angegriffene Buchladen ist mit roter Farbe gekennzeichnet. Auf einer ebenfalls im Fahrzeug gefundenen Landkarte sind in Semdinli befindliche Ziele von Bombenanschlägen markiert. Der CHP-Abgeordnete von Hakkari, Esat Canan, kündigte an, die Todesliste ins Parlament der Türkei zu bringen.

Staatsanwaltschaftliche Untersuchungen an dem Fahrzeug mussten unterbrochen werden, als aus einem zivilen Jandarma-Auto auf die Menschenmenge geschossen wurde. Dabei wurde Ali Yilmaz getötet, fünf weitere Personen wurden verletzt. Durch diesen Vorfall stiegen die Spannungen in der Kreisstadt weiter an. Abends wurden im Verlauf einer Protestdemonstration drei Autos angezündet und Barrikaden aus Strommasten gebaut. Mit Einbrechen der Dunkelheit löste sich die Menschenmenge auf.

Fortgesetzte Proteste

Gestern morgen gingen die Proteste weiter. Gegen acht Uhr versammelte sich eine Menschenmenge an einem polizeilichen Kontrollpunkt am Eingang der Stadt. Wieder wurden mit Strommasten Barrikaden gebaut und der Kontrollpunkt schließlich nieder gebrannt.

Aus Protest bleiben gestern alle Geschäfte in der Stadt geschlossen. Auch die Schulen blieben geschlossen. Gegen neun Uhr versuchte der Bürgermeister von Yüksekova, Salih Yildiz, die aufgebrachte Menschenmenge zu beruhigen, indem er auf kurdisch eine Ansprache von einem Balkon hielt. „Wenn Ihr nicht ruhig bleibt, setzt Ihr Euch selbst ins Unrecht, wo Ihr eigentlich im Recht seid“, erklärte er. „Es handelt sich um einen Vorfall, der Susurluk ähnelt. Wir werden die Sache lösen, aber Ihr müsst ruhig bleiben. Greift keine Geschäfte an“. Weiter erklärte Yildiz, es werde an der Aufklärung des Vorfalls gearbeitet. So sei der Gouverneur aufgefordert worden, die Namen der drei Täter, die von der Bevölkerung gestellt und den Sicherheitskräften übergeben worden waren, öffentlich zu machen und sie vor Gericht zu bringen. Yildiz kritisierte weiterhin das mangelnde Interesse von Ministerpräsident Erdogan an den wiederholten Bombenanschlägen in Semdinli und Yüksekova und forderte ihn auf, sich der Sache anzunehmen.

Aus Hakkari, Van und Yüksekova strömten nach den Vorfällen ca. 5000 Personen in Konvois nach Semdinli. Nach langen Kontrollen an Militärposten erreichten sie mittags die Stadt, wo sie von der Bevölkerung mit Parolenrufen empfangen wurden. „Kurdistan wird das Grab der Faschisten sein“ skandierte die Menschenmenge, die außerdem den Gouverneur zum Rücktritt aufforderte. Der DEHAP-Vorsitzende von Hakkari, Sebahattin Suvagci, erinnerte daran, dass es in den letzten Monaten zu insgesamt 17 Explosionen in der Provinz Hakkari gekommen sei.

Der CHP-Abgeordnete Esat Canan verwies darauf, dass den Sicherheitskräften drei Personen übergeben worden waren, sich aber nur eine Person in Gewahrsam befinde: "Wo die anderen beiden Personen sind, wissen wir nicht. Durch die im Fahrzeug aufgefundenen Materialien hat sich heraus gestellt, dass die Täter den Sicherheitskräften zugehörig sind. Wir wissen nur nicht, wer sie sind. Der Staatsanwalt hat die Dokumente beschlagnahmt“. Weiterhin gratulierte Canan der Bevölkerung für ihr mutiges und besonnenes Verhalten, das es ermöglicht habe, die Täter zu stellen und dem Staat zu übergeben. Gegenüber der BBC erklärte Canan, in der Region werde alles, was passiere, der PKK zugeschrieben. Allerdings sei seit langem bekannt, dass dies nicht stimme. Insbesondere die Tatsache, dass sich nur einer der drei Täter in Gewahrsam befinde, löse bei ihm Bedenken aus, dass der Vorfall vertuscht werden solle.

Von Susurluk nach Semdinli

Der Name des DYP-Vorsitzenden Mehmet Agar, der bereits im Susurluk-Skandal angeklagt, aber aufgrund seiner politischen Immunität niemals verurteilt wurde, ist jetzt in Semdinli wieder aufgetaucht. In den türkischen Medien erschien gestern die Meldung, dass Agar während einer Versammlung telefonisch um Hilfe gebeten worden sei. Wie sich heraus stellte, handelte es sich bei den Anrufern um die Bombenattentäter. Wie Ibrahim Öpengin als Augenzeuge berichtete, habe einer der Täter eine Waffe gezogen, als er von der Bevölkerung gestellt wurde, sei aber rasch außer Gefecht gesetzt worden. „Als sie geschnappt wurden, haben sie sofort zum Telefon gegriffen und um Hilfe gebeten. Sie riefen ins Telefon: ‚Rettet uns, von überall wird geschossen, sie werden uns umbringen‘. Kurz danach erschienen Sondereinheiten und Polizei, die über die Menschen schossen und die Täter weg brachten“.

Wie Mehmet Agar der Presse gegenüber angab, sei er mit dem gleichen Wortlauf um Hilfe gebeten worden. Daraufhin habe er den Gouverneur, die Staatsanwaltschaft und die Sicherheitskräfte informiert.

„Staat auf frischer Tat ertappt“

Der Kongra-Gel-Vorsitzende Zübeyir Aydar erklärte, der Staat sei in Semdinli auf frischer Tat ertappt worden. Im Krieg gegen die Kurden sei immer Terror angewendet worden, aber in Semdinli sei dies erstmalig in so eindeutiger Form geschehen. Immer wieder seien in Hakkari Zivilisten getötet und hinterher als Terroristen deklariert worden.

In der gesamten Türkei hat der Semdinli-Vorfall Empörung ausgelöst. Zahlreiche Politiker und Vertreter zivilgesellschaftlicher Organisationen sind bereits in Semdinli eingetroffen und fordern eine lückenlose Aufklärung des Falls. Zur Zeit werden vor der Staatsanwaltschaft Augenzeugen angehört.

Quelle: Özgür Gündem, 11.11.2005, ISKU

Übersetzung aus dem Türkischen
ISKU | Informationsstelle Kurdistan