"Gebt
mir wenigstens die Erlaubnis, wie eine Kakerlake zu leben" 9. Juli 1998. Unweit
der Galata-Brücke und neben der Yeni Valide Moschee liegt die „größte
Apotheke der Welt“. Die kleinen Geschäfte im Istanbuler Gewürzmarkt bieten
Gewürze, Kräuter, Tee, Süßigkeiten, Pistazien und andere Leckereien feil.
Der Basar ist ein beliebtes Ziel für Touristen. Am 9. Juli 1998 stehen
besonders viele Menschen am Eingang des Marktes und suchen Schutz vor
einem heftigen Regenschauer. Plötzlich detoniert eine Gasflasche. Sieben
Menschen sterben, mindestens 118 Personen werden zum Teil schwer verletzt.
DPA berichtet: Kurze Zeit später wird die Soziologin und Schriftstellerin Pinar Selek festgenommen und von der Antiterrorabteilung der Polizei verhört. Pinar Selek wurde 1971 in Istanbul geboren. Nach ihren Studien in Ankara und Paris arbeitete sie mit Straßenkindern, recherchierte zur Gewalt gegenüber Transsexuellen und Transvestiten in Istanbul, übersetzte ein Buch des Zapatista Marcos in Türkische. Für ihr Buch „Wir haben keinen Frieden geschlossen“ (Originaltitel: Barisamadik), in dem sie die militärischen und gesellschaftlichen Gründe für den andauernden Kriegszustand in der Türkei untersucht, führte sie einige Interviews mit PKK-Mitgliedern. Für deren Namen interessiert man sich nun in den Verhören. Den offiziellen Grund ihrer Verhaftung erfährt Pinar Selek erst nach anderthalb Monaten aus den Nachrichten: Bei der Explosion im Basar habe es sich um einen Bombenanschlag im Auftrag der PKK gehandelt, an dem sie gemeinsam mit anderen beteiligt gewesen sein soll. Obwohl mehrere unabhängige
Gutachten eine defekte Gasflasche als Ursache der Explosion feststellen,
muss Pinar Selek zweieinhalb Jahre ihres Lebens als angebliche Bombenattentäterin
im Gefängnis erleiden. Es wird berichtet, Frau Selek wurde an ihren auf
dem Rücken zusammengebundenen Armen aufgehängt (sog. Palästinenserhaken)
und mit Stromstößen und anderen Methoden gefoltert.[2] Zeilen, die sie
später schreiben wird, lassen tiefe Wunden erkennen. Im Dezember 2000 wird sie freigelassen, Mitangeklagte bleiben weiter in Haft. Trotz der massiver Verletzungen während der Haftzeit engagiert sich Frau Selek seit ihrer Freilassung wieder sehr in der türkischen Frauen- und Friedensbewegung, ist Mitbegründerin der Frauenkooperative Amargi, organisiert Frauentreffen und setzt sich für andere Gewaltopfer ein. Doch der Prozess gegen sie und drei weitere Angeklagte wird vor dem 12. Schweren Strafgericht in Istanbul fortgesetzt. Der Prozess ist seit über sechs Jahren anhängig, mehrere entlastende Gutachten werden erstellt, belastende Zeugenaussagen widerrufen. Und dennoch fordert die Staatsanwaltschaft in der Hauptverhandlung am 28. Dezember 2005 eine lebenslange Freiheitsstrafe für die Angeklagten. Am 17. Mai 2006 wird die Verhandlung fortgesetzt werden und Frau Selek droht eine lebenslange Haft für eine Tat, die sie mit großer Wahrscheinlichkeit nicht begangen hat. Doch es formiert sich
eine Bewegung, die sich für einen fairen Prozess einsetzt. Öffentlichkeit,
die einen Prozess begleitet, kann für die Angeklagten lebensrettend sein.
Schon ein paar Tage nach der letzten Hauptverhandlung bezeugen türkische
Wissenschaftlerinnen und Künstlerinnen in einem Aufruf, „dass Pinar Selek
eine feministische, antimilitaristische Gewaltgegnerin und Forscherin
ist. Wir sind davon überzeugt, dass sie mit den Anschuldigungen, die ihr
seit Jahren zur Last gelegt werden, nicht zu tun hat“.[4] Die Kommission verwies in ihrer Antwort darauf, dass die Sicherstellung von Rechtsstaatlichkeit und Unabhängigkeit, Funktions- und Leistungsfähigkeit der Justiz zu den Kernelementen der Politischen Kopenhagener Kriterien gehören. Bei den weiteren Verhandlungen über den Beitritt der Türkei zur EU achte man auf die Fortschritte bei der Umsetzung der Kriterien. Leipzig, 4. April 2006 Fußnoten
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