Die Charakteristika der Situation in Nordwestkurdistan

In diesem Teil Kurdistans hat in den letzten zehn Jahren ein immer intensiver werdender Kampf stattgefunden. Der revolutionäre nationale Befreiungskampf, den unsere Partei gegen den kolonialistischen Spezialkrieg der Türkischen Republik führt, ist der Motor der gesellschaftlichen Umwälzung. Dieser Kampfzustand bestimmt alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens. Außerdem hat der von unserer Partei geführte nationale Befreiungskampf gegen die Türkische Republik Auswirkungen auf die nationale Bewegung und den nationalen Kampf in anderen Teilen Kurdistans und wirkt somit determinierend.
Als sich in der Türkei der neue kolonialistische Kapitalismus entwickelte, zeigte dieser auch seine Auswirkungen in Kurdistan, und seit den sechziger Jahren begann sich in Kurdistan der kolonialistische, türkische Kapitalismus auszubreiten. Diese wirtschaftliche Struktur in Kurdistan, die sich ausschießlich um Staatsbetriebe und vollständig abhängig vom türkischen Markt formierte, stützte sich ganz auf die Ausbeutung der Produktionsmittel Kurdistans, das `Verschlucken' Kurdistans seitens des türkischen Kolonialismus zum Ziel, dies ist im Verlauf der zehn Kriegsjahre noch deutlicher zum Vorschein gekommen und hat schließlich ganz die Form einer Spezialkriegswirtschaft angenommen.
Einige Grundlagen dieses wirtschaftlichen Lebens in Kurdistan, das nunmehr vollständig vom stattfindenden Kampf bestimmt ist, können folgendermaßen zusammengefaßt werden:
a) Die koloniale, ökonomische Struktur, welche sich zuvor herausgeformt hatte, kann nicht mehr in der Art und Weise aufrechterhalten werden, wie es früher der Fall war. Der intensivierte nationale Befreiungskampf setzt diesem Geschehen Grenzen.
b) Trotz ihres begrenzten Aktionsradius hat die koloniale Ökonomie nicht etwa die Ausbeutung und die Plünderung verringert, sondern noch intensiviert. Dies steht nicht im Widerspruch zu der Tatsache, daß sich die alten Strukturen des türkischen Kolonialismus in Auflösung befinden.
c) Die Türkische Republik hat in Kurdistan eine Kriegswirtschaft installiert und das ganze ökonomische Leben und alle wirtschaftlichen Möglichkeiten vollständig in den Dienst des Spezialkrieges gestellt. Diese Kriegswirtschaft jedoch belastet die Türkische Republik sehr schwer und hat die türkischer Wirtschaft in den Konkurs getrieben.
d) Die Bevölkerung ist in ökonomischer Hinsicht ziemlich geschwächt. Sei es auch unter den Voraussetzungen der Kriegswirtschaft, so hat sich dennoch auf Gebieten wie dem Handel eine Ökonomie der nationalen Befreiung zu entwickeln begonnen. Die in Kurdistan unter eine Kolonialhegemonie entstandenen wirtschaftlichen Beziehungen, die sich unter den Bedingungen eines Krieges entfalten, bringen eine von ihnen abhängige gesellschaftliche Formierung und Veränderung mit sich. Der in der Vergangenheit herausgeformte koloniale Kapitalismus hat die feudale Sozialstruktur in Kurdistan teilweise aufgelöst und auf dieser Grundlage eine ihm eigene gesellschaftliche Zersetzung und Formgebung hervorgebracht. Die Feudalherren an der Spitze haben sich zu einer feudalen Kompradorenklasse entwickelt, das Bauerntum hat sich aufzulösen begonnen und hat gemeinsam mit der städtischen Kleinbourgeoisie ein Arbeitslosenheer und eine Schicht von jugendlichen Intellektuellen geformt. Angefangen von der Arbeiterklasse bis hin zu den Intellektuellen haben sich all diese gesellschaftlichen Schichten auf der Grundlage der kolonialen Hegemonie herausgeformt und eine starke Assimilation durchgemacht. Diese Verhältnisse sind derzeit in einem tiefgreifenden Veränderungsprozeß begriffen.
Die von unserer Partei angeführte Revolution und besonders der Kampf der letzten zehn Jahre hat in der Sozialstruktur Kurdistans zu schnellen und tiefgreifenden Veränderungen geführt. Die rückständigen gesellschaftlichen und kulturellen Institutionen, die seitens des Kolonialismus am Leben zu erhalten versucht wurden, sind in Auflösung begriffen, und die Gesellschaft zeigt eine Entwicklung hin zu einer revolutionären Gestaltung. Derzeit hängt alles von der Realität der stattfindenden Revolutionen und dem Kampf ab. Während sich auf der einen Seite die Gruppierung der Handvoll von verräterischen Kollaborateuren des Kolonialismus und des Spezialkrieges noch klarer herauskristallisiert hat, bildet sich auf die anderen Seite eine patriotische Bevölkerungsformation heraus, die immer mehr verarmt und die bestrebt ist, Unterschiede und Differenzen zwischen sich aufzuheben.
Unter den bestehenden Verhältnissen ist das Dorfschützersystem als eine Klasse zu betrachten. Diese Schicht, welche die rückschrittlichen Feudal-, Stammes- und Kompradorenkräfte und daneben Gruppen von Spitzeln, Agenten, Kollaborateuren und labilen Personen von unstetem Wesen wie auch einige unwissende Stammesvertreter umfaßt, stellt die gesellschaftliche, politische und militärische Stütze des Kolonialismus in Kurdistan dar. Der türkische Kolonialismus sieht sich einerzeits dazu veranlaßt, sich verstärkt auf diese Gruppen gegen die Revolution zu stützen, anderseits fürchtet er sich vor dem finanziellen Aufwand und der politischen Bedrohung, die diese darstellten. In dem Umfeld, das der nationale Befreiungskampf geschaffen hat, will sich auch ein nationales kurdisches Kapital entwickeln. Die noch schwache kurdisch-nationale Bourgeoisie setzt sich aus patriotischen wohlhabenden Gruppen, Händlern und der Obersicht der Kleinbourgeoisie zusammen. Die entstehung und Weiterentwicklung dieser für Kurdistan neuen Schicht ist volkommen von nationalen Befreiungskampf abhängig. Aufgrund dieses Kampfes wiederum löst sich allmählich das Bauerntum auf, und der Patriotismus in den Schichten der Kleinbourgeoisie nimmt zu. Im Verlauf des Krieges ist Außerdem ein großes Heer von Arbeitslosen entstanden, von denen nur ein kleiner Teil Arbeit finden kann.
Die durch den Spezialkrieg hervorgerufene Migration stellt in Kurdistan ein enormes gesellschaftlichen Problem dar. Gemäß den Erfordernissen des Spezialkrieges wurden und werden durch Anwendung ökonomischer und militärischer Zwangsmittel alle Gebiete Kurdistans, die den patriotischen Kampf unterstützen, entvölkert und unsere Menschen in aller Welt zerstreut, wobei sich ein großer Teil von ihnen nunmehr in den Metropolen der Türkei befindet. Diese Migranten, die seitens des Kolonialismus zur Schwächung des nationalen Befreiungskampfes geschaffen wurden, haben sich zu einer großen Stütze der nationalen Bewegung entwickelt.
Die Schicht der Intellektuellen, die früher unter kemalistischem Einfluß standen, hat eingesehen, daß sie nicht mehr gegen den revolutionären Kampf stellen kan und ist zum Großteil in die patriotischen Reihen eingetreten. Daneben hat sich durch die aufklärerische und erzieherische Kraft, welche der revolutionäre nationale Befreiungskampf hervorgebracht hat, eine wichtige kurdische Bewegung von Intellektuellen zu entwickeln begonnen. 
Die Politik des türkischen Kolonialismus, die darauf abzielte, die Kurden als Nation zu vernichten, hat durch den von unserer Partei geführten nationalen Befreiungskampf eine Niederlage erlitten. Das Bildungssystem der Türkischen Republik funktioniert nicht mehr einwandfrei, und die Assimilationspolitik kann nicht mehr ungehindert durchgeführt werden. Die kurdische Gesellschaft erlebt eine sehr breite, fundierte und revolutionäre nationale Bewußtseinsbildung und formt gemeinsam mit dem sich entwickelnden Kampf eine revolutionäre Nation. Auf Grundlage dessen verschwinden sowohl die starken Bindungen, die ehemals den Werten des Stammes und der Tribalstruktur gegenüber bestanden haben, als auch die internen Kämpfe und Fraktionsbildungen, die damit in Zusammenhang standen; an deren Stelle tritt ein starkes Bewußtsein, eine ebensolche Einheit und Solidarität.
Der von unserer Partei geführte revolutionäre Kampf trägt aber auch zur Selbstfindung jener nationalen Minderheiten und religiösen Gruppen bei, die in Kurdistan leben oder in aller Welt verstreut sind. Die Politik unserer Partei hat die aus der Geschichte bekannte und belegte Verfahrungsweise des türkischen Kolonialismus, nämlich das Ausspielen und Aufstacheln der verschiedenen Völker gegeneinander, aufgehoben und in ihr Gegenteil verwandelt. Unser nationaler Befreiungskampf ist die Basis zur Sammlung all der vom türkischen Kolonialismus benachteiligten Minderheiten, die dort ihre eigene Identität finden. Unsere Partei möchte nicht in einen engen Nationalismus verfallen und betrachtet die Entfaltung aller Minderheitenkulturen in Kurdistan als Reichtum; deshalb sichert sie der Entwicklung jeder dieser Kulturen Freiheit und Unterstützung zu. Sie tritt auf gegen die kapitalistisch-nationalistischen Ansätze, die den reichen kulturellen Boden Kurdistans verleugnen wollen, und möchte Voraussetzungen schaffen, unter denen sich die verschiedenen Kulturen in einer ausgedehnten Harmonie und Freiheit entwickeln können.
Die rückschrittlichen Weltvorstellungen, die seit Jahrhunderten beigetragen haben, die Fremdherrschaft aufrecht zu erhalten, werden im heutigen Kurdistan mit der stattfindenden tiefgreifenden Revolution beseitigt; die kurdische Gesellschaft, die gerade den größten historischen Erneuerungsprozeß durchmacht, setzt an ihre stelle revolutionäre und patriotische Wertvorstellungen.
Die Türkische Republik führt, um diese tiefgreifende Revolution in Kurdistan einzudämmen, einen Spezialkrieg, der sich an überhaupt keine Regeln oder Maßtabe hält. Sie läßt auch politische Einrichtungen beiseite, die früher zur Stärkung der Kolonialherrschaft installiert wurden, und hat in allen Gebieten Kurdistans eine durchgehende Spezialkriegsverwaltung organisiert. Seitens dieser der Türkischen Republik zugehörigen Verwaltung wird in Kurdistan der Spezialkrieg vollzogen.
Die türkische Armee bildet all ihre kampffähigen aktiven Kräfte gemäß diesem Krieg in Kurdistan aus und setzt sie in diesem Krieg ein. Zusätzlich zu den alten Armee-Einheiten wurden Einrichtungen wie ein Spezialkorps, eine Spezialarmee, ein Spezialteam und das Dorfschützersystem geschaffen und die Untergrundorganisation der Konterguerilla ausgebaut. Sich auf diese Kräfte stützend und ohne sich an irgendwelche Regeln zu halten, werden in Kurdistan alle Taktiken des Krieges und alle Mittel auf grausamste Weise eingesetzt. Trotz alledem hat die türkische Armee ihre ehemalige Herrschaft über Kurdistan verloren und ist in eine aussichtlose Lage gekommen.
Im Kampf gegen die politische und militärische Herrschaft der Türkischen Republik in Kurdistan hat unsere Partei eine politische und militärische Dominanz entwickelt. Der Krieg der letzten zehn Jahre und besonders die Ereignisse nach 1990 haben diese Dominanz offen zu Tage treten lassen. Nunmehr besteht in Kurdistan eine Art doppelter Macht. Die Gefühle und Gedanken des kurdischen Volkes haben sich revolutioniert. Massenorganisationen und die nationale Befreiungsfront formen mit ihren verschiedenen legalen und illegalen Vereinigungen eine breite Führungskraft, und die kurdische Bevölkerung wird in großem Maß von dieser Kraft geleitet. Die von unserer Patei in Verlauf des Krieges organisierte Volksbefreiungsarmee umfaßt Zehntausende heldenhafte Kämpfer; sie ist in allen strategischen Regionen Kurdistans stationiert und versetzt dort die türkische Armee in einen Zustand der Unbeweglichkeit.
Das Geschehen in Kurdistan wird von dem Kampf zwischen den beiden Mächten bestimmt. Sobald die kämpfenden Kräfte es zu ihren eigenem Vorteil erachten und wenn es die Kriegssituation erlaubt, können auch andere Formen des politischen Kampfes eingesetzt werden.
Der von unserer Partei gegen den türkischen Kolonialismus geführte revolutionäre nationale Befreiungskampf hat mit seinen bis jetzt erreichten Erfolgen wichtige politische und soziale Entwicklungen mit sich gebracht. Es hat sich erwiesen, daß das höchstgradig reaktionäre, ungerechte und mörderische Spezialkriegsregime des türkischen Kolonialismus besiegt werden kann, wenn keine Fehler gemacht und die politisch-militärische Linie unserer Partei in der Praxis umgesetzt wird.