Die Geschichte Kurdistans

In unserem Land Kurdistan, das eines der fruchtbarsten Gebiete dieser Welt ist, wurde in der Geschichte der Menschheit zum ersten Mal der Übergang zum Ackerbau, zum seßhaften Leben und zur Zucht von Haustieren vollzogen. Seit alters her lebten verschiedene Stämme in diesem Gebiet, die eine spezifische Entwicklung der Kultur durchmachten. Aus diesem Grund spielte diese Region über eine lange Zeit hindurch die Rolle einer Wiege der Zivilisation. In ihr befanden sich reiche mineralische Vorkommen wie auch Verbindungswege zwischen den Zivilisationen. Diese günstige Lage brachte jedoch auch Nachteile mit sich, so daß unser Land seit früherster Zeit auch immer ein Kriegsschauplatz war. Im Verlauf solcher Ereignisse verschwanden entweder einige Stämme oder wurden gezwungen, unter Okkupation zu leben.
Die Bestrebungen unseres Volkes, sich in unserem Land anzusiedeln, begannen, als die Meder um 1000 v. Chr. auf der historischen Bühne auftauchen. Die Meder, die dem arischen Zweig der indo-europaïschen Gruppe zuzurechnen sind, führten einen jahrhundertenlang währenden Krieg gegen ihre Nachbarn, die Perser und Assyrer, um sich in diesem Land niederlassen und ausbreiten zu können.
Die Meder gründeten, nachdem sie zuerst die Perser und dann, 612 v. Chr., die Assyrer besiegt hatten, das größte Imperium der damaligen Zeit. Die Grenzen dieses damaligen Imperiums umfaßten ungefähr jene des heutigen Kurdistan. Die langen Jahre der Kämpfe erweckten in ihnen einerseits ein eigenes nationales Bewußsein, andererseits förderten sie die Entwicklung ihres freiheitsliebenden Charakters. Sie nahmen die Kulturen der vor ihnen in dieser Region ansässigen Stämme in ihre eigene Kultur auf und spielten in der Herausformung dieser neuen Kultur die Vorreiterrolle bei der Bildung unserer nationalen Werte.
Das Reich der Meder, das den Charakter eines despotischen, sklavenhaltenden Imperiums angenommen hatte, wurde 550 v. Chr. von den Persern besiegt. Mit diesem Datum beginnt für unser Volk auch die Phase der Unterwerfung unter eine permanente Tyrannei und Okkupation. Unser Volk lebte vom 6. Jahrhundert v. Chr. bis zum 7. Jahrhundert n. Chr., als arabische Truppen in die Region einfielen und sie besetzten, unter der Okkupation verschiedener sklavenhalterischer Imperien. Perser, Griechen und Makedonier, Armenier, Römer, Byzantiner und Sasanieden wählten Kurdistan entweder als Austragungsort ihrer Kämpfe untereinander oder nahmen im Falle eines Sieges im Verlauf dieser Kämpfe unser Volk unter ihre Herrschaft. Da es in beiden Fällen immer zu ärgstem Blutvergießen kam, sah sich unser Volk gezwungen, ständig in den gebirgigen und somit schwer zugänglichen Teilen des Landes zu leben. Dieser Umstand hat dazu geführt, daß wir uns zu einer nach innen gerichteten und separaten Stammesgesellschaft entwickelt haben. In der Feudalzeit hat die Gewalt der Okkupation und Tyrannei, der unser Volk unterworfen war, noch zugenommen. Die Eroberungen der Araber im 7. Jahrhundert verliefen sehr blutig. Die islamische Ideologie verband sich mit der nationalen Entwicklung, und da das Volk auf diese Weise von seinen eigenen Lebenswerten entfremdet und so auch in seiner nationalen Entwicklung behindert wurde, war dies ein Faktor dafür, daß das Volk unter fremder feudaler Herrschaft verblieb.
Die arabische Herrschaft dauerte in ihrer ganzen Unterdrückung bis zum 10. Jahrhundert an. Nach dieser Zeit begann sie sich jedoch abzuschwächen. Das Fehlen einer anderen mächtigen Okkupationsmacht zu jener Zeit führte zu solch günstigen Voraussetzungen, daß unser Volk seine nationale Eigenständigkeit weiterentwickeln konnte. Ergebnis dieser günstigen Verhältnisse war die Gründung einiger feudaler kurdischer Staaten allen voran der kurdische Staat der Marwaniden.
Im 11. Jahrhundert tauchte in Kurdistan eine neue Okkupationsmacht auf. Diese waren die oguzischen Stämme, die sich auf der oberen Stufe der Barbarei befanden und sich nach Annahme des Islam zu einer erobernden Macht entwickelt hatten. Die Türken organisierten sich im Verlauf der Ereignisse sehr rasch zu feudalen Herrschern. Da die Kulturen in jenen Ländern, die sie erobert hatten, weiterentwickelt waren als ihre eigene, wurden die türkischen Stämme zum großten Teil in den Regionen, in denen sie sich niedergelassen hatten assimiliert.
Die Herrschaft der türkischen Feudalherren über Kurdistan (Atabey, Hakan, Sultan), deren Eigenheiten wir kurz skizziert haben, dauerte vom 11. Jahrhundert bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts und war regelmäßig von Gewalt und Massakern geprägt. Alle türkischen Feudalherren wie die Großseldschuken und nach deren Zerfall die Atabey, die Akkoyunlular, die Artikogullari und die anatolischen Seldschuken hielten ihre Herrschaft über Kurdistan aufrecht. Danach fegten die mongolischen Eroberer und Timur wie ein Wirbelwind über Kurdistan hinweg. Ein großer Teil Kurdistans, der zuvor zum Herrschaftsgebiet des safawidischen iranischen Reiches gehört hatte, kam unter die Oberhoheit der Osmanen. Kurdistan wurde so zwischen dem safawidischen un dem osmanischen Reich aufgeteilt.
Alle diese Feudalherrschaften hatten einen gewalttätigen und räuberischen Charakter und waren wiederholt mit einem gewaltigen Widerstand unseres Volkes konfrontiert. Da sich das Volk ihrer Herrschaft niemals völlstandig unterwarf, erhob es bei jeder sich bietenden Gelegenheit das Banner des Aufstandes. Die weitläufigen Gebirge Kurdistans wurden zu dieser Zeit die Festung zur Sicherung unserer Existenz und unserer Freiheit.
Die Periode der osmanisch-türkischen Feudalherrschaft über Kurdistan, die eine große Rolle bei der Aufteilung und Aufsplitterung Kurdistans spielte, begann im 16. Jahrhundert. Der Anteil von Scheich Idris-i Bitlisi, eines Vertreters der Kurdischen Feudaldynastie, bei der Etablierung der Macht der Osmanen in Kurdistan war groß. Durch den Einsatz dieser Person, die in Kurdistan die Rolle eines freiwilligen und offensichtlichen Agenten der osmanischen Sultane spielte, beschleunigte sich zu dieser Zeit die Aufteilung unseres Volkes in zwei große Glaubensrichtungen. Sowohl die osmanischen Sultane als auch die iranischen Schahs profitierten in ihren politischen Zielen von dieser Aufteilung. Sie benutzten Kurdistan einerseits als ein Schlachtfeld für ihre Kämpfe gegeneinander, und andererseits erleichterten diese Kämpfe, bei denen sie das Volk gegeneinander ausspielten, den Verbleib des Volkes unter ihrer Herrschaft. Sogar bis zum heutigen Tag können die türkischen Kolonialisten von dieser Aufteilung profitieren. Anfangs war die osmanisch-türkische Herrschaft nicht sehr stark. Zu jener Zeit verfügten die kurdischen Feudalherren über eine ausgedehnte Autonomie. Diese manifestierte sich im Senden von loyalitätsbekundungen, Soldaten und Geschenken an die Sultane. Als jedoch seit dem 18. Jahrhundert und im Zusammenhang mit dem Kapitalismus, der sich im West-Europa zur herrschenden Produktionsweise entwickelt, die Osmanen immer mehr Niederlagen erleiden mußten und für sie die Einkommensquelle aus den Eroberungen versiegte, verstärkten die Osmanen die Druck und die koloniale Ausbeutung im Innern. Im 19. Jahrhundert verstärkte sich diese Tendenz noch mehr, und nachfolgend breitete sich in Kurdistan, als Gegenreaktion auf Druck und Ausbeutung, eine Aufstandswelle aus, die zahlreiche Stämme umfaßte. Die blutige Unterdrückung dieser Aufstände führte dazu, daß der Druck der osmanischen Herrschaft entscheidend zunahm. Als in Folge des ersten weltweiten Verteilungskrieges das osmanische Reich zerfiel, nahm für Kurdistan der Druck von außen ab. Da in diesen Jahren die imperialistischen Länder in dieser Region die vollständige Okkupation noch nicht hatten etablieren können, waren damals die externen Voraussetzungen für eine Unabhängigkeit äußerst gut. Die internen Voraussetzungen (feudale Stammesstruktur, Nichtexistenz moderner Klassen, Unorganisiertheit) und der Druck der sich wieder reorganisierenden türkischen herrschenden Klassen andererseits erschwerten die Nutzung dieser Voraussetzungen oder machten sie sogar unmöglich. Die jahrhundertelang andauerende feudale Herrschaft über Kurdistan behinderte eine Entwicklung der kurdischen Gesellschaft aus ihrer eigenen Dynamik heraus. Die von fremden Mächten beeinflußte sichtbare Feudalisierung der Stammesstruktur war zumeist kollaborierenden Charakters. Die kurdischen feudalen Schichten, die sich herausgebildet hatten, fanden es für die Verfolgung ihrer eigenen Interessen günstiger, sich nicht auf ihre Eigenständigkeit zu stützen, sondern in Abhängigkeit von fremdem Mächten zu leben. Der Kampf, den sie sich intern um den Erhalt ihrer jeweiligen Vormachtstellungen lieferten, brachte die Gesellschaft an einen schier ausweglosen Punkt.