Sehr geehrter Vorsitzender, verehrte Richter !

Die letzte meiner Verteidigungsschriften übersende ich an die durch Sie verkörperte höchste Institution des Rechts in Form eines sehr kurzen Briefes. Ich bin sicher, dass weitere Ausführungen nicht nötig sind.
Die Ansprache des Präsidenten des Kassationsgerichtshofs zu Beginn des neuen Gerichtsjahres bei Eintritt in das Jahr 2000 ist meiner Ansicht nach von der Qualität eines demokratischen Rechtsmanifests.
Meiner Beurteilung nach waren es mein Wirken und dessen Folgen, die von ihrem Effekt her dieses Manifest von Grund auf so zwingend nötig machten. Vor diesem Hintergrund ist der stattfindende Prozess jedoch tragisch. Der Präsident des Kassationsgerichtshofs erklärte, dass er es für einen großen Mangel hält, in das Jahr 2000 ohne einen Sokrates überzuwechseln.
Meine größte Furcht ist, dass es darum geht, gegen mich auf noch tragischere Weise als gegen Sokrates zu verhandeln und mich allein deswegen zum Gegenstand eines Urteils zu machen, weil ich den Glauben an die festverwurzelten Götter der Ordnung gebrochen und den Engeln der Freiheit das Tor geöffnet hätte, unabhängig davon, wie umfangreich die Beschuldigungen hinsichtlich der Tatseite auch sind. Ich wünsche, dass ein solcher Präsident und seine Richterschaft in diesem Prozess nicht parteiisch sind.
Der Präsident des Kassationsgerichtshofs hat die Distanz des türkischen Rechtssystems zu universalen Rechtswerten in prägnanter Form dargelegt. Er führte aus, dass die Legitimationskapazität der Verfassung gegen Null tendiert. Zugleich vertrat er, dass ein freiheitliches Leben gemäß der den Gedanken, Überzeugungen und Kulturen innewohnenden Werte das Wesen eines modernen demokratischen Rechtsstaates ausmache und über lange Zeit andauernde Verbote die Wahrnehmung dieser Freiheitsrechte verhindern und daher Grund für legitime Aufstände seien. Er fügte hinzu, dass er jedoch während seiner Amtszeit an das formale Recht gebunden gewesen sei. Die wechselseitige Zuspitzung unserer Tragödie liegt in diesen Worten verborgen.
Es ist meine Hoffnung, dass selbst dann, wenn die von Ihnen zu treffende Entscheidung gemäß Paragraf 125 des Türkischen Strafgesetzbuches, der schon seit langem hätte überwunden werden müssen, ausfallen sollte, die aus diesem Prozess zu ziehenden Lehren endlich eine Einführung der universalen Rechtswerte in die Türkei in wahrnehmbarer Weise nicht mehr behindern werden. Obwohl dieser Prozess für die Geschichte, auf Grundlage dieser Verfassung und des existierenden Rechtssystems, zu keiner Zeit eine unabhängige Instanz sein konnte, ist er zu einer Plattform geworden, die den Weg zu einer unabhängigen Gerichtsbarkeit freilegt. Und er stellt auch einen Wendepunkt derart dar, dass die rechtswidrigen Machtquellen der Republik wegen dieser Folgen des Prozesses ihre Systeme nicht weiter aufrecht erhalten können werden. Der Prozess lehrt, dass wir die Quelle einer richtigen Lösung und einer gerechten Macht nirgends anders finden als im Recht und dessen universalen demokratischen Wertmaßstäben, und dass es notwendig ist, an diese gebunden zu sein.
Wie sehr ich der Meinung bin, dass ein nur an die Paragrafen des formalen Rechts angelehntes Urteil keine Gerechtigkeit übt, so sehr werde ich doch immer an dieses im universalen Rechtsbewusstsein erreichte Grundprinzip gebunden bleiben, das sowohl die Quelle von Stärke als auch von Gerechtigkeit ist.
Ich bin der festen Überzeugung, dass ich mir die größte Mühe gegeben habe, unser Land zu einer Heimat zu machen, in der wir gemeinsam und frei leben werden und für eine entsprechende Basis der Republik und ihre Demokratisierung eingetreten bin. Ich glaube auch, dass dies nicht umsonst war.
Ich glaube, dass ich die großen Schmerzen und schweren Verluste, zu denen der stattgefundene bewaffnete Konflikt führte, so schwer empfinde wie kein anderer, und dass der richtigste Ausdruck meiner Bitte um Verzeihung bei allen unseren Menschen darin besteht, dafür zu sorgen, dass nicht noch einmal in diese Bedingungen zurückgefallen wird, und dies auf die effektivste Art zu verhindern. Dies ist für mich der Sinn meines Lebens.
Dieser Kampf hat bewiesen, dass meine Vergangenheit nicht Gegenstand dieses Prozesses sein kann. In meinem Volk habe ich mit meiner freien Identität nur einen sehr begrenzten Platz gefunden.
Aber ich glaube, dass ein Leben in der demokratischen türkischen Republik der Zukunft und in einem durch Beitrag dieses Kampfes geschaffenen freien Zusammenschluss sowohl der richtige Weg ist als auch ein Leben in Würde sein wird.
Auf dieser Grundlage betone ich noch einmal meine Entschlossenheit und rufe alle Menschen und alle gesellschaftlichen Institutionen dazu auf, eine Ordnung des Friedens und der Völkerverständigung zu schaffen. Mit meinen besten Wünschen für einen Erfolg, viele Grüße.

Imrali, den 21. Oktober 1999
Abdullah Öcalan