junge Welt, 12.10.2000

Strafanzeige gegen türkisches Militär

Tod von Andrea Wolf soll juristisches Nachspiel haben

Vor zwei Jahren, im Oktober 1998, wurde die Münchnerin Andrea Wolf von türkischen Soldaten in Kurdistan ermordet. Unter dem Namen »Ronahi« hatte sie sich der PKK-Guerilla angeschlossen. Anfang des Monats hat die bekannte türkische Rechtsanwältin Eren Keskin im Auftrag von Wolfs Mutter Strafanzeige wegen Mordes bei der Staatsanwaltschaft Istanbul gestellt. Ermöglicht wurde dieser Schritt durch die Recherchen einer Internationalen Unabhängigen Untersuchungskommission (IUK), die Freunde und Genossen von Andrea Wolf kurz nach der Nachricht von ihrem Tod ins Leben gerufen hatten. Der IUK war es gelungen, eine Kurdin ausfindig zu machen, die in der- selben PKK-Guerillaeinheit kämpfte wie Andrea Wolf. Sie hatte verborgen in einem Erdloch mitverfolgt, wie die junge Frau unbewaffnet festgenommen, gefoltert und hingerichtet wurde. Die Zeugin kann auch den genauen Ort angeben, an dem sie einige Tage nach dem Gefecht die toten Guerillakämpfer bestattete.
Rechtsanwältin Keskin ist zuversichtlich, daß die Istanbuler Staatsanwaltschaft das Verfahren eröffnet. »Wenn der Prozeß in der Türkei scheitert, können wir noch vor den Europäischen Gerichtshof gehen. Davor müssen wir aber alle Rechtsmittel im Land ausgeschöpft haben«, so IUK-Anwältin Angelika Lex gegenüber junge Welt.
Keine Hilfe gab es vom Auswärtigen Amt in Berlin, an das sich die IUK gewandt hatte: »Wäre Frau Wolf durch türkische Sicherheitskräfte getötet worden, so hätte die Türkei dies sofort mitgeteilt«, hieß es lapidar. Anschließend wiederholte der Referent des Auswärtigen Amtes in seinem Antwortschreiben die bekannte türkische Greuelpropaganda gegen die Arbeiterpartei Kurdistans: Die PKK nehme ihre Verwundeten und Toten mit, wo immer dies möglich sei. Sei es nicht möglich, so komme es sogar vor, daß die PKK Hände und Köpfe der Toten abschneide und mitnehme, um deren Identität zu verschleiern. Es komme auch vor, daß die PKK ihre eigenen Leute töte. Das Auswärtige Amt könne deswegen nicht davon ausgehen, daß Andrea Wolf im Oktober 1998 vom türkischen Militär getötet worden sei. Gegen Rechtsanwältin Eren Keskin, die auch Vorsitzende des Istanbuler Menschenrechtsvereins IHD ist, läuft inzwischen ein Gerichtsverfahren. Keskin hatte in einem Zeitungsinterview erklärt, die türkischen Militärs würden die Demokratisierung des Landes verhindern. Eine Anzeige des türkischen Generalstabs wegen Beleidigung folgte umgehend. Im Falle einer Verurteilung droht Keskin bis zu einem Jahr Haft.
Nick Brauns