Ein Brief von Eva

Um Eva Juhnke unsere Grüsse und unsere Solidarität zu übermitteln, sendete unsere Delegation ihr von Van aus eine Postkarte. Im folgenden dokumentieren wir einen Brief, den Eva uns daraufhin nach Deutschland schickte:

Über Familie Juhnke

Liebe Freunde der Delegation,
ich habe eure Karte aus Van erhalten, auch das beigelegte Foto habe ich erhalten. So habe ich euch, wenn auch nicht im Gericht selbst, so doch auf diese Weise gesehen. Und wie ihr auch selbst richtig betont habt, wenn wir auch räumlich getrennt sind, im Ziel unseres Kampfes sind wir vereint. Aber das Ziel darf nicht die Verbesserung der Haftbedingungen sein, das ist nur in soweit notwendig, als es das tägliche Leben im Gefängnis selbst notwendig macht. Die Gefängnisse sind ein Repressionsinstrument. Und als solches nur Teil der gesamten Repression der das ganze Volk gegenübersteht. Wenn im Lande keine Freiheit und keine Menschenrechte herrschen, wie will man das dann ausgerechnet im Gefängnis erwarten? Das Ziel kann nicht in der Verbesserung der Haftbedingungen bestehen, sprich in einer Verbesserung eines Repressionsinstrumentes, sondern das Ziel kann nur in der Aufhebung des Repressionsinstrumentes, ja in der Aufhebung des Repressionsapparates insgesamt bestehen. Wenn das Gefängnis die Funktion hat unsere Identität, uns sozial, politisch, ja sogar physisch auszulöschen, so kann unsere Antwort darauf nur in einem bewussten Umgang damit bestehen. In einem bewusst dagegen angehen.
Das Gefängnis ist ein Symbol. Symbol grausamster und unmenschlichster Folter und Unterdrückung. Aber es ist auch ein Symbol unbeugsamen Widerstandes, getragen von dem Glauben an Freiheit und eine menschliche Zukunft. Der Widerstand in den Gefängnissen wurde so zur Keimzelle einer neuen gerechteren Ordnung. Der heute in den Gefängnissen zu leistende Widerstand ist als Teil des gesamten Kampfes, der den Weg zur Freiheit und Unabhängigkeit zeichnet, zusehen. Das Gefängnis steht in der Position einer Front. Einer Front zwischen Unterdrückung und dem unbeugsamen Willen der Völker nach Freiheit.
Auch in der Geschichte unserer Bewegung kommt dem Widerstand im Gefängnis eine große, zeitweise sogar zentrale Bedeutung zu. Und um nur die wichtigsten Stationen des breiten Spektrums dieses Widerstandes, der mit dem Blut unserer Märtyrer geschrieben wurde, zu beleuchten ...
In der Nacht des Newroz (21. März) 1982, in einer der dunkelsten Phasen der Geschichte des kurdischen Volkes, entzündete der Genosse Mazlum Dogan im Militärgefängnis Diyarbakir durch das zünden dreier Streichhölzer die Fackel, die den Weg zur Befreiung eines Volkes wies. Er tat es in einer Nacht, die schon historisch im Leben des kurdischen Volkes das Symbol des Widerstandes und der Befreiung des kurdischen Volkes von Fremdherrschaft war. Fand er auch selbst den Märtyrertod, sein Ruf “Widerstand ist Leben” wurde zum Ruf des ganzen Volkes. Die Gefängnisse, die ihnen ein Grab sein sollten, wurden so zu Burgen des Widerstandes, zum Symbol des Lebens.
Seinen Weg fortsetzend fielen am 17. Mai die Genossen Ferhat Kurtay, Esrel Anyik, Mahmut Zengin und Necmi Öner, indem sie sich selbst entzündeten. 
Ihnen folgend traten am 14. Juni 1982 die Genossen in den Hungerstreik. Die Genossen Kemal Pir, M. Hayri Durmus, Akif Yilmaz und Ali Cicek gaben ihr Leben für das Leben und die Freiheit des Volkes. Der Widerhall des Rufes ihres Widerstandes reichte weit über die Gefängnisse hinaus, überschritt die Grenzen, eilte in die Welt. Und fand seine Antwort 1984 in der Aufnahme des bewaffneten Kampfes. Ihr Ruf “Widerstand ist Leben” fand in den Bergen Kurdistans die Antwort: “Der Kampf ist der Sieg”.Auch in jüngster Zeit setzt sich der Kampf in den Gefängnissen gegen Verrat, Kapitulation und Unterdrückung unerschütterlich fort. So gaben am Newroz dieses Jahres die Genossin Sema Yüce und der Genosse Fikri Baygeldi im Gefängnis Canakkale ihr Leben. Ihr Kampf wurde zum Aufschrei nach Freiheit.
Und wenn heute die Öffentlichkeit dem Thema Demokratie und Menschenrechte etwas offener gegenüber steht, so ist das der Verdienst des Widerstandes, auf dessen Weg so viele Freunde in den Märtyrertod gingen und derer, die den von ihnen beschrittenen Weg unbeirrbar fortsetzen. Die Unterdrückung dauert jedoch unvermittelt an. So habt ihr sicher von dem Angriff am 24. September 1996 gegen die inhaftierten Freunde im Diyarbakir Gefängnis Kenntnis erhalten. Durch den Angriff von Seiten des Wachpersonals und der Kontra wurden unzählige Freunde verletzt. 10 Freunde wurden dabei grausam niedergeschlachtet indem man ihnen mit Eisenstangen die Schädeldecke zertrümmerte...

Auch in jüngster Zeit sind ähnliche Angriffe in verschiedenen Gefängnissen zu beobachten. So ist es noch gar nicht lange her das im Gefängnis Mus unsere Freunde einem Angriff von Seiten des Wachpersonals ausgesetzt waren.

Die Repression im Gefängnis geht einher mit einer Welle der Repression, die sich über das ganze Land hinzieht. Sei es das die alternative Presse (zur staatlich gelenkten) einer unbegrenzten Zensur unterworfen ist, in vielen Gegenden ihr Vertrieb sogar generell verboten ist, ja sie wird sogar zur Zielscheibe von Bombenangriffen. So wurde vor ein paar Tagen das Büro der Zeitung “Ülkede Gündem” in der Stadt Batman durch eine Bombenexplosion verwüstet.Die Verhaftungswelle, der nicht nur aktive Demokraten zum Opfer fallen, sondern auch die Bevölkerung aus den Dörfern, dauert unvermindert an. Nach wie vor gibt es Verschwundene. Und deren Angehörige, die ihren verständlichen Kummer zum Ausdruck bringen und durch ihren Protest das Verschwinden weiterer beenden wollen, sind zunehmenden Angriffen ausgesetzt.

In letzter Zeit kommt es auch vermehrt zur Schändung der Leichen unserer Märtyrer......

Das ganze geht einher mit einem überdimensionalen Propagandafeldzug.

Die Repression hat ihre Wurzel in der Kolonialisierung Kurdistans. Sie hat das einzige Ziel diesen unakzeptablen Status aufrechtzuerhalten. Nur die Beendigung der Kolonialisierung Kurdistans kann die Repression beenden. Der Schlüssel zur Lösung der Probleme besteht in einer Änderung des Statusquo unter dem Kurdistan steht. Darauf muß sich unser Kampf richten.Wehrte Freunde, ich wünsche euch in eurem, nein in unserem gemeinsamen Kampf viel Erfolg.

Mit revolutionären Grüßen
   Eva

Mus, 09. Juli 1998

Eva Juhnke
Kadin siyasi kogut
Mus E-tip Cezaevi
Türkiye