Ein Jahr ist vergangen

FATMA NEVIN VARGÜN

Auch wenn einem manche Phasen sehr lang vorkommen, so vergeht doch das, was wir Zeit nennen, sehr schnell. Schon ein Jahr ist seit dem Tod von Ekin Ceren und Uta vergangen. Die Nachricht von ihrem Tod hat damals Aufruhr und Unglauben in uns hervorgerufen. Das Leben zwingt einen dazu, große Sehnsucht aushalten. Da geht mir seit einem Jahr nicht mehr aus dem Kopf, das haben wir nicht vergessen. Und gerade in einer Stadt wie Ankara, in der die Erinnerungen jeden Tag aufgefrischt werden, ist vergessen ohnehin unmöglich.

Seit jenem Tag sterben weiterhin junge Menschen. Die Welt, auf der es nicht nur unglückliche Unfälle gibt, sondern darüber hinaus auch sinnlose Kriege, ist wie ein Todeszentrum für die Jugend. Wenn man die soziologischen Ursachen mal beiseite lässt und die Sache mit offenem Auge und menschlichem Herzen betrachtet, dann ist es schwer, dem Grauen des Krieges irgendeinen Sinn zu geben – ein Mechanismus, der wegen der vom Menschen geschaffenen Probleme, die er sich weigert zu lösen, entstanden ist und beschlossen wird aufgrund fehlender Lösungskapazität derer, die eben nicht mehr jung sind. Blutjungen Menschen wird eine Waffe in die Hand gedrückt und nachdem ihnen beigebracht worden ist, wie sie sie zu benutzen haben, heißt es: „Los, geht und bringt Menschen um“. Auf der anderen Seite bemüht sich die Wissenschaft, das Leben von Menschen zu verlängern. Es gibt ständig neue Medikamente und Behandlungsmethoden. Die Menschen in stabilen und entwickelten Ländern leben länger und qualitativer.

Im Gedanken an Ekin kommt einem unweigerlich der Gedanken, dass sie jetzt bei uns wäre, wenn dieses System anders wäre. Um das Grauen dieses Systems zu verschleiern, werden wir mit dem „Schicksal“ getröstet. Wer weiß, vielleicht ist es auf diese Weise einfacher, mit dem Schmerz klar zu kommen. Aber ist es nicht ein großes Verbrechen, den Krieg, der doch eine Erfindung des Menschen ist, Schicksal zu nennen? Es existieren schließlich auch Länder, in denen Menschen mit neunzig Jahren noch gesund sind, in denen es kaum Verkehrsunfälle gibt, in denen Probleme ohne Krieg, sondern mit Worten gelöst werden.

Wir sind zu einer Gesellschaft geworden, die kaum noch Reaktion zeigt angesichts dieser Verurteilung zu einem Leben mit ständiger Gewalt und ständigem Leid, im gleichzeitigen Wissen, dass es auch andere Beispiele und Lebensformen gibt. Zu einem Land, das reich an Mafiabanden ist. In dem das alle egal ist. Gewalt auf den Straßen, Gewalt in den Häusern. Und es kann sogar passieren, dass wir ohne es zu merken, zu Befürwortern und Anwendern von Gewalt werden, obwohl wir uns selbst für friedliebend halten. Der Gedanke, dass die jungen Menschen, die man geliebt hat, nicht mehr leben, zehrt einen auf. Man denkt, dass es angesichts dieses Gefühls unmöglich ist, zu weiteren Toten zu schweigen, aber wir können sogar den Tod heilig sprechen.

Der Tod von Jugendlichen und Kindern ist nicht heiliger als das Leben. Es ist heiliger, sein Leben dem Kampf für ein längeres und besseres Leben der Menschheit zu widmen. Wenn wir die Menschenrechte verteidigen, dann müssen wir das Recht auf Leben in den Vordergrund stellen, es preisen und uns anstrengen. Bemühen wir uns wohl ausreichend darum, zu hinterfragen, wie sehr wir in unserem Land, in dem so viele Menschen sterben, dabei Erfolg haben? Diese Frage sollten wir uns vielleicht öfter stellen.

Das alles kommt mir sofort in den Kopf, wenn ich an dieses eine Jahr denke, das vergangen ist, seitdem Ekin uns verlassen hat. Es handelt sich auch um einen Aufstand gegen diese Todesfälle, die zu früh, zum falschen Zeitpunkt und so nah stattgefunden haben. Am Mittwoch, dem 31. März werden wir um 13 Uhr vor ihrem Grab stehen. Was anderes können wir nicht tun. An der Seite von ihren lieben Eltern, die eine unglaubliche Geduld gezeigt haben, mit ihren Freundinnen und Freunden, die sie lieben und nicht vergessen werden.

Quelle: Gündem, 29.05.2006, ISKU