junge Welt, 27.06.2001

Gericht ohne Beweismittel

Prozeß in Türkei zum Thema sexuelle Gewalt vertagt.

Zeitungsverleger angeklagt

Am vergangenen Donnerstag endete der zweite Prozeßtag vor dem Istanbuler Strafgericht gegen 19 Personen, die sich gegen sexuelle Gewalt in Polizeihaft in der Türkei engagieren, bereits nach 45 Minuten. Das Verfahren wurde auf den 18. Oktober vertagt.

Den 18 Frauen und einem Mann wird vorgeworfen, den türkischen Staat und seine Sicherheitskräfte verleumdet zu haben. Sie sollen Mitorganisatoren und Redner auf einem Kongreß zum Thema sexuelle Gewalt im Juni 2000 in Istanbul gewesen sein. Auch beim zweiten Prozeßtag waren Delegationen aus Berlin, Freiburg und der Schweiz anwesend, um das Verfahren zu beobachten. Wie beim ersten Termin im März vertagte sich das Gericht, weil etliche Beweismittel fehlten: Zum Beispiel wird der Angeklagten Fatma Deniz Polattas vorgeworfen, auf dem Kongreß gesprochen zu haben. Sie war aber seinerzeit - und ist auch noch heute - in Haft. Jetzt muß erneut untersucht werden, in welchem Gefängnis sie war.

Außerdem muß das Gericht prüfen, ob es korrekt ist, daß gegen fünf der Angeklagten ein weiteres Verfahren wegen desselben Sachverhalts eröffnet wird - es soll am 28. Juni vor dem Staatssicherheitsgericht Istanbul beginnen.

Unter den fünf Frauen ist auch die Anwältin Fatma Karakas. Sie ist Mitbegründerin des Projekts »Rechtliche Hilfe für Frauen, die in Polizeihaft vergewaltigt oder sexuell mißhandelt wurden«. Weil die Frauen die Worte »kurdische Frauen« und »kurdisches Gebiet« gebrauchten, sind sie nach dem Anti-Terror-Gesetz wegen Separatismus angeklagt. Ein weiterer Prozeß begann am 15. Juni: Die Anwältin Eren Keskin und der Verleger der Zeitung Yeni Gündem, Erol Tas, sind wegen Diffamierung des Militärs angeklagt. Auch dieses Verfahren wurde vertagt auf den 12. August.

Andrea Schanz

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Jungle World, 27. Juni 2001, Ausgabe 27/2001

In Istanbul ermittelt die Staatsanwaltschaft gegen Frauen, die öffentlich über sexuelle Folter durch Polizisten berichten.

von angela grünzel, istanbul

Bei der Festnahme wurde ich 1992 in ein Hinterzimmer des Polizeireviers gebracht. Sie begannen, mich zu schlagen, und misshandelten mich mehrmals sexuell. Tagelang verabreichten sie mir Elektroschocks an den Fingern, Zehen und an meinem Geschlechtsorgan. Sie vergewaltigten mich mit einem Knüppel. Manchmal zogen sie mich völlig nackt aus und schütteten kaltes Wasser über mich.« Nasli Top erzählte die Geschichte ihrer Verhaftung im Juni vergangenen Jahres in Istanbul bei einem Kongress gegen Vergewaltigung und sexuelle Übergriffe in der Haft.

Zum ersten Mal berichteten die Frauen einer breiten Öffentlichkeit, was sie erlebt hatten und was in der Türkei alltäglich ist: sexuelle Folter und Vergewaltigung nach einer Festnahme. Die Täter sind Polizisten, Angehörige des Militärs und so genannter Spezialeinheiten. Nasli Top hatte gegen ihren Folterer Anzeige erstattet, das Verfahren endete mit einem Freispruch. Die Berichte der betroffenen Frauen stießen auf reges Interesse der Medien, aber auch der Justiz. Die Istanbuler Staatsanwaltschaft leitete ein Ermittlungsverfahren gegen 18 Frauen und einen Mann ein, die als Betroffene, Angehörige oder Rechtsanwältinnen an dem Kongress beteiligt waren.

Nasli Top ist eine von ihnen, denen Verunglimpfung und Verleumdung des Staates, seiner Organe und des Militärs vorgeworfen wird. Am 21. März dieses Jahres, dem kurdischen Newroz-Fest, fand der erste Prozesstag statt. Die Verhandlung begann mit einer Peinlichkeit für die türkische Justiz. Eine der Angeklagten befand sich zur Zeit des Kongresses in Haft und konnte somit nicht teilgenommen haben. Eine weitere nahm zwar als Moderatorin am Kongress teil, die ihr zur Last gelegten Aussagen hatte sie aber bereits zu einem früheren Zeitpunkt in ihrer Funktion als Journalistin gemacht.

Das Gericht ordnete weitere Untersuchungen an und vertagte den Prozess auf den 21. Juni. Doch am Mittwoch vergangener Woche wurde er aus formalen Gründen auf den 18. Oktober verschoben. Die Angeklagten rechnen damit, dass sich das Verfahren über zwei Jahre hinziehen wird.

Erlebnisse, wie Nasli Top sie schilderte, sind keine Einzelfälle. Seit fast vier Jahren arbeitet in Istanbul ein Projekt, das Frauen unterstützt, die von staatlicher sexueller Folter betroffen sind. 65 Frauen haben sich im ersten Jahr an das Projekt gewandt, bilanziert die Rechtsanwältin Eren Keskin. 52 der Frauen wurden aus politischen Gründen festgenommen, die anderen waren Repressionen ohne Festnahme ausgesetzt.

Die überwiegende Mehrheit der Frauen sind Kurdinnen, aber auch eine Deutsche und vier Sinti oder Roma gehörten zu den Opfern. Die sexuellen Gewaltdelikte lassen sich wie folgt einteilen: 21 Fälle von Vergewaltigung, 42 Fälle von sexueller Misshandlung, ein Fall von Zwangsprostitution, ein Tötungsdelikt mit sexuellem Hintergrund. Bei den Tätern handelte es sich vor allem um Polizisten, Gendarme und so genannte Dorfschützer, die von der Regierung angeblich zum Selbstschutz vor der PKK mit quasi-polizeilichen Funktionen ausgestattet wurden.

Die Dunkelziffer dürfte jedoch viel höher liegen. Seit Jahren führt die türkische Armee einen Krieg gegen die kurdische Bevölkerung mit dem Ziel, sie aus ihren Dörfern zu vertreiben. Insbesondere dabei kommt es immer wieder zu Vergewaltigungen und sexueller Nötigung der Dorfbewohnerinnen durch die staatlichen Machtorgane.

Sexuelle Angriffe auf Frauen im Krieg richten sich an die Gegner, um eine Botschaft zu übermitteln, die auf der Basis des Beschützermythos funktioniert: Bist du nicht in der Lage, deine Frau zu beschützen, ist das der Beweis meines Sieges. So wird die männliche Identität des Gegners zerstört, die sich unter anderem durch die Aufgabe des Beschützens definiert. Die Frau wird als materielles Eigentum des Mannes betrachtet.

Mit der Vergewaltigung geht deswegen ein Machtverlust des Gegners einher. Mit dem vorübergehenden »Besitzerwechsel« vermindert sich der Wert der Frau als potenzielles Eigentum des Mannes. Frauen werden vom Subjekt zum Objekt degradiert. Sie schweigen oft aus Scham. Wie in allen patriarchalen Gesellschaften spielen auch in der Türkei Werte wie sexuelle Reinheit, Unberührtheit und Keuschheit eine wichtige Rolle.

Gesellschaftliche Werturteile belegen das Reden über das Erfahren sexueller Gewalt mit einem Tabu. Da diese Werte ebenso für die Täter gelten, ist sexuelle Folter nicht nur ein Angriff auf den Mann als Besitzer und auf die Ehre der Familie, sondern auch auf die Nation. Insbesondere wenn diese in ihrer herrschenden Kultur einen Zusammenhang zwischen Nation, kulturellem Selbstwertgefühl und weiblichem Körper konstruiert. Die Frau wird zur Hüterin der kulturellen Identität erklärt.

Es kommt häufig vor, dass vergewaltigte Frauen aus der Familie ausgestoßen werden, da ihre Ehre beschmutzt worden sei. Es gibt Fälle, in denen von den Opfern verlangt wird, Selbstmord zu begehen, oder in denen sie von Angehörigen sogar ermordet wurden. Vergewaltigung funktioniert als Destabilisierungsfaktor in der Kriegsführungsstrategie also nur, weil die gegnerischen Parteien die gleichen Wertmaßstäbe haben - die tiefe Missachtung von Frauen.

Das Istanbuler Projekt mit dem etwas holprigen Namen Rechtliche Hilfe für Frauen, die von staatlichen Sicherheitskräften vergewaltigt oder auf andere Weise sexuell misshandelt wurden will das Schweigen brechen. Frauen, die sich individuell wehren - und dazu gehört es bereits, über die erlebte Folter zu reden - müssen oft mit Repressionen rechnen. Durch die Kriminalisierung versuche der Staat eine Organisation der Frauen zu verhindern. »Immer wieder geschieht es, dass Frauen, die die Übergriffe veröffentlichen oder Anzeige erstatten, bedroht, auf der Straße verfolgt und erneut gefoltert werden, erklärt Nasli Top. »Auf diese Weise sollen sie davon abgebracht werden, über die Vorfälle zu sprechen.«