Chronik der Entwicklung der kurdischen Frauenbewegung

„Kämpfend befreien wir uns; befreiend verändern wir uns; verändert lernen wir neu zu lieben...“

Diese Sätze beschreiben das Ziel der YJWK (Yekitiya Jinen Welatparezen Kurdistan - Union der Patriotischen Frauen Kurdistans), die 1987 gegründet wurde. Vor dem Hintergrund der Situation der Frauen im traditionellen Kurdistan eine geradezu unglaubliche Entwicklung, die noch vor wenigen Jahren kein Mensch in Kurdistan für möglich gehalten hätte. In Kurdistan waren die Frauen völlig an den Rand der Gesellschaft gedrängt worden, anders als in Europa hatte es kaum eine Auseinandersetzung über die Rolle der Frau in der Gesellschaft gegeben.

Das erste Ziel der YJWK bestand darin, Frauen für die nationale Befreiung Kurdistans zu organisieren und mobilisieren. Als ersten Schritt galt es, Frauen zu Kundgebungen, Demonstrationen und anderen politischen Veranstaltungen zu motivieren. Für kurdische Verhältnisse war es damals keine Selbstverständlichkeit für Frauen, aus dem Haus zu gehen. Gegen das Argument der nationalen Befreiung fiel es den Männern jedoch schwer, sich gegen die Aufrufe der YJWK zu stellen. Frauen nahmen vor allem zu Beginn der Serhildans (Volksaufstände) im Jahr 1989 eine führende Rolle ein. Dies führte zu einer Veränderung des Status von Frauen und war somit ein revolutionärer Schritt. Ein wichtiger Beitrag zur Bewusstseinsveränderung sowohl bei Frauen als auch bei Männer war erreicht worden. Diese Bewusstseinsveränderung führte zu Konflikten zwischen Frauen und Männer in der Gesellschaft. Viele Tausende junger Frauen schlossen sich der Guerilla an. Die zunehmende Anzahl von Frauen in den Bergen und die aktive Teilnahme von Frauen am zivilen politischen Leben erforderten eine über die nationale Befreiung hinausgehende Organisierung.

Gründung der Union
Vom 8.-18. März 1995 fand der 1. Nationale Frauenkongress statt, auf dem die YAJK (Yekitiya Azadiye Jinen Kurdistan - Union zur Befreiung der Frauen Kurdistans) gegründet wurde. Dieser Kongress stellte den eigentlichen Aufbruch dar. 350 Delegierte diskutierten über die Mängel und Erfolge der YJWK. Inhaltlich ging es vor allem darum, die Notwendigkeit der Frauenorganisierung vor allem in der Armee vor dem Hintergrund der kurdischen Gesellschaftsstruktur zu analysieren. Eines der wichtigsten Resultate dieses Kongresses war der kollektive Lernschritt, dass Frauen stark und trotzdem weiblich sein können. Ein langer Weg, vor allem in der kurdischen Gesellschaft, in der Weiblichkeit durchweg mit Schwäche, Unwissenheit, Initiativlosigkeit gleichgesetzt wurde. Frauen sollten sich überall eigenständig organisieren. Der Versuch sollte zunächst in den Bergen gestartet und schrittweise auf die Zivilgesellschaft übertragen werden. Deshalb wurde 1995 mit dem Aufbau der Frauenarmee begonnen. Die Analyse der Situation der Frau im Befreiungskampf zeigte, dass die Frauenarmee als befreites Gebiet entwickelt werden muss, in dem Frauen die Möglichkeit erhalten, unabhängiges Denken und Handeln zu lernen, um eines Tages in einem befreiten Kurdistan die Gesellschaft zu gestalten.

Frauenbefreiungsideologie:
Einhergehend mit der Organisierung als YAJK wurde die Frauenbefreiungsideologie auf der Basis der "Loslösungstheorie" weiterentwickelt, mit der eine Loslösung von allen reaktionären und hässlichen Eigenschaften des patriarchalen Systems angestrebt wurde. Es ging um eine Revolution im Denken gegen das männliche Herrschaftssystem. In dieser Zeit wurde spürbar, dass die geschlechtergetrennte Organisierung über bloße Frauenarbeit hinaus ging.

Die Parteiwerdung:
1998 wurde mit dem erreichten Niveau im Frauenbefreiungskampf die Gründung einer Frauenpartei aktuell. Die Organisierung als YAJK reichte nicht mehr aus, um die Frauenbefreiungsideologie in die Praxis umzusetzen. Dementsprechend wurde auf dem 2. Frauenkongress die Parteigründung beschlossen, die zugleich auch eine Antwort darstellte auf den internationalen Komplott, in dessen Rahmen der Vorsitzende des kurdischen Volkes Abdullah Öcalan am 15. Februar 1999 von Kenia in die Türkei verschleppt worden war und mit dem die Vernichtung des Befreiungskampfes des kurdischen Volkes und aller Unterdrückten erreicht werden sollte. Am 13. März 1999 wurde die PJKK (Partiya Jinên Karkerên Kurdistan - Arbeiterinnenpartei Kurdistan) gegründet. Die PJKK setzte sich zu Beginn des 21. Jahrhunderts das Ziel, sich auf der Basis eines neuen, zeitgemäßen Sozialismusverständnisses der neuen Zeit anzupassen. Diese Veränderungsphase betraf vor allem das Parteiprogramm, die Organisierungsform und die Kampfmethoden.

Wandlung zur PJA
Die PJKK verfolgte das Ziel die Frauenbefreiungsideologie universal bekannt zu machen, um eine Weltweite Frauenorganisierung zu erschaffen. Tiefgründige Diskussionen über den Werdegang und die Ziele der Partei waren auf der Tagesordnung. Auf dem 3. Parteikongress das 2000 stattfand wurde beschlossen, das Parteiprogramm zu erweitern und den Namen der Partei zu ändern. Der Name wurde in PJA (Partiya Jina Azad - Partei der Freien Frau) umgeändert. Aus dem alten Namen wurden die Wörter "Arbeiterinnen" und "Kurdistan" herausgenommen. Ziel dieser Veränderungen war, eine universelle Frauenpartei zu schaffen.

Der Gesellschaftsvertrag
Im Anschluss an den Kongress, wurde ein „Entwurf für einen neuen Gesellschaftsvertrag“ seitens der PJA erarbeitet und veröffentlicht. Der Gesellschaftsvertrag ist ein Projekt mit der Zielsetzung, eine demokratische Wandlung der Gesellschaft zu verwirklichen, in dem die Frau nicht nur unter geschlechtlichem Aspekt betrachtet wird, sondern die Grundsätze der Teilnahme der Frau am Leben festgelegt werden, unter Berücksichtigung der allgemeinen gesellschaftlichen Interessen.

Der Gesellschaftsvertrag der Frau im 21. Jahrhundert ist von der Qualität eines Frauenbefreiungsmanifestes. Er ist nicht nur für kurdische Frauen, sondern für Frauen der ganzen Welt eine Notwendigkeit. Der Freie Gesellschaftsvertrag der Frau wird das Produkt einer breit angelegten Arbeit sein, die in ihrem Wesen universell und international ist. Es umfasst das Untersuchen und Hinterfragen der - von der auf der Klassengesellschaft basierenden Zivilisation zu Beginn des 21. Jahrhunderts - im Menschen angerichteten Sklaverei und der Naturzerstörung und soll der Stärkung des Freiheitskampfes mit dem Ziel eines an der Frau orientierten Lebens dienen.

Der freie Gesellschaftsvertrag bietet eine Perspektive, die über Jahrtausende der Menschheitsgeschichte aus dem Leben ausgeschlossene Frau im Sinne einer freien Zukunft des Menschen wieder in jeden Bereich des Lebens zurückzuholen, beginnend mit der Ordnung, die ihre Beziehungen zum Mann definiert. In diesem Sinne ist es eine Deklaration, in der alle Regeln und Prinzipien ausgeführt werden, nach denen die Frau sich bezüglich des Mannes, des Kindes, der Natur, der Politik, des Staates, des Rechtswesens, der Kultur und der Kunst nach zeitgenössisch-neolithischen Grundsätzen am Leben beteiligen soll.

Die Eigenschaften des Frauenbefreiungskampfes unter der Führung der PJA:

Ausgehend von der Feststellung, dass der Hauptwiderspruch des Zeitalters der demokratischen Zivilisation die Neuordnung der sozialen Beziehungen auf der Grundlage der Freiheit der Frau und der freien Gemeinschaft der Geschlechter betrifft, wird dieses Zeitalter als die Epoche der Frauenbefreiung betrachtet. Die ideologische, politische und organisatorische Avantgarderolle in der Mission von Antithese und Synthese, die der Frau bei der Errichtung der demokratischen Zivilisation von der Geschichte übertragen wurde, wird von unserem Kampf übernommen. Zu diesem Zwecke wird auf der Basis der Frauenbefreiungsideologie, die demokratische Lösung der kurdischen Frage im Geiste eines freien Kurdistans als Teil einer Demokratischen Union des Mittleren Ostens angestrebt, indem eine Frau erschaffen wird, die ein realistisch-kritisches Verhältnis zu den eigenen Wurzeln hat. Sie muss auf die Frage „wie leben?“ frei Antwort geben und die notwendige Kraft für dieses Leben aufbringen können und auf dieser Grundlage Antithese und Synthese zur bestehenden Zivilisation darstellen. In der Geschlechterbefreiung wird die gleichberechtigte Gesellschaft, in der nationalen Befreiung die freie Einheit der Völker angestrebt.

Demzufolge werden gegen jede Art von patriarchalen, herrschaftsgeprägten, repressiven, antidemokratischen, primitiv-nationalistischen und chauvinistischen Herangehensweisen, demokratische, sozialistische und internationalistische Maßstäbe gesetzt; die Liebe zum eigenen Geschlecht und der Kampf um dessen Freiheit verbindet sich mit einer Konkretisierung des freiheitlichen Willens in der eigenen Person.

Das Zeitalter der demokratischen Zivilisation wird gleichzeitig als ein Zeitalter definiert, in dem Kinder und alte Menschen, die im ausbeuterischen patriarchalen System in die Lage zweiter und dritter Frauen herabgesetzt werden, mit Liebe und Respekt bedacht werden und diese beiden Welten mit der Gesellschaft in Einklang gebracht werden, indem sie sich unter den Bedingungen der demokratischen Gesellschaft entsprechend ihrer speziellen Situation auf der Basis von Freiheit und Rechten neu institutionalisieren.

Im Rahmen dieser Zielsetzungen wird die Errichtung einer zeitgenössischen demokratischen Gesellschaft in der Erschaffung der freien Frau und des freien Mannes erblickt. Dafür wird als vorrangiges Prinzip die Erschaffung einer Frau mit neuen ideologischen, ethischen und ästhetischen Maßstäben auf der Grundlage ihrer Lossagung von den vom patriarchalen System in ihrer Persönlichkeit angerichteten gedanklichen, seelischen und physischen Zerstörungen definiert. Parallel dazu wird an die Wandlung des Mannes auf der Basis der Frauenbefreiungsideologie geglaubt...


Demokratisch – Ökologisches Gesellschaftsmodell:

Das wissenschaftlich-technische Entwicklungsniveau, die sich weiterentwickelnden Menschheitswerte und das Wissen allgemein, bilden eine Zwischenstufe im Übergang zu einem Zeitalter, in dem Staat, Grenzen und Klassen verschwunden sowie Gleichheit, Freiheit und Gerechtigkeit bestimmend sind. Dabei orientiert es sich an dem Modell einer demokratisch-ökologischen Gesellschaft.
Die Zeiten sind jedoch vorbei, in der die klassische Demokratie auf die Interessen einer hegemonialen Gruppe begrenzt bleibt. Die zeitgenössische Demokratie wird ein Selbstverständnis entwickeln, das auf gemeinsamen Kriterien und globalem Konsens beruht. Sie wird ein System aufbauen, das sämtliche gesellschaftliche Schichten gleichberechtigt in sich aufnimmt
Das Wesen von gesellschaftlichen Kategorien, wie das Geschlechterverhältnis, die Frauen, Kinder, Senioren, Klasse, Religion und Glaubensrichtung – welche in den klassengesellschaftlichen Zivilisationen in einen unlösbaren Widerspruch verkehrt wurden – ist fern ab der klassischen Gedankenstruktur, auf konstruktive Weise, neu zu definieren.

Eine demokratisch-ökologische Gesellschaftslösung lässt sich nur außerhalb des hegemonialen kapitalistischen Systems und seiner staatlichen Leitungsfunktionen denken. Sie kann sich erst wirklich entfalten, wenn sich nicht in Begrifflichkeiten wie Klasse gegen Klasse oder Gewalt und Gegengewalt verfangen wird. Die Mittel zur Durchsetzung von Freiheit müssen deshalb auch ihrem Wesen entsprechen.

Das Demokratisch-Ökologisches Gesellschaftsmodell entspricht den gegenwärtigen Bedürfnissen vieler Gesellschaften. Die Vielfalt auf kultureller, sozialer, ethnischer, religiöser Ebene einer jeder Gesellschaft Bedarf einem Koordinationssystem. Bislang allerdings sind nur wenige Modelle bekannt, die nicht auf Herrschaft beruhen. Seit Anbeginn der Geschichte bis heute beruhen Führungsstrukturen auf Herrschaft. Gesellschaftliche Machtverteilung war und ist nicht emanzipatorisch. Entsprechend dieser Tatsache ist es von Nöten Führungsstrukturen zu finden, die jedes Mitglied der Gesellschaft mit seinen Besonderheiten umfassen kann. Dialog, Gleichberechtigung und Verständigung stellen die Basis des demokratisch-ökologischen Gesellschaftsbewusstseins dar. Jedes Mitglied sollte die Möglichkeit haben die eigenen Interessen vertreten zu können und folglich Zugang zu Entscheidungsgremien bekommen. In der Führungsstruktur der Frauenpartei allerdings war es bislang Tatsache, dass Entscheidungen innerhalb der hierarchischen Leiter getroffen worden sind. Die politisch instabile Lage um Kurdistan stellte zwar einen wesentlichen externen Grund für diese Hierarchie da, doch ist die Beeinflussung durch das Leninistische Parteimodell des 20. Jahrhunderts der entscheidende Grund.
Sowohl die Kriterien für die Mitgliedschaft als auch die hierarchischen Strukturen haben im Laufe der Zeit erwiesen, dass sie grundlegend nicht im Einklang mit der Frauenbefreiungsideologie standen. Denn die Frauenbefreiungsideologie ist nicht nur aus philosophisch und gesellschaftlicher Hinsicht eine andere Perspektive, sondern muss auch als Alternative in der praktischen Organisationsstruktur umsetzbar sein. Aus diesem Grund haben Frauen in der PJA seit fast zwei Jahren (2002...) angefangen Parteimodelle für Frauenarbeiten in Frage zu stellen. Es geht nunmehr darum entsprechend der Frauenbefreiungsideologie, die im Grunde eine soziale, d.h. nicht geschlechtsspezifische Ideologie ist, ein entsprechendes Praktizierungs- und Organisierungsmodell zu entwickeln.

Das Parteiprogramm (Deutsch), sowie der Entwurf für einen neuen Gesellschaftsvertrag (Deutsch, Englisch, Französich), sowie weitere Informationen können bei Cenî bestellt werden.

Cenî – Kurdisches Frauenbüro für Frieden e.V.
Grupellostr. 27
40210 Düsseldorf / Deutschland
email: ceni_frauen@gmx.de