Partei der freien Frau, PJA (Partiya Jina Azad)
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PJA-Solidaritätsverein
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Mai/Juni 2003


Informationsdossier

Können die Probleme in der Türkei mit einem ‘Reuegesetz’ gelöst werden?

 

Inhalt:

1- Zur politischen Situation in der Türkei

2- Was beinhaltet das aktuelle ‘Reuegesetz’?

3- Warum Generalamnestie?

4- In Aktion: Demokratie von unten

5- Presseerklärung des KNK (Kurdistan Nationalkongress)

6- Was können Sie tun?


I. Die Kampagne „Generalamnestie für gesellschaftlichen Frieden“ in der Türkei unterstützen!

Wir befinden uns in einer Zeit, die sowohl für die gesamte Welt als auch insbesondere für den Mittleren Osten einen Wendepunkt darstellt. Die politische Struktur des 20. Jahrhunderts ist einhergehend mit der Irak-Intervention in eine neue Phase getreten. Der Status Quo im Mittleren Osten, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts geformt wurde und den Mittelpunkt von Kriegen und Veränderungen ausmachte, ist heute in scharfer Form mit seiner eigenen Auflösung konfrontiert. Insbesondere für die Völker des Mittleren Ostens stellt die Militärintervention gegen das Saddam-Regime im Irak kein Ergebnis dar, sondern den Beginn einer Veränderung, die sich vom Mittleren Osten ausgehend entwickeln wird.

Der sich auflösende Status Quo im Mittleren Osten hat den Kurdinnen und Kurden keinerlei Rechte zugestanden. Die Herrschenden in diesem Status Quo haben Kurdistan zwischen der Türkei, Iran, Irak und Syrien aufgeteilt und niemals die Stimme erhoben gegen die Verleugnungs- und Vernichtungspolitik der Staaten, die über jeweils einen Teil Kurdistans herrschen. Nach dem Motto ‚Wirtschaftliche Interessen sind politische Interessen’ wurden die Augen geschlossen angesichts der Vernichtung des kurdischen Volkes. Diese Herangehensweise galt nicht nur dem kurdischen Volk, sondern ebenso dem aramäischen, armenischen und anderen Völkern. Der Punkt, an die Regimes der Region sich getroffen haben, war die Verleugnung und Vernichtung kurdischer Existenz.

Der Status Quo ist seit einiger Zeit in einen Entwicklungsstau geraten. Davon wurden selbst die westlichen Staaten negativ beeinflusst, die im Bündnis mit diesem Status Quo standen. Hauptsächlich verantwortlich für diese Entwicklung waren die Völker, die jahrelangen Widerstand gegen die antidemokratischen Regime leisteten. Eines dieser Völker ist das kurdische Volk. Mit seinem dreißigjährigen Widerstand und der 15-jährigen Frauenbewegung bezog es Stellung gegen die reaktionäre Denkweise und Regime im Mittleren Osten. Das kurdische Volk führte unter Führung des KADEK-Vorsitzenden Abdullah Öcalan im Namen aller unterdrückten Völker einen Kampf für Freiheit und Demokratie.

Der beste Beweis dafür, dass die USA, die EU und auch die Türkei außer in leeren Versprechungen nicht daran denken, dem Mittleren Osten Demokratie und sozialen Frieden zu bringen, stellt ihr Beharren auf der Ausweglosigkeit dar. Auf die Suche nach einer friedlichen Lösung und die Aufrufe zum Frieden von Abdullah Öcalan entgegneten sie mit einem internationalen Komplott und der altbekannten Vernichtungspolitik. Die verschärften Isolationsbedingungen, denen Abdullah Öcalan ausgesetzt ist, verweisen auf die Politik, die gegen das kurdische Volk angewendet werden soll. Die Isolierung Abdullah Öcalans gilt dem kurdischen Volk. Indem Abdullah Öcalan daran gehindert wird, Politik zu machen, soll das kurdische Volk an politischer Betätigung gehindert werden. Es ist das Werk derjenigen, die im Mittleren Osten keine Demokratie und keinen gesellschaftlichen Frieden wollen und auf Krieg, auf Leid und Tränen drängen.

Der KADEK (Kongress für Freiheit und Demokratie Kurdistans) kämpft im Geiste der Auffassung, dass es die demokratische Entwicklung ist, die die Zukunft prägen wird. Er arbeitet für einen gerechten Frieden und eine Lösung im Mittleren Osten. Diejenigen, die sich seit vielen Jahren mit den reaktionären, antidemokratischen Regimes geeinigt haben, befinden sich in Angriffsposition gegen diese Arbeit. Der KADEK soll als verbrecherisch und terroristisch gebrandmarkt und außen vor gehalten werden. Auch die Türkei, die eine der wichtigsten Parteien in den Problemen im Mittleren Osten darstellt, zeigt diese Herangehensweise und arbeitet nicht auf eine Lösung, sondern auf eine Vertiefung der Ausweglosigkeit hin. In der kurdischen Frage setzt sie auf Verleugnung, Unterdrückung und Vernichtung. Sie befindet sich in einer Sackgasse und behindert eine Demokratisierung im Mittleren Osten. Noch immer sind in der Türkei grundlegende Rechte wie muttersprachlicher Unterricht und Medien und freie Kulturausübung nicht gesetzlich gesichert. Die Türkei bemüht sich um eine Mitgliedschaft in der EU, aber sie ist nach wie vor weit davon entfernt, im Inland einen gesellschaftlichen Frieden zu sichern. In ihren Kerkern befinden sich Zehntausende Gefangene. Die KADEK-Forderung nach einer demokratisch-politischen Partizipation wird abgelehnt. Die Türkei macht deutlich, dass sie eine Lösung ablehnt.

Die PJA als Vertreterin der kurdischen Frauenbefreiung kämpft für die Befreiung von Frauen weltweit und ist die einzige Frauenpartei im Mittleren Osten. Sie ruft die Türkei sowie die EU und die USA, die Wert auf ihren Einfluss im Mittleren Osten legen, dazu auf, sich an der von Abdullah Öcalan entworfenen demokratischen Lösung der kurdischen Frage als eine der grundlegendsten Fragen im Mittleren Osten zu beteiligen.

Wir rufen die internationale Öffentlichkeit, alle demokratischen und humanistischen Kreise sowie unsere Freundinnen und Freunde zur Unterstützung der in der Türkei begonnenen Kampagne für eine unterschiedslose Generalamnestie, die auch die zehntausend Kämpferinnen und Kämpfer umfassende KADEK-Guerilla und die zehntausend politischen Gefangenen umfasst. Eine solche Amnestie ist ein wesentlicher Schritt für eine demokratische, friedliche Lösung. Wir möchten mitteilen, dass die Bemühungen des türkischen Staates für ein neues „Reuegesetz“ vergeblich sind. Dieser Gesetzesentwurf basiert auf Kapitulation und Entwürdigung. Er ist lediglich dazu geeignet, die bestehenden Probleme zu vertiefen. Die Freiheit von Abdullah Öcalan sowie seine freie politische Betätigung sind unverzichtbare Bedingungen für einen gesellschaftlichen Frieden. Die KADEK-Guerilla in den kurdischen Bergen fordert, gemeinsam mit dem Vorsitzenden eine Beteiligung am politischen Kampfprozess.

Auf dieser Basis rufen wir die Öffentlichkeit im Rahmen der Kampagne „Generalamnestie für gesellschaftlichen Frieden“ zur Unterstützung der folgenden Forderungen auf:

- Freiheit für den KADEK-Vorsitzenden Abdullah Öcalan, Aufhebung der Isolation, politische Betätigungsfreiheit - Gesetzliche Garantie der Rechte des kurdischen Volkes auf muttersprachliche Kultur, Medien und Unterricht sowie Aufgabe der Verleugnungspolitik in der Türkei - Als Teil einer Lösung der kurdischen Frage der Erlass einer unterschiedslosen Generalamnestie, die eine Beteiligung der Gefangenen und der Guerilla am politischen Leben ermöglicht - Akzeptanz unseres Vorsitzenden Abdullah Öcalan und des KADEK als Dialogpartner in der Lösung der kurdischen Frage

Der Weg zu einer Lösung führt über die Freiheit von Abdullah Öcalan. Der Weg zu einer Lösung führt über die Anerkennung und die gesetzliche Festlegung der Rechte des kurdischen Volkes. Der Weg zu einer Lösung führt über eine unterschiedslose Generalamnestie.

II. Was beinhaltet das Reuegesetz?

Bis heute sind in der Türkei sechs Mal sogenannte ‘Reuegesetze’ erlassen worden, um linke Bewegungen zu unterdrücken und eine alternative ‘Lösung’ zu schaffen. Bei der siebten Version, die aktuell im Zuge der Diskussion um die EU-Anpassungsgesetze entstanden ist, handelt es sich laut Angaben des türkischen Innenministeriums um eine Erweiterung der Vorgängergesetze. Dabei stellt sich die Frage, warum die vorherigen sechs Auflagen des Reuegesetzes nicht zu einer Lösung beigetragen haben. Es zeigt sich, dass auch der neue Gesetzentwurf nicht zu gesellschaftlichem Frieden führen wird.

Beispiele aus dem neuen Gesetzentwurf:

- Nach Angaben des Innenministeriums wird mit dem Gesetz angestrebt, neben den bereits Inhaftierten die noch in den Strukturen der Terrororganisationen tätigen Personen dazu zu bringen, sich der Justiz zu stellen.

Was hier als terroristisch bezeichnet wird, sind diejenigen, die das Recht auf eigene Identität, Kultur und Sprache einfordern, die sich zu diesem Thema in mündlicher oder schriftlicher Form äußern und in diesem Sinne für ihre demokratischen Rechte und Freiheiten kämpfen. Es sind in erster Linie Kurdinnen und Kurden. Von diesen Menschen wird erwartet, dass sie Reue zeigen. Kann von einem Individuum, das für eine gerechte Sache kämpft, Reue und Kapitulation erwartet werden? Ohnehin hat dieser Kampf begonnen, weil innerhalb des bestehenden Systems keine Möglichkeit für freie und demokratische Meinungsäußerung vorhanden war. Mit dieser Herangehensweise der Regierung ist es eine Lösung unvorstellbar. Im Gegenteil bedeutet sie einen Rückschritt und den Verlust der in den letzten vier Jahren erreichten Erfolge.

- Denjenigen, die von dem Gesetz profitieren möchten, wird ein neues Gesicht, eine neue Identität und ein neuer Lebensbeginn zugesichert. Entsprechend der jeweiligen Situation wird eine gestaffelte Amnestie erlassen werden. Personen, gegen die kein Urteil, kein Ermittlungsverfahren und kein Haftbefehl aussteht, obwohl sie sich in der Organisationsstruktur befinden, können nach kurzer Haftdauer ein neues Leben anfangen. Personen, die bereits verurteilt sind, gegen die Ermittlungsverfahren laufen oder per Haftbefehl gesucht werden, erhalten Strafminderung.

Auf Reue und Abschwören sollen eine Reihe Rechte zugesprochen werden. Das Individuum ist frei. Für einige politische und wirtschaftliche Vorteile soll die eigene Identität und soziale Realität verleugnet werden. Nirgendwo auf der Welt sind bisher politische, soziale und kulturelle Probleme durch die Forderung nach Reue oder ihre Missachtung gelöst worden. Die Guerilla, die politischen Gefangenen und ihre UnterstützerInnen zur Aufgabe ihrer Ziele aufzufordern, für die sie dreißig Jahre lang gekämpft haben, bedeutet an den Punkt zurück zu kehren, an dem die Probleme aufgetaucht sind. Wenn das neue Gesetz als Neuauflage der Politik von Unterdrückung und Vernichtung erlassen wird, wird es keine Veränderung hervorrufen. Erneuerung bedeutet, diese Politik aufzugeben.

- Personen, die die Organisation verlassen, sich stellen und durch die Preisgabe von Informationen zum Antiterrorkampf beitragen, bekommen wie in den vorherigen Gesetzen die Möglichkeit, ein neues Leben zu beginnen. Die Hilfestellung reicht dabei von Gesichtsoperationen über eine neue Identität bis zur Gewährleistung ihrer Sicherheit durch Umsiedlung in eine andere Stadt und einen neuen Arbeitsplatz.

Ein neues Gesetz darf nicht wie das Reuegesetz der lebenslangen Entfremdung von der eigenen Identität dienen, sondern muss als ‘Gesetz für Frieden und demokratische Partizipation’ zur Demokratisierung beitragen. Ein Demokratisierungsprozess in der Türkei kann nur im Frieden mit der kurdischen Bevölkerung erfolgreich verlaufen. Wenn die kurdische Frage dreißig Jahre lang eine Demokratisierung in der Türkei verhindert hat, dann ist eine gerechte Lösung dieser Frage nötig. Diese Lösung muss zu Frieden und Geschwisterlichkeit zwischen dem kurdischen und türkischen Volk führen. Es geht nicht darum, um die Vor- und Nachteile eines Reuegesetzes zu sprechen. Auf der Basis einer Kultur der Einigung müssen gleiche Rechte für alle herrschen und ein Leben mit der eigenen Identität und Kultur möglich sein. Auch der Staat muss seiner eigenen Bevölkerung gegenüber den Frieden erklären.

III. Warum Generalamnestie?

Demokratische Veränderung und Neustrukturierung Wie wir oben bereits zum Ausdruck gebracht haben, durchlebt der türkische Staat eine wichtige Phase. Als Ergebnis der Verleugnungs- und Vernichtungspolitik, die seit vielen Jahren Anwendung findet und sich nahezu zu einer Denk- und Lebensweise entwickelt hat, haben mehrere aufeinander folgende Militärputsche stattgefunden. Tausende RevolutionärInnen, DemokratInnen, Intellektuelle, SchriftstellerInnen und Menschen vom Volk wurden zur Flucht gezwungen, verhaftet, gefoltert und ermordet. Die Antwort des Staates auf die Forderungen seiner BürgerInnen nach Menschenrechten, Demokratie und Frieden bestand immer aus Gewalt. Hauptleidtragende dieses Zustandes war objektiv betrachtet das kurdische Volk. Betroffen war jedoch die Gesamtbevölkerung der Türkei. Insbesondere nach dem einseitigen Waffenstillstand der PKK von 1998 bestand die Möglichkeit eines Friedensprozesses. In den letzten vier Jahren sind wichtige Schritte für Demokratisierung und einen gesellschaftlichen Frieden gesetzt worden. Um zu dieser Entwicklung beizutragen, entwickelte unser Vorsitzender Abdullah Öcalan das Projekt ‚Demokratische Republik’. Dass diese Bemühungen eine Antwort fanden, zeigt sich durch den Kampf der Menschen verschiedener ethnischer Herkunft innerhalb der Türkei. Es sind wohl noch nie so viele zivilgesellschaftliche Organisationen in der Türkei gegründet worden wie in diesen vier Jahren. Während sich jedoch die Bevölkerung der Türkei zu 80 Prozent für Frieden und Demokratie ausspricht, geben die Regierenden im Staat ihre Verleugnungs- und Vernichtungspolitik nicht auf. Zwar ist es im Rahmen des EU-Mitgliedschaftsprozesses auf gesetzlicher Ebene zu einige Veränderungen gekommen, aber es herrscht nach wie vor die gleiche Mentalität. Die Gesetzesänderungen reichen für grundlegende Veränderungen und eine Neustrukturierung der Türkei nicht aus.

Weder Verleugnung noch Abspaltung – Demokratische Republik Für die Überwindung der Probleme in der Türkei ist ein veränderter Blickwinkel auf die kurdische Frage unabdingbar. Auf der einen Seite wird das Problem verleugnet, auf der anderen Seite wird versucht, es mit ‘besonderen Methoden’ zu lösen. Aber dieses tiefgreifende und drängende Problem kann weder durch Ignoranz noch mit antidemokratischen Methoden gelöst werden. Verleugnung, Unterdrückung und Verdrängung führt nur zu einer Vertiefung der Widersprüche. Aus diesem Grund muss vor allem die durch die ‘kurdische Phobie’ verursachte Seperatismusangst überwunden werden. Das kurdische Volk mit seinem Vorsitzenden Apo und unserem Kongress KADEK hat mit den unternommenen Schritten seine Aufrichtigkeit, sein Verantwortungsbewusstsein und seine guten Absichten bewiesen. Warum werden die Hände zurückgestoßen, die gereicht werden, um die Völker zu befrieden? Ohne Lösung der kurdischen Frage lässt sich in der Türkei kein Problem lösen, weil alles von einer Demokratisierung abhängt. Deshalb muss diese Frage vorrangig behandelt werden. Sie lässt sich nicht mit entwürdigenden Methoden wie dem Reuegesetz lösen, sondern einzig und allein auf demokratische und friedliche Weise. Ein Beharren auf dem Reuegesetz bedeutet, den seit dreißig Jahren andauernden demokratischen Kampf nicht anzuerkennen und zu verleugnen. Reuegesetz bedeutet, die Menschen die Forderung nach Rechten bereuen zu lassen. Es bedeutet, sie dazu zu bringen, diese Forderung als falsch anzuerkennen und die gegen sie gerichtete Verleugnungs- und Vernichtungspolitik zu legitimieren.

Hinter dem Reuegesetz steckt eine patriarchale Denkweise Ob in der Türkei oder weltweit – niemand bereut es, für Demokratie, Frieden und Freiheit gekämpft zu haben. Mit dem Bewusstsein, das Frauen mit ihrer zentralen Stellung im Demokratisierungsprozess erlangt haben, können sie ihren Kampf um Gleichheit, Freiheit und Gerechtigkeit niemals bereuen. Als Frauen nehmen wir die Diskussionen um das Reuegesetz ernst. Es handelt sich dabei nicht um eine neue Situation. Das System in der Republik Türkei funktioniert seit achtzig Jahren auf diese Weise. Jedes System ist Produkt einer Denkweise. Auch das Reuegesetz entspricht der 5000-jährigen patriarchalen Denkweise. Mit dieser Denkweise werden seit Tausenden von Jahren die Völker ausgebeutet und zur Dunkelheit verdammt. In der Geschichte wurden als erstes Frauen Opfer dieser Denkweise und über die Frauen die gesamte Gesellschaft. Wenn von denjenigen, die gegen die Sklaverei aufgestanden sind und gegen die Grausamkeit für Demokratie, Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit eintreten, verlangt wird, Reue zu empfinden, dann wird damit zu aller erst an die Frauen die Botschaft gerichtet: Füge dich in dein unvermeidliches Schicksal.

Den Kampf für Demokratisierung unterstützen Die Menschheit hat das 21. Jahrhundert mit großen Hoffnungen begonnen, aber bereits in den ersten Jahren dieses neuen Jahrhunderts haben die Kriegsglocken geläutet. Dagegen entstand eine globale Friedensbewegung. Ihre Kraft reichte vielleicht nicht aus, um den Irak-Krieg zu stoppen, aber der Kampf für Demokratie und Frieden weltweit und in der Türkei ist daraus gestärkt hervorgegangen. Dieser Kampf muss weiter entwickelt werden. Reaktionäre Unternehmen wie das zur Zeit diskutierte Reuegesetz müssen als eine Politik gegen das vorhandene Demokratisierungspotential begriffen werden. Inhalt und Form dieser sich von unten entwickelnden Bewegung sind die Demokratisierung der Türkei und ihre Ausstattung mit zeitgenössischen Werten. Während die USA und die EU eine Entwicklung der Türkei fördern müssten, unterstützen sie Initiativen wie das Reuegesetz. In diesem Sinne denken wir, dass es sich dabei nicht nur um ein internes Problem der Türkei handelt, sondern ein internationales.

Ohne Lösung der kurdischen Frage kein Frieden im Mittleren Osten Das Reuegesetz ist eine Provokation gegen ein geschwisterliches Zusammenleben der Völker in gerechtem Frieden und Gleichheit. Die momentane Zeit birgt große Möglichkeiten für die Schaffung eines gesellschaftlichen Friedens sowohl in der Türkei als auch im gesamten Mittleren Osten. Mit der US-Intervention im Irak ist ein weiteres Mal deutlich geworden, dass die kurdische Frage eine Schlüsselposition in der Region darstellt. Die Türkei ist dabei mit einer bedeutenden Aufgabe konfrontiert. Der Erlass einer Generalamnestie könnte den Anfangspunkt in einem Lösungsprozess darstellen. Dafür allerdings muss sich die Politik in der Türkei und die dafür verantwortliche Regierung eine mit Inhalt gefüllte demokratische Herangehensweise sowie eine mutige und entschlossene Haltung aneignen. Millionen TürkInnen, KurdInnen, LasInnen, TscherkessInnen arbeiten angestrengt daran, das Schicksal der Türkei auf den Kopf zu stellen. Diesem Bemühen muss mit Wertschätzung begegnet werden. Wir sind der Auffassung, dass der Schlüssel für die bestehenden Probleme in der Türkei die Lösung der kurdischen Frage mit demokratischen und friedlichen Mitteln ist. Gleichzeitig würde eine solche Entwicklung die gesamte Region positiv beeinflussen. In dieser Überzeugung unterstützen wir die die Kampagne “Bedingungslose Generalamnestie für einen gesellschaftlichen Frieden” und stellen folgende Forderungen:

- Unser Vorsitzender steht für die Demokratisierung der Türkei und eine politische Lösung, die fern von Nationalismus ist und auf der Geschwisterlichkeit der Völker aufbaut. Wir fordern die Aufhebung seiner Isolation, eine gerechte Antwort auf seine Bemühungen für Frieden, die er seit vier Jahren unter schwersten Bedingungen aufrecht erhält, seine Freilassung und die Gewährung aller politischen und sozialen Rechte für ihn. - Wir fordern eine bedingungslose Generalamnestie für alle politischen Gefangenen und die Gewährung aller politischen und sozialen Rechte für sie. Weiterhin muss die Guerilla der Volksverteidigungskräfte in diesen Prozess einbezogen werden, damit alle bewaffneten Auseinandersetzungen ein Ende finden. Mit gesetzlichen Regelungen muss eine demokratische Atmosphäre hergestellt werden. Die Militäroperationen gegen die nach Einstellung des bewaffneten Kampfes in Selbstverteidigungskräfte umgewandelte Guerilla müssen beendet werden. - Wir fordern Gedanken- und Organisationsfreiheit, soweit diese nicht Feindschaft zwischen den Völkern provoziert und Gewaltmittel verteidigt. - Wir fordern eine verfassungsrechtliche Garantie kurdischer Identität, Sprache und Kultur sowie Ausdrucksfreiheit. - Wir fordern die Aufhebung jeglicher Beschränkung von kurdischen Medien. Rechtlich müssen sie türkischen Medien gleichgestellt sein. - Wir fordern eine Ausweitung der Kompetenzen regionaler Regierungen und damit fortschreitende Demokratisierung. - Wir fordern die Gewährleistung der Rückkehr in ihre Dörfer für die Menschen, die zur Flucht gezwungen worden sind. Dafür müssen die Dörfer neu aufgebaut werden. Für einen Neuanfang in der Produktion muss Unterstützung geleistet werden. - Wir fordern die Aufklärung von extralegalen Hinrichtungen und die Verurteilung der Täter. - Wir fordern in den anderen Teilen Kurdistans im Rahmen einer demokratischen Einheit eine auf eine Lösung ausgerichtete Politik, die Aufnahme und Vertiefung der Beziehungen zu den kurdischen Bewegungen und die dafür notwendige Unterstützung. - Wir fordern, die Beziehung zu den anderen Staaten in der Region, in denen ebenfalls die kurdische Frage besteht, nicht auf Kurdenfeindlichkeit aufzubauen, die bestehende Politik zu überwinden und eine demokratische Lösung zu fördern. - Wir fordern nach der Durchführung der notwendigen politischen, juristischen und verwaltungstechnischen Regelungen Neuwahlen unter einem demokratischen Wahlgesetz.

Wir sind davon überzeugt, dass die Umsetzung unserer Forderungen zu einer Demokratisierung der Türkei beitragen und damit eine neue Zeit anbrechen wird.

IV. In Aktion: Demokratisierung von unten

In der Türkei wird die Forderung nach einer Generalamnestie für gesellschaftlichen Frieden bereits seit Wochen von verschiedenen Gruppierungen zur Sprache gebracht. Insbesondere sind es Frauen, die den gesellschaftlichen Frieden zu ihrer Sache machen und sich mit der konkreten Forderung nach einer Generalamnestie für Versöhnung und Einigung einsetzen.

In Istanbul hielten DEHAP-Frauen eine Kundgebung ab. Sie hielten Schilder mit der Forderung nach einer bedingungslosen Generalamnestie sowie der Aufschrift „Wieso sollten wir bereuen, wenn wir nicht schuldig sind“ in die Höhe. In einem Redebeitrag hieß es: „Zur Zeit wird zum sechsten Mal – diesmal von der AKP – versucht, ein Reuegesetz zu erlassen. Dieses kann jedoch keine Lösung sein. Es zeugt vielmehr davon, dass immer noch versucht wird, die kurdische Frage mit den altbekannten, aber längst Bankrott gegangenen Methoden zu lösen. Dieses Gesetz wird nicht zu gesellschaftlichem Frieden, zu Einheit und Geschwisterlichkeit beitragen, sondern im Gegenteil die Widersprüche noch vertiefen. Eine Türkei, in der gesellschaftlicher Frieden und Demokratie herrschen, wird zum stärksten Land des Mittleren Ostens werden. Auch deshalb müssen endlich mutige Schritte für eine Lösung der kurdischen Frage gesetzt werden.“ Weiterhin wurde darauf verwiesen, dass Frauen am stärksten sowohl in psychologischer als auch in sozial-ökonomischer Hinsicht unter den Geschehnissen gelitten hätten. Sie seien nicht bereit, einen erneuten Ausbruch des Krieges zu dulden. „Die kurdische Frage wird weder mit Isolation noch mit einem Reuegesetz gelöst werden können. Wir sind davon überzeugt, dass eine Lösung mit demokratischer Einheit, mit Frieden, Geschwisterlichkeit und demokratischer Partizipation verwirklicht wird. Kein Reuegesetz, sondern eine unterschiedslose, bedingungslose politische Generalamnestie wird der Türkei zu einer Demokratisierung verhelfen.“

Neben den DEHAP-Frauen waren es vor allem die Frauen der Initiative „Mütter für den Frieden“, die der Forderung nach einer Generalamnestie in organisierter Form Ausdruck verliehen. So nutzten Mütter aus Diyarbakir und Istanbul den Muttertag als Anlass, das Parlament in Ankara aufzusuchen, um ihr Bedürfnis nach gesellschaftlichem Frieden zur Sprache zu bringen. In schriftlicher Form reichten sie Eingaben und als Friedenssymbole weiße Kopftücher an Premierminister Recep Tayyip Erdogan und Justizminister Cemil Cicek ein. Außerdem trafen sie mit Cavit Torun zusammen, der zugleich Abgeordneter von Diyarbakir und stellvertretender Vorsitzender der Parlamentarischen Menschenrechtskommission ist.

Aus dem Gefängnis heraus meldeten sich die insgesamt 8000 Gefangenen der PJA und des KADEK zum Thema zu Wort. In einer gemeinsamen Erklärung teilten sie mit, sie seien für eine unbewaffnete und demokratische Lösung der kurdischen Frage zu jedem Opfer bereit. In bezug auf die Worte von Justizminister Cemil Cicek, „Wir wollen eine neue Seite eröffnen“, hieß es in der Erklärung: „Aufrichtigkeit aber bedeutet, dass das Gesetz nicht auf ein taktisches Ziel und das Brechen des kurdischen Willens ausgerichtet sein darf. Es muss von Respekt gegenüber den demokratischen Rechten des kurdischen Volkes zeugen. Es darf nicht die Ausweglosigkeit stärken, sondern muss die kurdisch-türkische Geschwisterlichkeit stärken. Es muss sich um eine Friedensvereinbarung des Staates mit den Kurden handeln. Mit dieser Vereinbarung muss das Friedens- und Geschwisterlichkeitsprojekt Anatolien-Mesopotamien möglich gemacht werden.“ Für eine realistische Lösung müsse die Grundlage für eine Diskussion zwischen den Kriegsparteien, aber auch allen politischen Parteien, zivilgesellschaftlichen Organisationen, Intellektuellen, KünstlerInnen, AkademikerInnen und JuristInnen geschaffen werden. Dabei müsse von verschiedenen Meinungen und Gedanken profitiert werden.

Natürlich wird die Forderung nach einer Generalamnestie nicht nur von Frauen getragen. So erklärte Saban Dayanan vom Istanbuler IHD-Vorstand bei der Veröffentlichung des Menschenrechtsberichts vom Monat April: „Das Reuegesetz, das mit dem Anspruch der Sicherung des gesellschaftlichen Friedens in der Türkei auf die Tagesordnung des Parlamentes gesetzt worden ist, wurde bereits früher ausprobiert und hat keinen anderen Zweck erfüllt, als den gesellschaftlichen Frieden zu vergiften. Das Reuegesetz, oder mit anderen Worten, das Überläufergesetz wurde sechs Mal in der Türkei zum Thema. Aufgrund der haltlosen Aussagen von Personen, die davon profitieren wollten, sind Tausende Menschen festgenommen oder verhaftet worden. Damit werden keine Probleme gelöst, sondern im Gegenteil Tausende Geschädigte geschaffen. Die Türkei braucht keine Übergangslösung, sondern Schritte mit bleibender Wirkung. Jahrelang wurde der Boden, auf dem wir leben, mit Blut und Tränen gewässert. Es besteht dringender Bedarf nach Frieden und Geschwisterlichkeit. Deshalb müssen gesetzliche Regelungen diesen Bedarf decken können. Die Lösung ist eine unterschiedslose und bedingungslose Generalamnestie.“

Auch aus dem Ausland wurden bereits Stimmen laut, so unter anderem aus dem Flüchtlingslager Maxmur im Irak. Die Flüchtlinge aus Maxmur erklärten in bezug auf das geplante Reuegesetz: „Ein Gesetz, das bereits vor seiner Verabschiedung Bankrott gemacht hat, kann unmöglich vom kurdischen Volk akzeptiert werden. Zu keiner Zeit haben die Reuegesetze unsere Anerkennung gefunden und das werden sie auch niemals. Es gibt nichts zu bereuen. Wir sind diejenigen, deren Dörfer zerstört wurden, die zur Flucht gezwungen wurden, die Opfer extralegaler Hinrichtungen wurden, an denen Massaker verübt wurden.“ Um in ihre Dörfer zurück kehren zu können, forderten die Flüchtlinge eine beschleunigte Demokratisierung und den Erlass einer Generalamnestie.

V. Exekutivrat Kurdistan Nationalkongress:

Der türkische Staat ist verantwortlich für den Tod von Ismet Baycan

Ismet Baycan, Mitglied der ersten Friedensgruppe, ist im Gefängnis von Mus verstorben. Er hatte sich seit einiger Zeit in einem schlechten Gesundheitszustand befunden, doch bedauerlicherweise hatten sich die Gefängnisbehörden aus innenpolitischen Gründen geweigert, ihn behandeln zu lassen, so dass sein Tod unausweichlich wurde. Der türkische Staat ist aus diesem Grunde unmittelbar verantwortlich für den Tod des Friedensbotschafters Ismet Baycan.

Der KNK verurteilt dies aufs schärfste. Ismet Baycan ist ein Märtyrer für den Frieden und für Kurdistan. Wir sprechen seiner Familie und unserer Nation das Beileid aus.

Bekanntermaßen ist am 2. Oktober 1999 die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) dem Aufruf Abdullah Öcalans gefolgt, hat ihren bewaffneten Kampf eingestellt und sich auf den Weg einer friedlichen und demokratischen Auseinandersetzung begeben.

Weil die PKK ihr Engagement für die neue Strategie zeigen wollte, ging ein Reihe von Guerillas, die sogenannte erste Friedensgruppe, in die Türkei und übergab um des Friedens und einer demokratischen Lösung willen ihre Waffen.

Die Antwort der türkischen Behörden war leider harsch. Die Botschafter des guten Willens wurden bestraft. Anschließend verweigerte man in einer unmenschlichen Entscheidung einem Menschen im Gewahrsam der Behörden die medizinische Behandlung und wurde so verantwortlich für seinen Tod.

Dieses Ereignis macht deutlich, wie weit der türkische Staat im Hinblick auf Frieden und Demokratie von der kurdischen Nation entfernt ist. Das derzeit vorbereitete Reuegesetz ist ein weiterer Beleg für diese Haltung. Der Staat verlangt von den Kurden, Tod und Gefängnis hinzunehmen und auf dieser Basis das neue Gesetz zu akzeptieren. Durch dieses fortgesetzte, unkonstruktive Verhalten des türkischen Staates wird das neue Gesetz zum Scheitern verurteilt. Der KNK verurteilt noch einmal diese Methode und die inhumane Politik des türkischen Staates, die zu diesem tragischen Tod geführt haben.

Brüssel, 25. Mai 2003

VI. Was können Sie tun?

Beteiligen Sie sich an unserer Kampagne “Nein zum Reuegesetz – Für eine Generalamnestie – Gegen die Isolation von Abdullah Öcalan“.

Schicken Sie Briefe, E-mails und Faxe an die unten angegebenen Adressen und fordern auch Sie

- eine Generalamnestie statt Reuegesetz - die Aufhebung der Isolationshaft von Abdullah Öcalan - eine demokratische Lösung der kurdischen Frage und somit die Demokratisierung der Türkei

 

An den Staatspräsidenten der Türkei Herrn Ahmet Necdet Sezer Çankaya Köþkü 06573 Ankara TÜRKEI E-mail: cumhurbaskanligi@tccb.gov.tr Fax: +90.312 427 13 30

An den Ministerpräsidenten Herrn Recep Tayip Erdogan Basbakanlik 06573 Ankara TÜRKEI Fax: (00 90) 312 417 0476 E-mail: agul@abdullahgul.gen.tr

An den Justizminister Herrn Cemil Cicek Bakanliklar 06659 Ankara TÜRKEI Fax: + 90 312 417 3954 / 418 5667 Tel: +90 312.419 46 69 E-mail: ccicek@adalet.gov.tr

An den Innenminister Herrn Abdülkadir Aksu Icisleri Bakanligi 06644 Ankara Fax: +90 312 418 17 95

Bundeskanzler Gerhard Schröder Deutscher Bundestag Platz der Republik 1 11011 Berlin Fax: 030/227-36 878 oder 227-36979 E-mail: gerhard.schroeder@bundestag.de

Außenminister Joschka Fischer Auswärtiges Amt 11013 Berlin Fax: 030 / 5000-3402

Schicken Sie bitte auch eine Kopie Ihres Schreibens an: pja.women@gmx.net

 

1. Juni 2003
PJA Partei der Freien Frau pja.women@gmx.net