Özgür Politika, 26. August 2002

Die Chance für Frauen, mit der Geschichte abzurechnen

Interview mit Gülizar Tural (Mitglied im KADEK-Präsidialrat und PJA-Parteirat)
zur Bedeutung der Wahlen vom 3. November 2002 in der Türkei für Frauen

- Durch die Vorwahlzeit sind Frauen noch stärker in Bewegung. Was bedeuten die
Wahlen Ihrer Meinung nach für Frauen?

Die 57. Regierung der Türkei ist bankrott gegangen, aus diesem Grund gibt es
vorgezogene Neuwahlen. Es handelt sich jedoch nicht nur um die Auflösung einer
Regierung, sondern ebenfalls um die Auflösung der Mentalität, die die Politik in
der Türkei bestimmt hat, um die Auflösung eines politischen Mechanismus, der
Jahrzehnte angedauert hat. Mit der bisherigen Politik ließ sich kein einziges
konkretes, aktuelles Problem von Frauen beheben.

So ist in den letzten zwanzig Jahren eine Situation entstanden, in der eine von
männlichem Charakter beherrschte Mentalität den Völkern Massaker erbracht hat
und die Frau in grenzenloser Form als Gebrauchsgegenstand und Besitz benutzt
wurde. Die Prostitution erfuhr in der Türkei den stärksten Aufschwung in den
Kriegsjahren. Während des Krieges ist ein sinnentleerter, haltloser Typ von
Jugendlichen entstanden. Und schließlich waren türkische und kurdische Frauen
permanent Opfer der von Männern festgelegten Politik und wie alle anderen Frauen
dem sozialen, sexuellen und traditionellen Leiden unterworfen, das das Frausein
mit sich bringt.

In diesem Bild gibt es außerdem das Gesicht der kurdischen Frauen, die mitten im
Krieg gelebt haben. Über zwanzig Jahre hinweg wurde alle Schönheit, alle Achtung
des Frau- und Mutterdaseins mit Füßen getreten. Und sie hatten noch nicht einmal
wie die türkischen Mütter die Möglichkeit, am Grab ihrer Gefallenen zu weinen.
Sie mussten mit ansehen, wie die Häuser, die sie mit eigenen Händen errichtet
haben, die Felder, die sie bestellt haben, die Dörfer, in denen sie geboren
wurden und aufgewachsen sind, niedergebrannt und zerstört wurden. Sie wurden zur
Migration und zu einem Leben mit einer Sprache und einer Kultur verbannt, die
sie nicht kannten und verstanden. In den Metropolen, in die sie flüchteten,
waren sie mit unzähligen Schwierigkeiten konfrontiert. Bei Festnahmen sind sie
erniedrigt und vergewaltigt geworden, viele haben irreparable Gesundheitsschäden
erlitten. Und parallel zu all diesem waren sie zuhause, innerhalb der Familie
dem Druck der Männer und der Traditionen ausgesetzt. Kurz gesagt, waren es
unsere Frauen und Mütter, die am meisten unter dem Politikmechanismus der Türkei
und der falschen Politik der letzten zwanzig Jahre gelitten haben.

Somit müssen die Frauen den Wahlen am 3. November eine Bedeutung geben, ohne
diese Tatsachen zu vergessen. Bei früheren Wahlen haben türkische und kurdische
Frauen, ohne sich dessen bewusst zu sein, den Kräften zur Regierungsmacht
verholfen, die Urheber ihres Leidens waren. Sie haben ihre Stimme entweder
entsprechend der Meinung ihres Mannes benutzt oder gemäß traditionellen
Gedankenguts oder auch nach religiösen Gefühlen. Viele hatten nicht einmal das
Bewusstsein, ihre Stimme überhaupt zu nutzen. Somit sind die Kräfte, die
jahrelang an der Regierung gewesen sind, nicht von ihrer destruktiven Politik
abgewichen.

Aber am 3. November ist die Gelegenheit, an der die Frauen mit den
Verantwortlichen ihrer erlebten Probleme und Schwierigkeiten eine historische
Abrechnung vollziehen können. Bei diesen Wahlen können sie die Kraft ihrer
Herzen und Gefühle darlegen und dafür sorgen, dass aus den Wahlurnen ein
würdevoller Frieden, die Geschwisterlichkeit der Völker und eine demokratische
Regierung hervorgeht. Sie können zeigen, dass sie Krieg, Gewalt und die
Missachtung der Völker ablehnen.

- Wie sollten sich die Frauen denn konkret an den Wahlvorbereitungen beteiligen?

Natürlich gibt es große Mängel. Es gibt keine starke Frauenbewegung in der
Türkei, der Organisierungsgrad der Frauen lässt zu wünschen übrig. Wenn das
nicht so wäre, hätten schon in den letzten drei Jahren, in denen von einem
partiellen Frieden gesprochen werden kann, von Frauenorganisierungen historische
Schritte gesetzt werden können. Der Frieden hätte stärker untermauert werden
können. Natürlich handelt es sich um sehr tiefgreifenden Probleme. Jetzt liegt
vor uns eine sehr kurze Vorbereitungszeit auf die Wahlen. In dieser Vorwahlzeit
sollten alle Frauen in der Türkei die Wahlen zu ihrem Schwerpunkt machen. In
dieser historischen Phase, in der die Möglichkeit so hoch ist, wirkliche
Veränderungen für die Völker und die Frauen zu erreichen, sollte jede Frau sich
fragen, wie sie dazu beitragen kann und in diesem Geist arbeiten. Es müssen
Treffen mit den verschiedensten Kreisen, mit den Frauenverbänden aller Parteien,
mit einflussreichen Persönlichkeiten stattfinden. Zentrum aller Anstrengungen
muss das Ziel sein, eine Demokratiefront zu erschaffen, die eine demokratische
Regierungsform in der Türkei errichtet. Die gesamte Türkei muss für dieses Ziel
motiviert werden. (...)

Die uns dabei leitende Frage muss lauten: Was für ein Leben wollen wir für alle
Völker und Frauen in der Türkei? Und die Antwort muss eindeutig und konkret
sein.

Fast zwanzig Jahre lang haben Kriegsregierungen die Türkei geleitet. Es ist an
der Zeit, diese endlich von der politischen Bühne abtreten zu lassen.
Beispielsweise müssen in diesen Wahlen alle Frauen die Rechnung mit Tansu Ciller
begleichen, die uns jahrelang hat bluten lassen. Diese Frau muss aus der Politik
entfernt werden. Alle Frauen müssen sich dafür mobilisieren, damit sie nicht ein
weiteres Mal ins Parlament kommt und Profit schlägt aus dem Blut unserer Kinder.
(...)

Von NESRIN ESEN