Wir wollen Gerechtigkeit!

Informationsblatt zur Aufnahme der PKK auf die EU-Liste terroristischer Organisationen, Mai 2002


Wir wollen Gerechtigkeit!

Am 2. Mai 2002 hat die EU die Arbeiterpartei Kurdistans PKK auf die Liste terroristischer Organisationen aufgenommen. Eine Begründung für dieses Vorgehen wurde der Öffentlichkeit nicht geliefert. In kurdischen und demokratischen Kreisen wurde dieser Schritt mit Wut und Besorgnis aufgenommen. Seit Anfang Mai gehen deshalb Kurdinnen und Kurden in Kurdistan, der Türkei und vor allem in Europa auf die Straße, um der Öffentlichkeit mitzuteilen: "Wir sind nicht terroristisch, wir akzeptieren diesen Beschluss nicht und wir fordern Gerechtigkeit."

Was ging dem EU-Beschluss voraus?

Im vergangenen Dezember hatte die EU erstmals eine Liste mit 13 sogenannten "Terrororganisationen" verabschiedet, auf der die PKK nicht enthalten war. Diese Entscheidung erschien logisch, denn unabhängig von den Motiven und Zielen der kurdischen Bewegung hat die PKK ohnehin nach einem 15-jährigen Krieg vor über drei Jahren den bewaffneten Kampf eingestellt und seitdem keinerlei gewalttätigen Aktionen mehr ausgeführt. Obwohl dieser Schritt einseitig blieb und keine Entgegnung von Seiten des türkischen Staates fand, hat sie damit einen Friedensprozess eingeleitet und der unkontrollierten Gewalt und Feindschaft die Grundlage entzogen. Weil sie ihre Aufgabe als vollendet betrachtet, hat sich die PKK Anfang April diesen Jahres auf ihrem 8. Parteikongress aufgelöst. Der neugegründete Kurdische Kongress für Frieden und Demokratie (KADEK) hat das Erbe der kurdischen Bewegung übernommen und sich zum Ziel gesetzt, auf friedlichem und politischem Weg über Kurdistan hinaus eine Demokratisierung des Mittleren Ostens voranzutreiben. Besondere Betonung findet im jüngst beschlossenen KADEK-Programm die Situation der Frau. So wird als eine der Hauptaufgaben im 21. Jahrhundert die Veränderung des männlichen Herrschaftssystem bezeichnet. Das KADEK-Programm ist ein Programm zur Befreiung der Frau und der KADEK ist offen für Menschen jeder Herkunft und jeden Geschlechts.

Warum gerade jetzt?

Warum also hat die EU es gerade jetzt für notwendig gehalten, die gar nicht mehr existierende PKK, die gleichzeitig unverzichtbares Erbe der kurdischen Bewegung ist, als terroristisch zu brandmarken? Nicht einmal eine Begründung wurde den Kurdinnen und Kurden geliefert, die sich mit der PKK identifizieren. Dass die kurdische Bevölkerung in Europa und im Mittleren Osten hinter der PKK steht, wurde im letzten Jahr noch einmal deutlich, als Zehntausende in Europa öffentlich kundtaten: "Ich bin PKK'ler". Und im März diesen Jahres, zu Newroz, waren es Millionen, die wie aus einer Kehle "Es lebe Apo" riefen und Frieden und Demokratie forderten. Offenkundig handelt es sich bei dem EU-Beschluss nicht um eine sachliche, geschweige denn juristisch fundierte Entscheidung, sondern um eine politische, die bestimmte Absichten verfolgt. Bereits vor ihrer offiziellen Veröffentlichung wurde die aktualisierte Liste von EU-Vertretern in Washington auf dem EU-USA-Gipfel präsentiert. Die USA bereiten bekannterweise eine Intervention im Irak vor, für das sie türkisches Territorium nutzen wollen. Und die türkische Armee startete zeitgleich mit der Beschlussfassung der EU eine umfassende Militäroperation in Nord- und Südkurdistan, d.h. sowohl auf türkischem als auch in der UN-Schutzzone auf irakischem Staatsgebiet. In der Türkei werden die Kreise, die aufgrund des eigenen Profites an einer erneuten Eskalation des Krieges interessiert sind, durch die EU-Entscheidung ermutigt. So hat auch prompt Ankara eine neue Liste erstellt, auf der neben Hunderten sogenannter "Unterorganisationen der PKK in Europa" auch Dutzende von etablierten NGO's und Organisationen wie "Ärzte ohne Grenzen", "Reporter ohne Grenzen" und sogar der Internationale Kirchenverband als PKK-Unterstützer aufgeführt sind. Der Schritt der EU dient in keinerlei Hinsicht dem internationalen Frieden und schon gar nicht der Stabilität der Türkei, die durch den 15jährigen Krieg wirtschaftlich und politisch ohnehin stark geschwächt ist. Im Gegenteil richtet sich bei genauerer Betrachtung das europäische Vorgehen über die Kurden und Kurdinnen gegen die Türkei selbst und gegen die Demokratisierungsbestrebungen innerhalb der Türkei. Ohne Lösung der kurdischen Frage besteht keine Chance auf Entwicklung in der Türkei. Weite Kreise haben dies erkannt, und auch der Europäischen Union dürfte diese Tatsache nicht unbekannt sein.

Europäische Koninuität

Bekannterweise rühmt sich Europa seines Demokratieverständnisses. Was aber bedeutet diese Auffassung von Demokratie im konkreten Fall? Die Formel lautet "teile und herrsche". Wie die schwedische Außenministerin Anna Lindh im Vorfeld der Beschlussfassung zur "Terrorliste" bereits offenherzig erklärt hatte, geht es darum, die "guten, demokratischen Kurden" von den "bösen, terroristischen Kurden" abzusondern, d.h. die kurdische Bewegung zu spalten. Die "guten Kurden" kriegen dann ein, zwei kurdischsprachige Sendungen im türkischen Staatsfernsehen, ein bisschen mehr Menschenrechte, ein bisschen weniger Folter, und die "bösen Kurden" werden zum Abschuss freigegeben. Mit der letzteren Aufgabe machen sich die Herren und Damen Europas natürlich nicht persönlich die Hände schmutzig, sondern sie wird den türkischen Spezialkräften überlassen, die ja bekannterweise etwas barbarischer sind.

Diese europäische Taktik hat eine längere und durchaus erfolgreiche Geschichte. Bereits im Abkommen von Lausanne zwischen der Türkei und den führenden europäischen Staaten wurde 1923 der Grundstein gelegt für die Verleugnung kurdischer Identität, obwohl die Kurden entscheidenden Anteil an der Gründung der Republik Türkei hatten. Auch in den darauf folgenden kurdischen Aufständen, die blutig niedergeschlagen wurden, spielte Europa ein doppeltes Spiel, in dem es die kurdische Seite zur Rebellion ermunterte und der türkischen Seite bei der Aufstandsbekämpfung unterstützte. Auch im Krieg zwischen der kurdischen Guerilla und der türkischen Armee, der zu einem Krieg türkischer Spezialkräfte gegen die kurdische Bevölkerung ausartete, in dessen Verlauf Tausende von Dörfern zerstört und Tausende von Menschen von sogenannten "unbekannten Tätern" hingerichtet wurden, lieferte Europa munter Waffen und Unterstützung für den türkischen Staat. Die Türkei wurde dabei immer ärmer und geriet zunehmend in Abhängigkeit vom Ausland. 1999 schließlich wurde der damalige PKK- und heutige KADEK-Vorsitzende Abdullah Öcalan durch einen internationalen Komplott in die Türkei verschleppt, nachdem ihm auf der Suche nach einer politischen Lösung der kurdischen Frage in Europa alle Türen verschlossen blieben. Ziel dieses Komplotts war, auch den zweiten einseitigen Waffenstillstand der PKK vom 1. September 1998 zunichte zu machen und einen Krieg zu provozieren, der blutiger und unkontrollierbarer sein sollte als je zuvor. Und dazu waren die Millionen Kurdinnen und Kurden, die weltweit auf die Strassen gingen, durchaus bereit. Abdullah Öcalan jedoch machte einen Strich durch die Rechnung, indem er zu Frieden aufrief und das Projekt "Demokratische Republik Türkei" entwickelte.

Die "Terrorliste" lässt sich also durchaus als den Versuch einer Fortsetzung des fehlgeschlagenen Komplotts begreifen. Lediglich in einem wesentlichen Punkt scheint sich Europa dieses Mal verrechnet zu haben. Die kurdische Gesellschaft ist nicht mehr wie früher, sie hat sich verändert und entwickelt sich weiter. Wir haben die europäische Taktik erkannt und lassen uns nicht mehr wie früher gegeneinander auspielen, um damit europäischen Interessen zu dienen. In den letzten Jahrzehnten sind innerhalb der kurdischen Gesellschaft Entwicklungen in Gang gesetzt worden, die sich nicht mehr rückgängig machen lassen und zunehmend auch in der Türkei und dem Mittleren Osten auswirken. Eine besondere Rolle spielt auch hier die Situation der Frau, die im Verlauf ihres Kampfes von einem unterdrückten Wesen ohne Rechte zu einer selbstbewussten Kraft geworden ist.

Die jüngste Initiative Europas betrachten wir als einen Angriff auf das von uns neu entwickelte Demokratiekonzept des Mittleren Ostens. Wir sind ein Volk, das mit der Neugründung des KADEK das international anerkannte Selbstbestimmungsrecht aktiv ausführen will. Darüber hinaus geht es uns darum, mit den befreundeten Völkern (Türken, Perser, Araber, Assyrer) gemeinsam entsprechend den Bedürfnissen und der Realität dieser Region eine demokratische Zukunftsperspektive zu entwickeln. Diese beinhaltet vor allem das Selbstbestimmungsrecht der Frauen, weil ohne die Beteiligung von Frauen keine Demokratisierung möglich ist.

Gerechtigkeit, die wir meinen...

Wenn wir Gerechtigkeit einfordern, meinen wir damit die ganze Gerechtigkeit. Wir meinen damit, dass wir es niemals akzeptieren werden, dass die kurdische Bevölkerung und ihr Kampf für ein Leben in Freiheit und Würde als terroristisch bezeichnet wird. Wir meinen damit, dass wir als Kurdinnen und Frauen das Recht haben, uns dort, wo wir leben, in der Sprache, die wir selbst wählen, frei zu artikulieren und zu organisieren, wie wir es für richtig halten. Wir wollen Frieden, wir wollen frei, geschwisterlich und in Würde leben. Wir wollen nicht ein Stück vom Kuchen, keine Gleichberechtigung im herrschenden System, bei der nur die gewinnen können, die sich dem herrschenden Standart am besten anpassen. Wir wollen eine neue Gesellschaft erschaffen.

Was Sie für Gerechtigkeit tun können:

Intervenieren Sie bei Ihren Regierungen gegen die Aufnahme der PKK auf die "Terrorliste"!
Senden Sie Faxe, e-mails, Briefe, Petitionen an PolitikerInnen und das Außenministerium, in denen Sie Ihrem Protest Ausdruck verleihen!
Beteiligen Sie sich an den kurdischen Protestaktionen!


PJA - Partiya Jina Azad
(Partei der Freien Frau)
9. Mai 2002