Özgür Politika, 04.03.2002

Eine Gesellschaft wird neu geschaffen

Siya, die ein Studium der Wirtschaftswissenschaften abgeschlossen hat, erklärt, das Hauptziel sei es, eine freie, auf die Muttergöttin gestützte Gesellschaft zu schaffen. Dies sei die einzige mögliche Antwort auf den Charakter des Zeitalters. Da mischt sich Pelin, eine Grundschulabsolventin ins Wort: "Diese Akademie ist ein Modellbeispiel für die Neuerschaffung nicht nur der Frau, sondern einer Gesellschaft, deren Hauptelement die Frau ist."

von BERMAL DOGAN

Das Thema der Woche von "Stimme der Berge" ist diesmal die Akademie der Freien Frau, die in der Struktur des PJA-Hauptquartier arbeitet. Die Akademie, über deren Alltagsleben und Arbeit wir informieren werden, existiert seit ungefähr anderthalb Jahren. Bisher haben vier Ausbildungseinheiten stattgefunden.

In der Struktur des PJA-Hauptquartiers gibt es ausser der Akademie der Freien Frau Film-, Medien-, Alphabetisierungs- und Forschungsgruppen, sowie eine Männergruppe, die unterrichtet wird.

Natürlich ist es ein bisschen schwer, insbesondere unter winterlichen Bedingungen, das PJA-Hauptquartier zu erreichen, das in bergigem Gebiet in Südkurdistan liegt. Unsere Gruppe gerät in einen Schneesturm und droht zu erfrieren. Wir schaffen es zwar, ohne Unfälle den Sturm zu überstehen, kommen aber zwei Tage lang nicht wieder richtig zu uns. Als wir unser Ziel erreichen, treten wir durch das Tor, an dem "Akademie der Freien Frau" geschrieben steht und laufen auf einem Pfad, der zunächst auf den Appell-Platz führt und sich weiter zur Kamelya erstreckt. Die Kamelya ist in der Akademie der Ort zum Ausruhen, Essen und Fernsehgucken. Wir geraten mitten in eine intensive Diskussion. Die ca. 200 Guerilleras behandeln im Unterricht zur Zeit die Verteidigungsschrift des PKK-Vorsitzenden Abdullah Öcalan an den Europäischen Menschenrechtsgerichtshof. Auch beim Essen setzen sie die Diskussion fort. Bevor wir nach dem anstrengenden Weg mit der Arbeit beginnen, trinken wir ein Glas Tee und ruhen uns erstmal in einer Manga aus, um die Müdigkeit zu überwinden. Unsere Gruppe teilt sich in zwei Arbeitsgruppen. Nach ein paar Schritten sind wir schon bei der ersten Manga.

Film:
"Wir wollen eine Brücke zur Vergangenheit schlagen und die Stimme der Wirklichkeit sein."
Vier Guerilleras im Alter zwischen 19 und 29 Jahren sitzen um einen Ofen und sind in eine Unterhaltung vertieft. Das Thema: die Vorbereitung einer Veranstaltung zum 8. März sowie die Vermittlung der Diskussionsebene der PJA in den Bergen an Frauen weltweit.

Helin ist 21 Jahre alt und in Cizre geborgen. Die letzten drei Lebensjahre hat sie in den Bergen verbracht. Als Kind ist sie gemeinsam mit ihrer Familie aufgrund von Repression zu Fuss in den Süden ausgewandert. Weil sie Kurdin ist und viele Jahre in Lagern der Gegend gelebt hat, sind ihr die Berge nicht fremd. Aber trotzdem sind ihr in den Bergen auch fremde Sachen begegnet (...).

Sorxwin mischt sich ins Wort und teilt mit, dass mit kleinen Veränderungen aus einer Schneiderei ein hervorragendes Studio machbar sei. "Wenn wir über die Näh- und Schneidemaschinen Tücher decken, werden sie zu wunderschönen Tischen", fährt sie fort. Obwohl Sorxwin früher beim Fernsehen Programme vorbereitet und moderiert hat, hat sie nie daran gedacht, diese Art von Arbeit eines Tages bei der Guerilla zu machen.

Auch Berwar beteiligt sich am Gespräch und sagt, dass sie aufgrund mangelnder technischer Möglichkeiten gezwungen seien, geordneter und disziplinierter zu arbeiten. Berwar ist gleichzeitig Kommandantin der Einheit. Sie erklärt, dass die Schönheit der Gruppenarbeit am deutlichsten bei der Arbeit unter schweren Bedingungen fühlbar sei. Auch wenn sie diese Tatsache, also wie versucht wird, das Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft verdreht darzustellen, während ihres Studiums der Kommunikationswissenschaften erlebt hat, so sei doch bei der Arbeit hier ihr gesamtes Wissen auf den Kopf gestellt und neu geformt worden.

Yeknur geniert sich nicht, zuzugeben, dass es ihr zuerst befremdlich vorkam, im letzten Jahr ihres elfjährigen Guerillalebens anstatt mit der Waffe mit der Kamera durch die Berge zu ziehen. Lachend fügt sie hinzu, kurze Zeit später sei sie darin aufgegangen. Besonders geprägt habe sie die Arbeit an einem Programm für Gülnaz Karatas (=Beritan, die 1992 im Südkrieg gefallen ist). Beritan war umzingelt; die KDP-Peschmerga riefen ihr zu: 'Ergib dich, wir werden dich verheiraten, du wirst leben wie eine Rose'. Sie kämpfte bis zur letzten Kugel und stürzte sich danach einen Abgrund hinunter. Für das Programm seien sie auf eben jenen Gipfel gegangen, um dort zu drehen. Das sei der Moment gewesen, in dem sich die Auffassung bestätigt habe, dass die Dreharbeiten in den Bergen, wie sie es selbst sagen, eine Brücke zur Geschichte sind und der einzige Weg, die Wirklichkeit Millionen zukommen zu lassen.

Die Kamera-Einheit wurde vor ungefähr sechs Monaten gebildet. Zwanzig Guerillaangehörige wurden nach einer zweieinhalbmonatigen Schulung in den Bergen Südkurdistans in Untereinheiten organisiert, die sich in verschiedene Gebiete verstreuten. Für die Arbeit in der Akademie der Freien Frau war es diese Einheit. In der letzten Zeit haben sie ein Programm gemacht, in dem die Akademie vorgestellt wird und ein weiteres, das die Oktober-Gefallenen thematisiert. Ausserdem haben sie Veranstaltungen zu verschiedenen Anlässen in der Kampfgeschichte gedreht. Hauptziel der Einheit ist es, das Leben der Guerilleras auf die Bildschirme zu bringen. Dieses Ziel liegt allen Arbeiten zugrunde. Auch wenn sie dafür noch keinen Zeitplan festlegen konnten, ist es ihr gemeinsamer Wunsch, eines Tages alle Möglichkeiten dafür zusammenzukriegen, um einen langen Film zum Thema Leben der Frau zu drehen. Und vielleicht wird auch dieser Wunsch eines Tages Wirklichkeit...

Medien:

Wir gehen zur direkt nebenan gelegenen Manga. An der ganzen Wand entlang ist ein Tisch aufgebaut. Der Anblick von Computern und einer russischen Schreibmaschine darauf führt uns für einen Moment von diesen steilen Bergen in eine ganz andere Umgebung. Wir befinden uns an dem Ort, an dem seit knapp einem Jahr regelmässig monatlich das politische und kulturelle Medienorgan "Tanrica Zilan" (Göttin Zilan) erstellt wird. Die Zeitschrift liegt mit ihrer zehnten Ausgabe bereit für ihre LeserInnen. Sie enthält kurdisch- und türkischsprachige, inhaltlich bunt gemischte Beiträge; darunter Zusammenfassungen von Diskussionen über die Verteidigungsschrift des PKK-Vorsitzenden Abdullah Öcalan und die akademischen Ausbildungseinheiten, Büchervorstellungen, Artikel zu Soziologie, Psychologie, Gesundheit, Literatur sowie Karikaturen und Kreuzworträtsel. Alle Texte werden in dieser Manga gesetzt, layoutet und der Druckerei übergeben. Über ihre Arbeit erzählt Zilan aus der Zeitungsgruppe: "Wir sind Amateure, aber was den Inhalt angeht, anspruchsvoll. Die Quelle dafür ist die disziplinierte Arbeitsatmosphäre. Und natürlich die Berge, die unbegrenzt Material liefern." Auch wenn "Tanrica Zilan" als Frauenmagazin erscheint, spricht sie die gesamte Guerillastruktur an, und es sind die Männer, die kritisieren, dass sie nicht ausreichend Exemplare erhalten.

Wir nähern uns einer Guerillera, die an der Schreibmaschine arbeitet, Leyla Rus. Sie fliegt mit ihren Fingern über die russische Tastatur und füllt das Papier mit Wörtern, die wir nicht lesen können. Leyla ist 25 Jahre alt und 1995 zur Guerilla gekommen. Obwohl sie Russin ist, spricht sie mit uns sowohl kurdisch als auch türkisch. "Keine Sprache darf verloren gehen", sagt Leyla. Warum sie als Russin kurdisch liest und schreibt, erklärt sie folgendermassen: "Wenn die Sprache eines Volkes verleugnet wird, ist es eine sinnvolle und schöne Aufgabe, dass jeder, der es will, diese Sprache lernen und weiterentwickeln kann." Nachdem sie jahrelang kurdisch und türkisch gesprochen hat, hat sie entschieden, unbedingt auch kurdisch schreiben zu lernen, und das ist ihr bei der Guerilla gelungen. Russisch zu schreiben, hat sie gerade erst begonnen, weil es bis vor kurzem unmöglich war, eine russische Schreibmaschine aufzutreiben. Sie erzählt, wie glücklich sie darüber ist, nach fünf Jahren diese technische Möglichkeit zu bekommen, auch wenn es kein sehr fortschrittliches Schreibgerät ist. Lachend sagt sie: "Wenn ich sage, dass ich zu meiner Schreibmaschine eine ganz besondere Beziehung aufgebaut habe, werdet Ihr lachen. Aber für mich ist die Möglichkeit, nach Jahren in meiner Muttersprachen zu schreiben, als ob ich nach Jahren einen verloren, wertvollen Freund wiederfinde."

Silvan ist seit zehn Jahren bei der Guerilla. Sie ist in Syrien geboren und aufgewachsen. Dort wurde sie auf arabisch unterrichtet. Kurdisch lesen und schreiben hat sie bei der Guerilla gelernt. "Wenn es dir ein Bedürfnis ist, strengst du dich auch an. Und je mehr du dich anstrengst, desto grösser wird deine Liebe und du lernst."

In einer Einheit, in der sich insgesamt neun Guerilleras befinden, werden Schreibarbeiten in vier verschiedenen Sprachen ausgeführt: türkisch, kurdisch, russisch und arabisch. Als wir sagen, dass wir eine derartig bunte Mischung nicht erwartet haben, erklärt die Verantwortliche der Einheit Toprak: "Auch ich als Türkin habe mir nicht vorstellen können, dass ich jemals in einer solchen Umgebung sein würde. Das Zusammenkommen in einer Gedanken- und Gefühlseinheit weit über materielle und alltägliche Bedürfnisse hinaus, lässt uns alle Hindernisse überwinden. Ausserdem sind wir alle Frauen aus den verschiedenen Gesellschaften, also die Unterdrückten. Aus diesem Grund ist es viel leichter, als Frauen zusammenzuleben." Ausser der Monatszeitschrift hat die Einheit bisher drei Bücher herausgebracht: Briefe von der Guerilla an den Vorsitzenden (auf arabisch), "Aus dem Herzen der liebenden Frau" (Gedichte von Guerilleras) und ein kurdisches Witzbuch.

Schreiben und Lesen:

Wieder sind wir auf dem Pfad, der tagsüber mit Sonne getränkt und in der Eiseskälte der Dunkelheit gefriert. Diesmal müssen wir etwas höher steigen. Unser Ziel sind die beiden obersten Mangas. Die Jüngsten des Lagers haben sich am höchsten Platz niedergelassen. Sie bilden eine Lese- und Schreibgruppe.

Die Einheit setzt sich aus 18 Guerilleras aus verschiedenen Gebieten Kurdistans zusammen. Sie sind zusammen gekommen, um türkisch lesen und schreiben zu lernen. In der schmerzhaften Zeit des Krieges lebten sie zunächst in Dörfern; dann traten sie der Guerilla bei. Die Hände, die zur Waffe griffen, damit der Krieg ein Ende findet, versuchen jetzt, sich an den Stift zu gewöhnen. Natürlich gibt es zwischen ihnen auch welche, die der Guerilla mit dem Gedanken beigetreten sind, nach dem Krieg in ihre Dörfer zurückzukehren. Aber inzwischen haben sie verstanden, dass das nicht so leicht ist und wichtiger als die Rückkehr der Wandel ist. Wie eine heilige Aufgabe erleben sie jeden Tag die Begeisterung, etwas neues zu lernen.

Verantwortlich für den Unterricht und das Alltagsleben ist die Takimkommandantin Rojda. Sie ist seit sechs Jahren bei der Guerilla. Aber anders als ihre Genossinnen, die gleichzeitig ihre Schülerinnen sind, hat sie vor ihrem Beitritt das Gymnasium beendet. Während sie erzählt, vergisst man manchmal, dass sie eine erfahrene Guerillera ist. "Die Schwierigkeiten der Kriegszeit haben uns keine Gelegenheit gelassen, vielseitigen Unterricht durchzuführen", sagt sie und fährt fort: "Eigentlich versuchen wir uns selbst kennenzulernen, während wir ihnen lesen und schreiben beibringen. Es geht darum, ihr Potential freizulegen, das sie zunächst aufgrund der Umgebung, in der sie aufgewachsen sind, und später aufgrund der Schwierigkeiten im Krieg nicht erkennen und nutzen konnten."

Auch die Hilfstakimkommandantin Dilan hatte zunächst grosse Schwierigkeiten mit den Problemen, die auftraten. Eine Zeitlang haben sie sogar daran gedacht, aufzugeben. "Aber die Freundinnen haben dann doch noch daran geglaubt, dass sie mit Willen und Anstrengung alles schaffen können. Im Grunde genommen haben sie das im Krieg gesehen. Wir haben ihnen gezeigt, dass der jahrelange Kampf einer Frau mit der Waffe in den Bergen etwas aussergewöhnliches ist und eine Frau, die diese Aussergewöhnlichkeit erreicht, alle Schwierigkeiten besiegen kann. Eigentlich war das etwas, was sie gut kennen, und wir haben sie nur daran erinnert."

Untersuchung und Forschung:

Direkt auf der unteren Seite liegen zwei Mangas nebeneinander: die Untersuchungs- und Forschungseinheit, die die bereits veröffentlichten Broschüren Gesellschaftsvertrag, Neolithische Revolution und Geschichte der Religionen erstellt haben. Ziel ihrer Arbeit ist es, so schnell wie möglich dringend benötigte Unterrichtsmaterialien herauszubringen.

Die neun Guerilleras der ersten Manga konzentrieren sich auf die Theorie des Dritten Sektors und wollen eine Broschüre darüber herausbringen. Die Arbeitsgruppe hat sich in Untergruppen aufgeteilt. Sie betreiben Quellenforschung und kommen danach wieder zu Diskussionen zusammen. "Die meisten Materialien sind Werke, die unter dem Einfluss einer bestimmten Weltanschauung geschrieben worden sind. Deshalb müssen sie ausgesiebt werden, die darin enthaltenen Daten müssen auf der Basis unserer Sichtweise verglichen werden", beginnt Siya zu erzählen. Siya hat ihr Studium der Wirtschaftswissenschaften abgeschlossen. Danach interessierte sie sich jedoch mehr für soziale Wissenschaften, und unter dem Einfluss der Analyse der Frauenfrage durch den PKK-Vorsitzenden entschied sie sich, der PKK beizutreten. Sie erklärt, das Hauptziel sei es, eine freie, auf die Muttergöttin gestützte Gesellschaft zu schaffen. Dies sei die einzige mögliche Antwort auf den Charakter des Zeitalters.

Da mischt sich Pelin, eine Grundschulabsolventin ins Wort: "Diese Akademie ist ein Modellbeispiel für die Neuerschaffung nicht nur der Frau, sondern einer Gesellschaft, deren Hauptelement die Frau ist."

In der anderen Manga wird eine Broschüre zur "Renaissance der Frau" vorbereitet. Die Einheit hat sich in zwei Gruppen aufgeteilt, die "Ostforschungsgruppe" und die "Westforschungsgruppe". Verantwortlich für die Einheit ist Dirok, die erzählt: "Es wollte überhaupt keine Freundin freiwillig in die Westgruppe. Das liegt daran, dass wir uns jahrelang in ein westliches Leben verrannt haben. Die Reibungen zwischen dem männlich dominierten Westen und dem frauendominierten Osten ist auch Thema natürlicher Sketche im täglichen Leben geworden."

Eine dreiköpfige Untergruppe konzentriert sich auf Literatur und sammelt Guerillagedichte. Ausserdem wollen sie als Ergebnis umfassender Nachforschungen über 18 Gefallene ein "Gefallenen-Album" herausbringen.

Als sich der Samtvorhang der Nacht auf das Lager legt, kommen alle Einheiten in der Kamelya zusammen, um Fernsehen zu gucken. Die Guerilleras, die tagsüber in verschiedenen Arbeiten stecken, führen zunächst im Flüsterton kleine Dialoge miteinander. Als aus diesen eine lebendige und grosse Gesprächsrunde wird, verlassen wir leise den Ort.