Yedinci Gündem, 2.-8. März 2002

Die moderne kurdische Frauenbewegung

Frauen, deren Sprache verboten wurde, die erschossen werden, weil sie am Brunnen mit einem Mann gesehen worden sind, deren 'Platz am Tisch noch nach dem Ochsen kommt', haben zur Waffe gegriffen und sind in die Berge gegangen, um gegen die jahrtausendealte Unterdrückung die 'Freie Frau' zu erschaffen...

von Nesrin Esen

Mesopotamien, die Wiege der Menschheit, Zentrum der ersten Zivilisation, Kern der Paradiestheorie. Mesopotamien, von der Menschheit entfremdet, im Widerspruch mit seiner Gesellschaftsstruktur und Geschichte... Ein Frauenmarsch nach Mesopotamien, der Wiege der Frauenrevolutionen, bedeutet eine Reise zu einer freien und gleichberechtigten Welt. Das ist im Grunde genommen der Kern der Utopie der kurdischen Frau. Jetzt verfolgen kurdische Frauen, die Nachfolgerinnen von Bese [Anm.: Bese vom Stamm der Alan, Ehefrau von Seyit Riza und Kämpferin im Aufstand von Dersim 1937-38; während eines Gefechtes stürzte sie sich von einem Abgrund, um nicht in die Hände des Feindes zu fallen] und anderen, die Freiheitssuchenden, das Ziel, diese Utopie umzusetzen. Es gibt jetzt eine Melodie von Frauen, die nach ihrer ursprünglichen Identität suchen, ihre eigene Ideologie erschaffen und wie aus einem Mund ihre Organisiertheit zum Ausdruck bringen, ohne einen Unterschied zwischen Rasse, Klasse und Nation zu machen. Mal ein Schrei am Abgrund, mal ein brennender Körper, mal der Mut im Krieg...

Zur Geschichtslosigkeit der Frau

Die Frau erschafft die Gesellschaft, aber wird aus ihr entfernt; sie ist Göttin, aber wird versklavt; sie gehört allen, aber nicht sich selbst. Ihr Körper, ihr Herz, ihr Kopf gehören immer anderen, sind in eine Position gedrückt worden, in der sie immer für andere leben, anderen dienen. Die Frau, die die Geschichte geschrieben und kreiert hat, hat keine eigene Geschichte mehr. In früherer Zeit hat das Jägertum das Sammlertum überholt und damit die Frau ihre Macht verloren. Im Oktober 1917 kam Hoffnung auf für die Frau. Aber die Mängel in der theoretischen Definition und die Ausmasse der begangenen Fehler liessen die 'Nataschas' zum wichtigsten Bestandteil des heutigen Prostitutionsmarktes werden. [Anm.: 'Natascha' werden die meist russischstämmigen Prostituierten genannt, die in der Türkei den Prostitutionssektor dominieren.] Eine Hoffnung verlief im Sande. "Bis die Löwen selbst ihre eigene Geschichte erzählen, werden die Jäger immer die Helden sein." Und wirklich machen einen grossen Teil historischer Schilderungen die Jagdgeschichten aus. Kann die Frau, deren Macht gestohlen, die unbarmherzig eingekerkert wurde, jetzt, wo die von der Mentalität der Männerherrschaft erzählten Jagdgeschichten an Überzeugungskraft verlieren, an die Macht kommen bzw. Teilhaberin der Macht werden? Diese Frage stellt sich die Partei der Freien Frau (PJA), die einen anderen Blickwinkel auf die Frauenfrage aufzeigt. Die PJA definiert die Frauenfrage als wichtigsten politischen Widerspruch des 21. Jahrhunderts und betont , dass die notwendige Linie des Frauenkampfes zunächst von der Frau begriffen werden muss. Laut PJA hat für die kurdische Frau eine Aufklärungsbewegung in Form einer "Renaissance der kurdischen Frau" begonnen. Und hier ist sie, die Geschichte der kurdischen Frau, die bis zur PJA reicht.

Ein stiller Schrei

Die Beteiligung der kurdischen Frau an der Revolution ist ein Ereignis, das Mut erfordert. Denn wenn ein Mädchen geboren wurde, herrschte Trauer im Haus, weil es kein Junge war. Die zu heiratende Person wurde bereits in der Wiege festgelegt. Bevor sie das Leben einer 15-jährigen kennenlernen konnte, wurde sie an einen ihr unbekannten Mann verheiratet. Erst wurde sie von ihrem Vater geschlagen, dann von ihrem Ehemann und von der Gesellschaft. Ihre Kinder konnte sie nicht von Herzen lieben, weil das als ungehörig galt. Wenn ihr Mann starb, wurde sie an seinen Bruder verheiratet. Sie war ein Gegenstand, mit dem Schulden verrechnet wurden. Ausser Hausarbeit hatte sie kein Recht auf Arbeit. Alleine aus dem Haus zu gehen, war ihr verboten. Sie wurde erschossen, weil sie mit einem Mann am Brunnen gesehen wurde. Traditionsgemäß war immer sie die Schuldige. Sie lief immer einen Schritt hinter dem Mann, beschäftigte sich trotz ihrer Produktivität in der Geschichte nur mit der Geburt und Aufzucht von Kindern, verschloss einhergehend mit ihrem Haar und ihren Augen auch ihre Gedanken und vergeudete ihr Leben unter dem Ehrbegriff. Irgendwann kam die Zeit, in der die Männerherrschaftssysteme ihr bestimmte Rechte zugestanden. Diese Rechte waren jedoch lediglich Ausdruck für die Betrachtung der Frau als einer Ware, die von ihrem eigentlichen Wesen entfernt und für den Nutzen des Systems eingesetzt wurde. Die stille Wut darüber spiegelte sich auf ihrem Gesicht wieder und der innere Schrei verwandelte sich in eine tiefe Stille. Der Schrei hätte in Schreie verwandelt werden müssen. Und die Frau nahm die Waffe, die zu ihr zurückgekehrt war und ging in die Berge...

Der Weg in die Berge

Für die Frau in der kurdischen Gesellschaft, die jahrelang intensive Unterdrückung erlebt hat, war es zweifelsohne noch schwieriger, sich aus dieser eingeschlossenen Welt zu befreien, zu ihrem wahren Wesen zu finden und ein darauf aufbauendes Leben zu erschaffen. Denn die kurdische Frau erlebte ausser der gesellschaftlichen Umzingelung die nationale Verleugnung und Vernichtung auf sozialem, politischem und wirtschaftlichem Gebiet noch vielschichtiger. Mit der aktiven Beteiligung am Befreiungskampf fasste die Frau den Beschluss, in den Bergen nach Freiheit zu suchen. Indem sie ihre eigene Ideologie, das eigene Wesen und ihre eigene Organisierung erschuf, begann sie, die Ketten in ihrem Kopf, in ihrem Leben und ihrem Körper zu zerschlagen. Freiheit ist für die Frau zu einer unverzichtbaren Leidenschaft geworden... Die PKK als eine sozialistische Bewegung betrachtete die Frau als das am stärksten unterdrückteste Element und eine Hauptkraft in der Revolution und strebte eine Neuerschaffung der Geschichte der Frau an in dem Bewusstsein, dass 'die Befreiung des kurdischen Volkes mit der Befreiung der kurdischen Frau möglich ist'. Die Frauenorganisierung geht diesen Fakt in einem ideologischen Rahmen an. Sie stellt eine Analyse der Frauenfrage mit einer neuen ideologischen Herangehensweise auf und stellt sagt: "Der Herrschaftscharakter aller bestehenden Ideologien erfordert die Existenz einer auf der Frau aufbauenden, freiheitlichen und gleichheitlichen Ideologie. Deshalb ist eine neue ideologische Herangehensweise, die ebenso wie die Befreiung der Frau auch die Freiheit der Gesellschaft miteinschliesst, Ausdruck des Weges, auf dem die Frau gehen muss." Grundlegender Bestandteil ist die Überwindung aller Männerherrschaftsideologien, der darauf aufbauenden Systeme und von ihnen geschaffenen Lebens- und Beziehungsformen. Der Erfolg auf diesem Weg ist durch Organisierung im politischen, sozialen, kulturellen und allen anderen Bereichen vorgesehen. Die PJA definiert diese organisierte Kraft als die Schaffenskraft eines freien Lebens und fügt hinzu: "Diese Organisiertheit ist die Macht, die gestützt auf die eigene Kraft sich dem Sklavendasein der Frau verweigert und die stattdessen zu installierende Lebensweise Schritt für Schritt in der Gesellschaft existieren lässt. Solange die Frau keine organisierte Kraft ist, können die herrschende Herangehensweise, Mentalität und das herrschende System nicht abgeschafft werden."

Loslösung vom Mann für die eigene Befreiung

Die PJA betont, das für ein gemeinsames Leben und eine partnerschaftliche Macht das Ungleichgewicht im Kräfteverhältnis aufgehoben und die Position der Frau als ein kraft- und willenloses Wesen schnellstens überwunden werden muss. Die Frau muss vollständig ausbrechen aus dem Herrschaftsbereich des Mannes. Durch diesen Aufbruch wird der Männerherrschaft der Raum genommen und somit eine Auflösung des männlichen Herrschaftssystem stattfinden. Sich selbst definiert die PJA als eine Massnahme gegen das männliche System. Die Spezialformel zur Lösung der Frauenfrage lautet nach der PJA folgendermassen: "Solange die Frau sich nicht von dem Einfluss des Mannes befreit, kann sie nicht zu ihrem natürlichen Wesen finden. Der Mann übt grenzenlosen Einfluss auf die Gefühle, Handlungsmotive, Wünsche, Philosophie, Moral und Urteilskraft der Frau aus. Ohne sich zu verändern, ist es nicht möglich, dass die Frau sich davon befreien kann. Der Mann lehnt es ab, die Herrschaft aus der Hand zu geben. Deshalb muss die Frau ihre Befreiung selbst erschaffen. Der erste Schritt dafür war die Armeewerdung der Frau. Einhergehend mit der Armeewerdung ist die Frau der eigenen Kraft und in eingeschränktem Sinne dem eigenen Ich näher gekommen. Als zweiten Schritt vollzieht sie die Loslösung vom Mann. Diese Loslösung ist nicht nur physisch. Sie ist insbesondere eine Theorie, die sich auf dem Weg der Befreiung entwickelt, die Stufe für Stufe in die Praxis umgesetzt und mit Leben gefüllt wird. Die Loslösung beinhaltet eine gedankliche Loslösung; mit der Loslösung von den auf Männer ausgerichteten Gefühlen, von moralischen, ästhetischen und Schönheitsmasstäben, die die Frau einschränken, und einer eigenständigen Organisierung wird auch eine physische Loslösung mit eingeschlossen."

'Für eine neue Gesellschaftsordnung'

Als ein weiteres Ziel legt die Partei der Freien Frau in ihrem Programm fest: "Die PJA strebt an, für die Schaffung eines frauenspezifisches Lebens die von der PKK unter Führung des PKK-Vorsitzenden Abdullah Öcalan entwickelte Frauenbefreiungsideologie zu einer politischen und organisatorischen Linie zu machen und im Kampf um demokratische Einheit insbesondere für die Entwicklung eines freien Lebens auf der Grundlage von Sozialismus, Liebe zum Land, Frieden und Demokratie gegen alle reaktionären Kräfte und jede Auffassung, Herangehensweise und Institutionalisierung des männlichen Herrschaftssystems zu kämpfen; sowie im Bewusstsein der weiblichen und männlichen Realität die freie Frau und den freien Mann und somit eine freie Gesellschaft zu erschaffen." Die Demokratie des 21. Jahrhunderts wird laut PJA durch die Demokratisierung im Bereich Frauenrechte und -freiheiten bestimmt. "Wenn auch sehr verspätet, so liegen im 21. Jahrhundert Möglichkeiten und Grundlagen für die Frau vor, um den Geschlechterkampf zu führen und die Lösung der Hauptprobleme der Menschheit in sich selbst zu erschaffen. Es ist somit von grosser Bedeutung, die Frauenbefreiungsideologie, die konkreter Ausdruck der Bearbeitung des Geschlechterwiderspruchs gemäss des wissenschaftlichen Sozialismus ist, umzusetzen und mit Leben zu füllen. Die organisierte Kraft dafür ist die PJA, die mit ihrem historischen Erbe und ihren Werten eine wichtige Mission im Frauenbefreiungskampf innehat."

Erste kurdische Frauenpartei

Die PKK begann nach dem 3. Parteikongress, der in grossem Ausmaß mit der Beteiligung von Frauen verwirklicht wurde, unter dem Dach der ERNK (Nationale Befreiungsfront Kurdistans) mit der Organisierung der Fraueneinheit. 1987 entstand ein Programm für diese Organisationsform unter dem Namen YJWK (Yekitiya Jinen Welatparezen Kurdistan). Die Armeewerdung der Frau begann 1993. Damit wurde der Frau eine besondere Rolle beigemessen und angestrebt, mit der Armee als Machtmittel die Frau zur Partnerin der Macht zu machen. Es wurde betont: "Die Armeewerdung der Frau kann nicht gleichgesetzt werden mit einer enggefassten militärischen Herangehensweise und der Teilnahme im heissen Krieg. Der Schwerpunkt liegt mehr auf ideologischer, politischer und kultureller Entwicklung." Beginnend mit der Organisierung als YJWK, die später den Namen TAJK annahm, kam es mit der Entwicklung der organisierten Frauenkraft und dem Erreichen einer Führungsebene am 8. März 1995 beim I. Nationalen Frauenkongress als eine Fortsetzung von YJWK und TAJK zur Organisationsform YAJK. Parallel zur qualitativen und quantitativen Entwicklung der Frauenarbeit, die zunächst in der Struktur der ERNK stattfand, wurde sie weiterhin gebunden an die PKK organisiert. 1999 ging die YAJK von der Organisierung als einer Einheit zu der einer Partei über und nannte sich in PJKK um. Nach der Verschleppung des PKK-Vorsitzenden Abdullah Öcalan durch einen internationalen Komplott zog die PKK ihre Kräfte am 2. August 1999 hinter die Grenzen der Türkei zurück und trat in einen Veränderungsprozess ein. Die PJKK nannte sich auf ihrem Parteikongress, der auf der Grundlage der vollzogenen strategischen Änderung stattfand, in PJA um. In der PKK wurde der PJA-Bewegung und der Frau innerhalb dieser Organisierungsphase in grösstem Umfang Recht und Fundament zur Kriegsführung zugesichert. Die PKK begreift die Frauenfrage als Grundstein der Revolution. (...)