Özgür Politika, 11. Februar 2002

Gemeinsame Befreiung

von NURDOGAN AYDOGAN/ BERMAL DOGAN

An der Akademie der Freien Frau [in den Bergen Kurdistans] wird neuerdings auch eine Gruppe Männer geschult. In der Ausgabe von "Stimme der Berge" der Woche haben wir mit diesen Männer darüber gesprochen, warum sie sich an einer solchen Ausbildung beteiligen, was sie sich davon erwarten, wie sie aufgenommen worden sind und was sie für die Zukunft planen.

Als es hiess, dass auch Männer an der Akademie der Freien Frau aufgenommen werden sollen, haben Sie sich da vorstellen können, dass Sie selbst dabei sein könnten?

Haki Türk: Nein, ich habe nicht daran gedacht, an einer solchen Gruppe teilzunehmen. Allerdings habe ich mich schon intensiv mit der Frauenideologie und dem vom Parteivorsitzenden angesprochenen "frauenspezifischen Leben" beschäftigt. Als ich hier herkam, hatte ich gewisse Sorgen und Befürchtungen, fühlte eine Anspannung. Schliesslich handelt es sich hier um eine Arbeit, die den Kern der Parteiideologie ausmacht. Deshalb wird dem Individuum durch die an der Akademie begonnene Ausbildung eine grosse Verantwortung übertragen. Das hat mir einige Sorgen bereitet. Durch Themen, die heftige Auseinandersetzungen auf der Persönlichkeitsebene erfordern, wird der Mensch in Anspannung versetzt. Gleichzeitig habe ich mir Sorgen gemacht wegen möglichen Reaktionen auf die generelle Wesensart des Mannes, und wie ich dagegen aufrecht bleiben kann.

Wie haben Sie Ihre Sorgen überwunden?

Weil es sich um den Kern der Parteiideologie handelt, muss ein Aufstand geleistet werden gegen falsche Herangehensweisen. Das ist gleichzeitig Masstab für revolutionäres Denken und Handeln. Diese Arbeit findet im Grunde genommen seit der Entstehung der Partei statt. Aus diesem Grund handelt es sich um ein Thema, zu dem jeder Mensch intensiv arbeiten muss. Seit Entstehung der Partei geht es um eine Veränderung der Persönlichkeit und Mentalität. In letzter Zeit ist dieses Thema noch umfangreicher geworden, es wurde vertieft und systematisiert. Ich bin zu der Überzeugung gekommen, dass es notwenig ist, die bestehende Rückständigkeit zu überwinden und eine Mentalitätsänderung zu vollziehen und somit auch gegen falsche Herangehensweisen Widerstand zu leisten. Ich dachte, dass ich das schaffen kann.

Welche Eigenschaften hat Ihre Gruppe?

Unsere Gruppe besteht aus 15 Personen, die alle nach 1990 beigetreten sind. Dabei handelt es sich um untere Kommandoebene und Kader. Die Struktur ist recht lebendig in den Diskussionen und im Begreifen von Problemen. Es besteht der Wunsch, die Arbeit aktiv durchzuführen. Eine Einheit zu bilden, gelingt nicht ganz. (...) Jeder begreift die Dinge auf eigene Art und zeigt eine Herangehensweise nach eigener Ansicht. An diesem grundlegenden Punkt haben wir Schwierigkeiten. Das spiegelt sich wieder in den Beziehungen und in der eigenen Ausbildung. Der Kurde ist verschlossen in der Beziehungsbildung. Er kann nicht gut teilen und geniert sich, zieht sich zurück. Solche Art von Schwierigkeiten haben wir. Weil die Freundinnen das wissen, leisten sie Hilfestellung bei der Überwindung dessen.

Können Sie etwas über das Ausbildungssystem sagen?

Hasan Zaza: Grundlage des Unterrichts sind die Verteidigungsschriften des Vorsitzenden [=Eingaben an den Menschenrechtsgerichtshof von Abdullah Öcalan; in Buchform bisher nur auf türkisch erschienende umfassende Zivilisationsanalyse u.v.m.]. Die Unterrichtskomissionen bilden wir gemeinsam mit den Freundinnen [PKK-übliches Schulungssystem: jeweils eine Komission bereitet ein bestimmtes Unterrichtsthema vor]. Es finden Unterrichtseinheiten im Unterhaltungsstil statt. Ausserdem gibt es individuelle Intensivierungen. Neben den Verteidigungsschriften gibt es noch weitere Unterrichtsthemen, auf die wir uns vorbereiten.

Was waren Ihre Gefühle, als Sie hier her kamen?

Menal Zagros: Wieviel Wissen über das Wesen der Arbeit auch vorhanden ist - es war schon aufregend. Die Sorge darüber, wie wir an der Arbeit hier teilnehmen werden können. Es gab gewisse Abwehrreaktionen innerhalb der Männerstruktur. Aber innerhalb dieser Reaktionen war auch ein bestimmtes Interesse vorhanden. Nachdem mit der Arbeit begonnen wurde, wurde auch noch klarer, welche Wichtigkeit diese Arbeit hat. An die Stelle der Befürchtungen tritt dann die Frage, wie mensch sich noch besser dabei einbringen kann, der Sache noch besser gerecht werden kann.

Wie waren die Reaktionen in der Männer- und Frauenstruktur?

Die Bedingungen für eine solche Arbeit waren geschaffen, das war ein Vorteil. Mutig hat uns die Bedeutung dieser Arbeit und die Herangehensweise des Vorsitzenden gemacht. Es herrschte allgemein Interesse und der notwendige Wille. Sowohl die Männer- als auch die Frauenstruktur hat die Wichtigkeit dieser Arbeit zur Sprache gebracht.

Hatten Sie Schwierigkeiten in einer Atmosphäre zu arbeiten, in der Frauen überwiegen?

Sadik Xalit: Weil es sich um die Akademie der Freien Frau handelt, erlebt mensch schon andere Gefühle. Der Zweck der Akademie ist spezieller und tiefergehend. Es ist eine neue Arbeit. Früher, in einer Umgebung, in der Männer überwiegen, konnten gewohnte Verhaltensweisen an den Tag gelegt werden. In dieser Atmosphäre fühlt mensch jedoch die Notwendigkeit einer Ausgewogenheit. Wenn einem das bewusst wird, wird es auch zu einem Bedürfnis.

Wie sind Sie zu der Entscheidung gekommen, sich selbst diesem Kampf zu geben?

Hasan Zaza: Natürlich ist es schwer, eine solche Entscheidung zu treffen. Jedoch werden wir seit langen Jahren von der Partei ausgebildet. In dieser Phase waren es die Verteidigungsschriften des Vorsitzenden, die uns die Kraft gegeben haben, uns selbst zu hinterfragen und die Entscheidung zu treffen. Es sind gewisse Resultate erreicht worden zu den Themen Charakter des Männerherrschaftssystems, Geschichte, dann auf der Basis der Lehren, die wir aus unserer Praxis innerhalb der Partei gezogen haben, die Gemeinsamkeit von Frau und Mann, das Teilen, die Entwicklung von richtigen genossenschaftlichen Beziehungen. Das alles gibt einem Kraft, eine Entscheidung zu treffen. Den Gedanken, bei dieser Arbeit die Avantgarde zu stellen, gab es nicht. Aber verglichen mit einer anderen Atmosphäre ist doch die Ebene der eigenen Hinterfragung anders. Du fühlst dich gezwungen, dich selbst zu hinterfragen. All das hat Einfluss auf den Grad der Entschlossenheit.

Welche Form von Veränderung und Wandel wird bei Beendigung dieser Ausbildung erwartet?

Die Frauenarbeit hat eine Geschichte der eigenen Art. Es gibt die Rolle, die die Frau in der Gesellschaftsentwicklung gespielt hat. Sie hat eine Rolle dabei gespielt, den Mann in den Kampf mit einzubeziehen. Das ist eine Avantgarderolle, die auch wichtig für alles weitere ist. Diese Arbeit hier resultiert aus den Bedürfnissen des Kampfes. Es besteht Bedarf nach dieser Arbeit, weil sie das beinhaltet, was wir in der Praxis der Vergangenheit hätten tun müssen, aber nicht geschafft haben. Es handelt sich um einen Anfang. Aber so sehr es sich auch um eine Premiere handelt, so müssen wir doch die Avantgarderolle sowohl des Vorsitzenden als auch der Frau in der gesellschaftlichen Veränderung bis heute sehen. Veränderung und Wandel fängt nicht nur mit dieser Arbeit an. Bis heute hat das in bestimmten Dimensionen stattgefunden. Die künftige Phase wird die Beschleunigung dessen darstellen. Diese Bedeutung hat die Arbeit hier.

Gegen die Arbeit darf es keine klassische Männerherangehensweise geben nach dem Motto, wie soll eine Frau mich unterrichten, mich führen, mir eine Richtung weisen. An diesem Punkt ist der Menschenstolz nicht zu akzeptieren. Als wir hierher gekommen sind, haben wir all das hinterfragt. Inzwischen sind einige Dinge endlich überwunden. Wenn wir uns selbst nicht strukturieren, können wir den Geist, den das herrschende System in uns erschaffen hat, nicht überwinden. Wichtig ist es, eine richtige menschliche Beziehung zu erreichen und dafür praktische Bemühungen zeigen. Die Rolle, die die Frau in diesem Kampf einnimmt, muss gesehen werden, das muss das Ziel sein. Wenn wir von diesem Verständnis ausgehen, werden wir uns in der Praxis gegenseitig stärken.

Seit tausenden von Jahren gibt es männliche Herrschaft und Unterdrückung der Frau. Hat diese Ausbildung das Ziel, dies zu verändern? Wird hieraus sowohl die Befreiung der Frau als auch des Mannes hervorgehen?

Haki Türk: Diese Situation hat sich in gegenseitiger Wechselwirkung entwickelt. Je stärker sich die Männerherrschaft entwickelt hat, desto stärker wurde auch die Frau versklavt. Letztendlich haben beide Geschlechter dadurch verloren. Somit ist es ein Problem aller beider Geschlechter. Bis heute gab es keine geeignete Plattform und nicht die richtige Art und Weise, diese Probleme zu diskutieren. Es wurde nie wirklich zum Kern des Problems vorgedrungen, sondern blieb bei künstlichen Widersprüchen. Die Akademie gibt die Möglichkeit, dies zu überwinden. Es ist wichtig, dass Mann und Frau sich gegenseitig hinterfragen. Die Akademie bewerten wir auf diese Weise. Es ist undenkbar, dass Mann und Frau sich jeder für sich befreien. Die Probleme müssen gemeinsam diskutiert werden und beide Geschlechter müssen sich gegenseitig hinterfragen.

Es geht nicht nur um die Zerstörung der Männerherrschaft, sondern gleichzeitig aufgrund unserer Herkunft aus einem kolonialisierten Volk um die Befreiung des Mannes. In diesem Sinne besteht eine Nähe zur Frau.

Was erwarten Sie von dieser Ausbildung?

Menal Zagros: Es ist keine Arbeit, die lediglich auf eine Gruppe beschränkt bleibt, sondern eine strategische Arbeit. Eigentlich waren wir auch früher gemeinsam mit Genossinnen in allen Arbeitsbereichen. Aber es ist wichtig, auf einem solchen Fundament wie diesem mit der Ausbildung zu beginnen. Ohne sich wirklich einzulassen, kann es auch keine mentale Veränderung geben. In dieser ersten Etappe sind einige Unterschiede entstanden. Es hat Vorteile, die erste Gruppe zu sein. Trotzdem denken wir nicht so, dass wir die ideologischen Kader dieser Arbeit sind. Wenn diese Arbeit nicht in aller Tiefe begriffen wird und eine dementsprechende Herangehensweise gezeigt wird, werden daraus grosse Schäden entstehen. Durch die Arbeit tritt im Individuum eine bestimmte Reife hervor. Es ist eine Angelegenheit, an der die Partei und der Vorsitzende seit vielen Jahren arbeiten. Sich daran zu beteiligen, bedeutet auch, für den Vorsitzenden eine Antwort darzustellen. Ich bin davon überzeugt, dass das Einfluss haben wird auf die einzelnen Menschen. Es ist unmöglich, mit dieser Arbeit alles auf ein Mal zu bewältigen. Aber in der Praxis wird damit die Denk- und Handelsweise des Individuums verändert und die Persönlichkeit reift heran. Wir sind hauptsächlich hier, um dafür zu kämpfen.

Spiegeln sich Einflüsse aus der Vergangenheit wieder?

Alle Individuen dieser Gruppe kommen aus verschiedenen Gegenden Kurdistans. Auch wenn es eine reichhaltige Zusammensetzung ist, gibt es natürlich Einflüsse aus der Vergangenheit. Beispielsweise kann ein Mensch damit psychologische Probleme haben, dass ein Frau Kommandantin ist und dir Befehle erteilt. Auch wenn innerhalb der Partei diese Art der Auffassung überwunden ist, gibt es Dinge, die einem aufgrund der klassisch-männlichen Herangehensweise Probleme machen.

Was für ein Beziehungsniveau gibt es im Leben?

Sadik Xalit: Die Beziehungen sind vom Teilen geprägt. Zu den Freundinnen gibt es zwar Beziehungen, aber sie sind nicht sehr tiefgehend. Es gibt Diskussionen darüber. Der Unterricht findet geschlechtergetrennt statt, nur manche Diskussionen werden gemeinsam geführt. Wir essen auch gemeinsam und sehen zusammen fern.

Was ist der gemeinsame Punkt der Gruppe?

Was die Herangehensweise an die Arbeit betrifft, ist es uns noch nicht gelungen, eine gewisse Oberflächlichkeit zu überwinden. Es finden zwar Diskussionen und Bemühungen in die Richtung statt, aber so ganz ist es eben noch nicht überwunden worden. Wenn wir es schaffen, eine Entwicklung zum Thema Auflösung der Männerherrschaft und Veränderung in der Herangehensweise an die Frau in Gang zu setzen, haben wir das Ziel der Arbeit hier erreicht. Ein grundlegendes Problem der Gruppe ist das Unvermögen, ein ausreichendes Beziehungsniveau zu erreichen.

Was hat Sie am meisten überrascht, als Sie zur Akademie gekommen sind?

Haki Türk: Interessant war die Tatsache, dass der gesamte Unterbau von den Frauen gemacht worden war. Alles stand bereit. Das kam uns schon interessant vor. In der Beziehungsbildung überwiegt Passivität. Man sieht, dass immer noch eine feudale Sichtweise existiert. Aus der Beziehungslosigkeit entsteht eine gewisse Abstraktion. Das muss überwunden werden, damit die Herangehensweise zwischen den Geschlechtern auf richtige Weise zum tragen kommt.

Wie möchten Sie das alles hier verstanden wissen?

Menal Zagros: Es mag eine Denkweise von der Art geben, dass an der Akademie der Freien Frau einige Freunde unterrichtet werden. Was hier stattfindet, muss richtig begriffen werden, jedoch nicht nur von den männlichen Freunden, sondern als eine Gesamtausbildungsphase. Auch nach uns werden Freunde hier Unterricht bekommen. Der Vorsitzende hat Wert darauf gelegt, dass an diesem Ort sowohl Männer als auch Frauen ausgebildet werden. So muss man sich der Sache annähern. Eine Herangehensweise nach dem Motto, Männer werden hier ausgebildet, und was wird dann, ist nicht richtig.

Haben Sie eine Botschaft an unsere LeserInnen?

Sadik Xalit: Bei den Fragen, die hier behandelt werden, handelt es sich um Dinge, die von allen hinterfragt werden müssen, aus denen Resultate gezogen und in die Praxis umgesetzt werden müssen. Die Verteidigungsschriften bieten dafür ausreichend Möglichkeit, und jeder kann sie bekommen. Auf dieser Grundlage ist auch eine Konzentration auf die Geschlechterbefreiung notwendig. Männer und Frauen sind in den Tempeln erniedrigt worden. Wie diese Sache angegangen und gelöst werden muss, dafür bieten die Verteidigungsschriften Perspektiven. Die Frauen müssen sich noch stärker darauf konzentrieren. Es sind die Frauen, die dem Vorsitzenden aus erster Hand eine Antwort geben müssen. Die Verteidigunsschrift ist auch ein bisschen mit frauenspezifischer Sichtweise geschrieben worden. Auch die Gesellschaft muss dementsprechend eine Antwort geben. Dabei handelt es sich um das wertvollste, was von der Gesellschaft erwartet werden kann.