“Sie haben alle die gleiche Geschichte…”

Von SEFIKA GÜRBÜZ (Vorsitzende von Göc-Der, einem Hilfsverein für Flüchtlinge)

Immer wieder wird beschrieben, welch ein Paradies die Türkei ist – einer der besten Plätze der Erde, um dort zu leben. Und die Beschreibungen der Schönheit Istanbuls sind endlos. Unbedingt müsse man dort hinfahren und die Stadt sehen, heißt es. Jeder möchte dieses schöne Land bereisen. Die Medien tragen ihriges dazu bei, wenn sie Bilder verziert mit schönen Worten verbreiten. Aber auch “das andere Istanbul” darf nicht vergessen werden. Und diejenigen, die nicht freiwillig nach Istanbul gekommen sind, sollten gefragt werden, wie viel sie von der Schönheit dieser Stadt gesehen haben. Insbesondere, wenn es Frauen sind. Und wenn sie kein türkisch können.

Ich spreche von den Frauen, die in den neunziger Jahren aus ihren Dörfern vertrieben wurden. Von den Flüchtlingsfrauen, die sich in Istanbul niedergelassen haben, ohne ein Wort türkisch zu sprechen. Auch sie haben das Recht, etwas von der Welt zu sehen, aber sie sind gegen ihren Willen mit Gewalt vertrieben worden. Die Schönheit Istanbuls geht sie nichts an. Wichtig ist lediglich, warum sie hier sind. Die meisten dieser Frauen sind Mitglied in unserem Verein. Oder sie sind die Frauen unserer Mitglieder, ihre Töchter u.ä- Und sie haben alle mehr oder weniger die gleiche Geschichte… Ihre Dörfer sind gewaltsam entvölkert worden, ihre Häuser, deren Wände sie mit eigenen Händen gebaut haben, verbrannt. Auch ihre Traumata gleichen sich… Sie haben ein gemeinsames Schicksal und wissen dennoch, dass es ein solches Schicksal nicht geben darf. In der Hitze des Sommers treffen sie sich zwischen Betonhochhäusern oder in einem Garten in einem der Slums. Es erleichtert sie, sich gegenseitig ihr Leid zu klagen. Sie erzählen von ihren Dörfern, und sie haben kein Sprachproblem, denn sie sprechen alle kurdisch. Aber sie wissen, dass sie alleine Istanbul nicht besichtigen können, weil sie kein türkisch sprechen.

Es gibt so viele Probleme, dass man diese ein bisschen zusammenfassen muss. Göc-Der arbeitet seit zwei Jahren daran, die Probleme dieser Frauen zu analysieren, um sie anhand von einzelnen Projekten zu lösen. Eines dieser Projekte ist ein Schulungsprojekt zu Frauen und Gesundheit. In Bagcilar haben wir 600 Frauen aufgesucht, um ihre Probleme festzustellen. Dabei stellte sich heraus, dass Informationen zu Gesundheit wichtig sind. Ein halbes Jahr lang haben wir 240 Frauen zu Themen wie Mutter-Kind-Gesundheit, Familienplanung und ansteckende Krankheiten geschult und gleichzeitig dazu motiviert, bei gesundheitlichen Fragen einen Arzt aufzusuchen und von kostenloser Vorsorge zu profitieren. Weitere 250 Frauen stehen auf der Warteliste für diese Schulungseinheit.

Ein weiteres Projekt haben wir in Ayazma gestartet. Ayazma ist ein Slum in unmittelbarer Umgebung des prächtigen Atatürk-Olympia-Stadiums, in dem ca. 1700 Familien leben. Das größte Problem für die Menschen hier ist momentan der drohende Abriss ihrer Behausungen im Rahmen der Stadtentwicklung. Die BewohnerInnen sind pessimistisch, ihnen steht eine erneute Vertreibung bevor. Neunzig Prozent der Menschen in Ayazma kommen aus den kurdischen Provinzen. Sie haben ihr Dorf mit in die Stadt gebracht: Die Frauen backen Brot im traditionellen Tandir-Ofen, kleine Kinder lassen Schafe und Ziegen weiden. Es ist das andere Gesicht Istanbuls. Seit sieben Monaten sind wir in Ayazma aktiv und beschäftigen uns mit Problemen wie mangelnden Schulen, Kanalisation, Wegebau und Gesundheitsversorgung. Wir haben in Ayazma eine Vertretung eröffnet, in der eine kostenlose Gesundheitsversorgung für Frauen und Kinder angeboten wird. An zwei Tagen der Woche finden Schulungen für Frauen statt. In Kürze wollen wir für junge Frauen Alphabetisierungs- und Computer-Kurse einrichten. Zwanzig Kinder im Vorschulalter werden zur Zeit auf die Schule vorbereitet.

Ich wünsche allen Frauenarbeitsgruppen Erfolg.

Quelle: Özgür Politika, 11.08.2005, ISKU