Özgür Politika, 11.3.2002

Kurdische Frauenbewegung und Sozialismus

von Mehmet Özgül

Achten Sie mal darauf: zunehmend verändert der Internationale Frauentag seine Farbe, sein Wesen und seine Funktion! Wo manche schon dachten, dass die Angelegenheit beendet ist, sich aufgelöst hat, erlebt die Internationale Frauenbewegung eine Wiederauferstehung! Von den Höhen des Zagros bis zu den Vorstädten Istanbuls, von Dogubeyazit bis nach Izmir, von Nusaybin bis Ortaklar, von Genf bis Kassel, von Alma Ata bis Paris war zu sehen, dass die Hauptkraft dieser Wiederauferstehung die kurdische Frau ist, die Frau Mesopotamiens. Der 8. März wird Newroz immer ähnlicher. So wie die Kurden mit ihren Aufständen gegen die Versklavung der Völker den Völkern des Mittleren Ostens und Mittelasiens den Feiertag Newroz präsentiert haben, so bereitet die kurdische Frau die Präsentation eines neuen Feiertages an die Menschheit weltweit vor. Der 8. März findet mit der kurdischen Frau zu seiner wirklichen Funktion. Seines Inhaltes schon weitgehend beraubt, wird versucht, den 8. März mit Rosen und netten Worten über die Runden zu bringen. Mit der kurdischen Frau wird er jedoch zunehmend zu einer sozialen Bewegung, die von dem Punkt ausgehend, an dem die Menschheit erniedrigt und versklavt wurde, geradewegs zu Befreiung marschiert.

Wie alle Linken hatte auch ich schändlicherweise keine Ahnung von der Bewegung der kurdischen freien Frau. Eigentlich lagen die erschaffenen Werte ja offen auf der Hand. Aber wir waren mit Blindheit geschlagen. Im Grunde genommen stand ich der kurdischen Bewegung seit vielen Jahren physisch und mental nahe. Und trotzdem überwiegte die Gefangenschaft in Vorurteilen. Ende 1998, als wir mit der kurdischen Befreiungsbewegung in Beziehung getreten waren, hatte ich gemeinsam mit meiner Frau auf der Rückfahrt von einem Besuch bei Med-TV die Gelegenheit zu langen Diskussionen mit Nuda von der Europaleitung der kurdischen Frauenbefreiungsbewegung. Es ging überwiegend um die Frauenfrage. Wir, die notorischen Besserwisser im Sinne von "Sie sind doch sehr dörflerisch, haben nur ein oberflächliches Wissen über die Frage und wissen nichts über das wirkliche Wesen und die Tiefe des Problems", fingen im Verlauf der Diskussion an, uns zu schämen. Insbesondere waren wir immer gegen die Regel gewesen, dass die Freie Kurdische Frau nicht heiratet. Irgendwann kam der Punkt, an dem Nuda, die so rein und schön wie ein Engel ist, explodierte: "Mehmet Heval, wieso betrachtest du uns freie, schöne kurdische Frauen als geeignet für den hässlichen Mann? Nein! Für uns bedeudet Glück nicht, einen guten Mann zu finden und zu heiraten und einen Haufen Kinder zu kriegen! Glück und Schönheit, das ist für uns vor allem Freiheit, die Befreiung der Menschheit!" Dieser Augenblick war für uns ein Wendepunkt. Ich fühlte, wie angesichts des Strahlens, der Überzeugung und Entschlossenheit in Nudas Augen und Gesicht meine Vorurteile zu bröckeln begannen. Und ich schwieg. Alles was ich sagen konnte, war: "Du hast recht." Und ich begann, darüber nachzudenken, wie es sein konnte, dass wir von dem Kampf, der Entwicklung und der Tiefe der kurdischen Frau neben uns keine Ahnung hatten. Eine Weile zuvor hatte ich an einer auf Frauen ausgerichteten Fortbildung der Europa-Konföderation der ArbeiterInnen aus der Türkei (ATIK), in dessen Vorstand ich zwei Perioden lang war, teilgenommen. Um die dort entstandene genossenschaftliche Atmosphäre und Sehnsucht zu festigen, wurde auf meinen Vorschlag die zuvor aufgelöste Frauenkommission neu gegründet, an der sogar auf besonderen Wunsch von Frauen meine Frau und ich beteiligt waren. Mit einer kurz andauernden Arbeit wurde ein recht grosser Abstand zurückgelegt. Auch weitere Arbeiten hatten positiven Einfluss. Diese Arbeit, die so gross wie ein See, aber sehr spezifisch war, versetzte uns in Aufregung. Jetzt haben wir gesehen, die kurdische Frauenbefreiungsbewegung ist wie ein Ozean. Wie konnten wir das übersehen!

Als wir die kurdische Frauenbewegung näher kennenlernten, sahen wir auch, dass der Unterschied nicht nur in der quantitativen Grösse liegt. Die Linke der Türkei betrachtete die Frauenfrage mehr als eine Geschlechterfrage. Einige linke Kreise reduzierten die Frage auch auf Sexualität und "freie Liebe". Diese Betrachtungsweise weist keinen Unterschied zum Kapitalismus auf, der die Frau als eine Ware ansieht. Der Ursprung dieser falschen Betrachtungsweise der Linken aus der Türkei oder sogar de rganzen Welt war die Herangehensweise an die Frauenfrage im Realsozialismus. In den Programmen der sozialistischen Bewegung wurde die Frauenfrage als ein Teil der demokratischen Revolution angesehen. Es gibt die Hypothese, dass die demokratische Revolution im Kern eine bürgerliche demokratische Revolution ist und die Frauenfrage im Rahmen dieses Programmes gelöst werden wird. Diese Theorie führte logischerweise in der Praxis dazu, dass die revolutionären Männer ihre Partnerinnen oder Schwestern als Privatbesitz betrachteten, es nicht gerne sahen, wenn sie auch nur in einen Verein gingen, und die Lösung des Problems nach dem Motto "Ohne Revolution keine Frauenbefreiung" auf die Zeit nach der Revolution verschoben wurde, oder als das genaue Gegenteil die Mentalität vorherrschte, die Frau als sexuelles Objekt nach dem Motto "freie Frau, freie Liebe" zu betrachten. Das muss auch derGrund dafür sein, dass in den Ländern, in denen eine Revolution stattfand und ein Schritt zum Sozialismus gemacht wurde, die Frau zwar grosse Fortschritte erreichte, beim Rückzug jedoch die wildesten Szenarien auftauchten.

Die kurdische Befreiungsbewegung dagegen betrachtet die Frage nicht nur als eine Frauen- und Geschlechterfrage, sondern als ein Problem der Menschheit, als den Bewegungspunkt in der Lösung der grundlegenden Probleme der Menschheit. So wie ausführlich in der zweibändigen Verteidigungsschrift des kurdischen nationalen Führers Abdullah Öcalan - in der die Geschichte sozusagen neu geschrieben wird und die insbesondere jede Frau unbedingt lesen sollte - aufgezeigt, steht am Ursprung der hauptsächlichen Probleme, mit denen die Menschheit heute konfrontiert ist, die Versklavung der Frau und der primitiven, freien und gleichheitlichen Gesellschaft, die von der Göttinnenkultur geprägt war. Aufgezeigt wurde diese Tatsache auch schon früher in gewissem Masstab von verschiedenen Kreisen, aber es wurden nicht die notwendigen Schlüsse daraus gezogen. Während im allgemeinen die Linke bei Diskussionen verharrte, ob es nun eine Frauenorganisierung geben soll oder nicht, und wenn ja, wie, als eine Unterorganisation oder doch unabhängig, und es bis heute nicht gelang, eine spezifische Frauenbewegung zu erschaffen, haben Öcalan und die kurdische Bewegung eine freie Frauenbewegung geschaffen, die über tausende politische und bewaffnete Kader verfügt und in allen Teilen Kurdistans, in der Türkei, in Europa und vielen Ländern der Welt auf fast jedem Gebiet organisiert ist. Und sie haben beschlossen, dass "die Revolution von der Befreiung der Frau abhängt" und "die Menschheit mit der Frau gewinnen wird". Es ist Programm geworden, dass das klassen-und grenzenlose goldene Zeitalter, also die Welt der modernen Göttinnen, mit der Frau, mit einer gesellschaftlichen Bewegung, dessen Hauptkraft die Frau ist, erreicht werden wird.

Angesichts dieses trotz aller Mängel begonnenen prachtvollen Marsches ist es nicht umsonst, dass der verantwortliche Hürriyet-Redaktionsleiter Ertugrul Özkök als einflussreicher Sprecher der Herrschenden seine Aufregung und Sorge unter der Überschrift "Frauentag oder Frauenintifada?" ausdrückt. Der Versuch aller Özköks, die Frauen zu spalten, indem offen hervorgebracht wird, was für eine Art von Frau sie wollen, nämlich eine gehorsame, hübsch herausgeputzte, die zu Popmusik tanzt und zu jeder gewünschten Zeit benutzt werden kann, ist dafür umsonst. Die Frauen singen und tanzen zwar, aber sie sind auch die treibende Kraft im Kampf der Menschheit für Freiheit und Gleichheit. Denn jetzt gibt es die Partei der Freien Frau (PJA), die in "Intifada" und "Serhildan" steckt, jeden Tag grösser wird, sich mit den Frauen aller Völker vereinigt und geschworen hat, ihren Kampf für Sozialismus, Demokratie und Frieden auf die ganze Welt auszudehnen!

m.ozgul@ozgurpolitika.org