Cenî – Kurdisches Frauenbüro für Frieden e.V.
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Düsseldorf, 1. Juni 2003

Wann, wenn nicht jetzt: FRIEDENSABKOMMEN!

In der Türkei wird zur Zeit über die Verabschiedung einer neuen Version des "Reuegesetzes" diskutiert, mit dem Straftätern im Sinne der Kronzeugenregelung Straferlass gewährt werden soll. Gesetze dieser Art gab es schon häufiger. Der Punkt, an dem sie sich alle gleichen: sie folgen einer patriarchalen Logik.

Die Logik von Herrschaft und Unterwerfung

Anders als bei den vorherigen Entwürfen sollen diesmal Guerillaangehörige ebenfalls von dem Gesetz profitieren können. Ausgenommen sind lediglich Abdullah Öcalan als Vorsitzender des KADEK (Kongress für Demokratie und Freiheit Kurdistans) sowie der KADEK-Präsidialrat. Für alle anderen gilt: Komm her und bereue! Gestehe, dass du dich schuldig gemacht hast! Bereue, dass du frei sein wolltest, dass du Mensch sein wolltest, dass du den Kopf gehoben hast, dass du aufgestanden bist gegen mich, den Staat in seiner gottgleichen Vollkommenheit! Wenn du bereust, wenn du Buße tust, will auch ich dich nicht vernichten, und wenn du diejenigen verrätst und der Vernichtung preisgibst, die nichts bereuen, will ich dich entsprechend entlohnen! Es ist die Logik der Unterwerfung, der Einseitigkeit, des Allmachtanspruches, des Herrschaftsprinzips, die nur die Wahl lässt zwischen Kapitulation und Tod. Diese Logik zieht sich durch die 5000-jährige Geschichte des Patriarchats.

Für gesellschaftlichen Frieden

Durch die kurdische Bevölkerung rollt dementsprechend eine Welle der Empörung. Seit Wochen sind es vor allem Frauen, die dem staatlichen Entwurf einen eigenen Entwurf entgegen setzen. Sie fordern eine Generalamnestie unter Einbeziehung aller politischen Gefangenen und der Guerilla, um mit diesem Schritt zu einem gesellschaftlichen Frieden zu gelangen. Auch zivilgesellschaftliche Organisationen, MenschenrechtlerInnen, Gewerkschaften, Parteien, Studierende und Berufsverbände haben sich dieser Forderung angeschlossen. Sie weisen zu Recht darauf hin, dass das Gesetz in seiner geplanten Form entwürdigend ist und eher dazu geeignet, den gesellschaftlichen Frieden zu vergiften, als zu einer Lösung beizutragen. Abdullah Öcalan hat gegen den Reuegesetzentwurf des Staates den Ausdruck vom "Gesetz für die Partizipation in einer demokratischen Gesellschaft" geprägt. Mit einem solchen Gesetz könnten Zehntausende aus den Bergen und den Gefängnissen sowie Hunderttausende aus dem Exil in Europa in die Türkei zurückkehren und in politischer, sozialer und ökonomischer Hinsicht zur Entwicklung beitragen.

Intervention in das internationale Kräftesystem
In welchen politischen Zusammenhang fällt der Versuch der Türkei eines Neuaufgusses des Reuegesetzes?

Das internationale System befindet sich in einem Umformungsprozess. So galt auch die US-amerikanisch/britische Militärintervention im Irak nicht nur dem Saddam-Regime, sondern stellt eine Intervention in das internationale Kräftesystem dar. Die Besatzung des Irak ist der erste Schritt, von dem aus weitere Eingriffe in die Länder der Region folgen werden. Diese weiteren Interventionen können militärischer, politischer oder wirtschaftlicher Natur sein. Die Regime der Region sträuben sich gegen jede Veränderung, aber das wird ihnen wenig nützen. Eines dieser Länder ist die Türkei.

US-Imperium oder Demokratie der Völker

Die aktuellen Entwicklungen sind nicht auf den Mittleren Osten begrenzt, sondern können als Weltkrieg bezeichnet werden. Auch wenn dieser Krieg eine andere Form hat als die vorherigen Weltaufteilungskriege, so geht es doch um die Aufteilung der Welt, um neue Kräfteverhältnisse und die Errichtung eines neuen Status Quo. Im Irak haben die USA und ihre Verbündeten es in relativ kurzer Zeit geschafft, das Saddam-Regime zu stürzen, das symbolisch für das reaktionäre Regime in der gesamten Region stand. Damit lösen sich gleichzeitig die Strukturen auf, die aus der Zeit des Zweiblocksystems stammen und heute ihren Sinn verloren haben. Die USA-England-Koalition hat es nach der Überwindung des Ostblocks auch auf die Seiten des West-Systems abgesehen, die ihren Interessen nicht entsprechen. Sie streben die Weltherrschaft an. Die Führungsrolle, die sie im Westsystem zur Zeit des kalten Krieges inne hatten, soll künftig für die gesamte Erde gelten. Gegen diese Pläne sträuben sich die EU-Staaten, Russland, China und eben auch die Staaten des Mittleren Ostens. Die lange Zeit unbestrittene Rolle von internationalen Institutionen wie der UNO und der NATO befindet sich in der Auflösung. Deutlich geworden ist im Zuge der Irak-Intervention, dass diese Mächte nicht über die Kraft verfügen, sich den USA entgegen zu stellen. Trotz aller Versuche ist es niemandem gelungen, gegenüber den USA eine Alternative darzustellen. Ein neues internationales System ist deshalb unausweichlich. Aber welche Formen dieses System annehmen wird, ist noch nicht entschieden. Es gibt schlicht betrachtet nur zwei Möglichkeiten: das weltweite Imperium nach den Vorstellungen der USA oder eine globale Demokratisierung, die die Völker der Welt durchsetzen werden. Die einzige Kraft, die sich dem neuen Herrschaftssystem der USA entgegen stellen kann, ist ein weltweiter Kampf der Menschen dieser Erde für Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit. Im Zuge der Globalisierung haben die Nationalstaaten an Bedeutung verloren. Ein Kampf, der sich innerhalb nationaler Grenzen beschränkt, hat im 21. Jahrhundert keine Chance mehr auf Erfolg.

Im Kampf für ein menschenwürdiges Leben

Sowohl bedingt durch ihre jahrzehntelange Erfahrung und ihre Organisiertheit im Kampf für Freiheit und Demokratie als auch bedingt durch die geographische Situation, durch die die kurdische Frage in vier Staaten des Mittleren Ostens wesentlich ist und hervorgerufen durch Flucht und Migration selbst bis nach Europa und Russland dringt, kommt den Kurdinnen und Kurden in diesem Kampf eine wichtige Rolle zu. Die demokratische Entwicklung der kurdischen Gesellschaft und besonders der kurdischen Frauen in den letzten Jahrzehnten erfordert Hochachtung. Innerhalb der feudalen Gesellschaftsstrukturen ist es gelungen, weite Teile der Bevölkerung zu einer vereinten Kraft des Aufstandes zu machen. Immer galt der Kampf mindestens ebenso sehr wie dem äußeren Feind den reaktionären Strukturen der eigenen Gesellschaft, die vor allem Frauen das Recht auf ein menschenwürdiges Leben versagten. Die kurdische Freiheitsbewegung ist dazu bereit, die Führung in der nötigen Demokratisierung des Mittleren Osten zu übernehmen und hat dafür konstruktive Vorschläge gemacht.

Es gibt nichts zu bereuen

Diese Tatsachen bleiben natürlich auch nicht den USA verborgen. Die vergeblichen Versuche, die kurdische Freiheitsbewegung zu kaufen, haben alte Tradition. Wer den Plänen der USA nicht nützt, soll möglichst vernichtet werden. In diesem Sinne ist in den letzten Wochen die Forderung nach einer Entwaffnung der bewaffneten Kräfte des KADEK aufgekommen. Gleichzeitig wurde in der Türkei das Reuegesetz aktuell. Aber die Haltung der kurdischen Bevölkerung, des KADEK, der PJA und Abdullah Öcalans ist eindeutig: Es gibt nichts zu bereuen. Wir haben bewaffnet für Freiheit und Würde gekämpft, weil das System uns keine andere Möglichkeit gelassen hat. Gestern wie heute sind wir bereit, die Waffen niederzulegen, wenn uns eine politische Partizipation ermöglicht wird.

Demokratisierung bedeutet Lösung der kurdischen Frage

Als Kurdisches Frauenbüro für Frieden haben wir oft betont, dass wir gegen jeden Krieg sind. Ebenso halten wir Freiheit und Würde für unverzichtbar. Nach dem Verlust ihrer strategischen Bedeutung in der Region bleibt der Türkei nur die Möglichkeit, über einen inneren Frieden erneut an Stärke zu gewinnen, wenn sie nicht gänzlich den Status einer Bananerepublik der USA geraten will. Frieden funktioniert nicht ohne Demokratisierung und Demokratisierung bedeutet Lösung der kurdischen Frage. Die kurdische Seite ist dazu bereit.

Eine Generalamnestie erfordert einen Sinneswandel und eine gegenseitige Annäherung. Mit dem Reuegesetz kann die Türkei nur verlieren. Wenn wir von Amnestie sprechen, dann meinen wir keinen Gnadenerlass, sondern die Bereitschaft, aufeinander zuzugehen. Gegen die patriarchale Logik fordern wir gemeinsam mit Kurdinnen und Kurden weltweit:

Generalamnestie für einen gesellschaftlichen Frieden!

Cenî - Kurdisches Frauenbüro für Frieden e.V.

1. Juni 2003

ceni_frauen@gmx.de