Aus Kurdistan Report Nr.97

Jetzt kommt die Stunde der Wahrheit

Die gefangene kurdische Politikerin Leyla Zana
Von Monika Morres

Leyla Zana ist weltweit ein Symbol des Kampfes für Demokratie und Gleichberechtigung des kurdischen Volkes und besonders der kurdischen Frauen. In folgendem Artikel stellt Monika Morres diese kurdische Politikerin vor. (Der zweite Teil erscheint in der nächsten Ausgabe des Kurdistan Report.)

Leider kann ich nicht unter Euch sein. In meiner Zelle fühle ich mich jedoch als Teil einer Welt, in der Frieden, Ruhe und Glück herrschen. In den letzten Tagen wurde die Kurdenfrage wieder aktuell. PKK-Führer Abdullah Öcalan hat sich dazu entschlossen, nach Italien zu fahren, um politisches Asyl zu beantragen. Ich bin nur eine Mutter unter vielen anderen in dem Kampf meines Volkes um Frieden und Freiheit, die versucht, sich Gehör zu verschaffen. Auch wenn ich im Gefängnis weit vom Konflikt entfernt bin, der mein Volk berührt, so empfinde ich nichts desto trotz die Auswirkungen dieses Krieges in sehr schmerzhafter Weise. Denn dieser namenlose Krieg hat verheerende Auswirkungen auf alle Gesellschaftsmitglieder. Und oft fühle ich mich wie eine Kriegswaise, eine Witwe oder eine Mutter. Meine Empfindungen und mein Leid richten sich nicht nur auf die kurdische und türkische Bevölkerung, sondern auf alle Kinder, Frauen und Männer der Welt, die Kriegs- und Konfliktsituationen erleben. Seit 15 Jahren gibt es in der Türkei eine Situation des Konflikts und des bewaffneten Kampfes, in dem sich die türkische Armee und die kurdischen Rebellen der PKK gegen über stehen. Und dies berührt beide Völker zutiefst. Aber mir scheint es, dass die kurdische Frau am tiefsten und stärksten unter den Auswirkungen des verwüstenden Krieges leidet. Im Unterschied zu den kurdischen Frauen erfahren die türkischen Frauen keine Leugnung ihrer kulturellen Identität ... Darüber hinaus erleiden die kurdischen Frauen in einer furchtbaren Weise die physische Gewalt, welche ihre körperliche Integrität verletzt. Daher ist es wichtig, die kurdischen Frauenorganisationen zu unterstützen und deren Aktionen aufzugreifen. Wir sind zwar alle auf unterschiedlichen Gegenden und Erdteilen geboren, aber es ist dieselbe Sonne, welche das Herz aller Frauen der Welt erwärmt.

Diese Grußbotschaft schickte Leyla Zana an den 12. Kongress der Internationalen Demokratischen Frauenföderation (IDFF) in Paris, der sich im November 1998 vier Tage lang mit den Themen Gewalt gegen die körperliche Unversehrtheit von Frauen und Mädchen, mit der Rolle der Frauen in bewaffneten Konflikten sowie dem Problem des Fundamentalismus und seine Auswirkungen auf Frauen befasste. Die etwa 500 Teilnehmerinnen forderten am Ende des Kongresses die Freilassung von Leyla Zana.

Wer ist die Gefangene Leyla Zana im Zentralgefängnis von Ankara? Sie wurde am 3. Mai 1961 in dem Dorf Bahceköyü (Baxce = Gärten) in der Nähe der Stadt Silvan geboren und wuchs auf in einer von Männern und dem Islam geprägten Umgebung. Sie erzählt: Ich kann nicht behaupten, dass ich in einem freien Familienumfeld aufgewachsen bin. Meine Mutter stand sehr stark unter dem Pantoffel meines Vaters. Der war recht feudal eingestellt. Wir sahen die Unterdrückung alltäglich, denn er handelte nach dem Motto: Die Frau darf nicht reden und hat keine Rechte. Und meine Mutter hat sich dem gebeugt und war mit der Rolle einer Nichtsprechenden einverstanden.

Frühe Rebellion Die meisten Mädchen akzeptierten diese Rolle und fanden auch, dass Jungen die Besseren und Mächtigeren sind und das Recht auf ihrer Seite haben. Leyla Zana besuchte eine Schule im Nachbardorf. Aber nach einem halben Jahr musste sie die Schule verlassen, weil Verwandte Druck auf die Familie ausgeübt hatten und der Auffassung waren, dass Mädchen eigentlich nichts lernen sollten. Leyla lehnte sich jedoch gegen diese und andere tradierte Zuweisungen auf. So war es Mädchen und Frauen nicht gestattet, das Haar offen zu tragen. Sie rebellierte und erzählt: "Ich konnte das nicht akzeptieren, und habe vor meiner Hochzeit nie ein Kopftuch getragen. Und auch danach band ich es nur für kurze Zeit um: Als ich es abwarf, gab es einen großen Tumult. Jeder sagte: Das Mädchen ist aus der Bahn, sie ist durchgedreht." Sie dagegen fragte ihren Vater, warum Männer kein Kopftuch tragen müssen, worauf sie freilich nie eine Antwort erhielt. 1975 allerdings verdeckte Leyla ihre Haare: Sie war 14 und wurde mit dem 20 Jahre älteren Cousin ihres Vaters, Mehdi Zana, verheiratet. Verzweifelt hatte sie sich dagegen gewehrt - doch vergebens. Über diese erzwungene Heirat sagt sie später: Ich gebe weder meiner Familie noch meinem Mann die Schuld, sondern den gesellschaftlichen Verhältnissen. Die müssten verändert werden. Sie sollten sich verändern - und zwar gewaltig.

Schreckenszeiten und Widerstand Leyla und Mehdi zogen in die Hauptstadt Kurdistans - nach Diyarbakir, wo 1975 ihr Sohn Ronay zur Welt kam. Mehdi Zana wurde 1977 auf einer unabhängigen Liste zum Bürgermeister von Diyarbakir gewählt. Drei Jahre später begann mit dem 12. September-Putsch die Schreckens- und Leidenszeit für die Menschen in den kurdischen Gebieten. Das Militär vernichtete und zerstörte erbarmungslos Menschen, Tiere, Wälder, Äcker, Dörfer. Zehntausende Kurdinnen und Kurden verschwanden in den türkischen Kerkern, darunter auch Leyla und Mehdi Zana. Leyla wurde wieder freigelassen, vielleicht, weil sie schwanger war. Ihr Mann erlitt schwerste Folter und wurde zu 36 Jahren Gefängnis verurteilt, weil er häufig Wahlreden in kurdischer Sprache gehalten hatte. Über diese grausame Zeit im Gefängnis von Diyarbakir hat er ein Buch geschrieben, das 1997 in deutscher Sprache unter dem Titel "Hölle Nr. 5" im Göttinger Werkstatt-Verlag erschienen ist. Die gemeinsame Tochter Ruken wurde 1981 in eine schlimme Zeit hinein geboren, und für Leyla Zana brach ein neuer Lebensabschnitt an. Nach der Verhaftung ihres Mannes begann ihre Politisierung und sie folgte ihm von Gefängnis zu Gefängnis: Diyarbakir, Aydin, Afyon und Eskisehir. Sie lernte während der langen Wartezeiten vor den Gefängnissen türkisch Lesen und Schreiben, um sich besser gegen die ständigen Schikanen wehren zu können. Sie holte Schulabschlüsse nach und erwarb später die Hochschulreife. Leyla befand sich auf dem direkten Weg von der Vergangenheit in die Zukunft. Sie organisierte fortan Solidaritätsaktionen für die politischen Gefangenen und deren Familien, entwickelte eine Bewegung gegen die Folter und das Verschwindenlassen von Menschen, spielte eine wichtige Rolle bei den Hungerstreiks und machte auf die unmenschlichen Bedingungen in den Gefängnissen aufmerksam. Sie arbeitete in der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte und war verantwortliche Redakteurin des Büros der kurdischen Zeitung Yeni Ülke in Diyarbakir. Aufgrund ihrer Aktivitäten wurde sie 1988 verhaftet und schwer gefoltert. Unter den Folgen dieser Folter hat sie bis heute zu leiden. Nach ihrer Freilassung setzte sie ihren Kampf für die politischen, sozialen und kulturellen Rechte des kurdischen Volkes fort.

Mit Erfolg ins Parlament 1991 kandidierte Leyla Zana auf der Liste der Sozialdemokratischen Partei (SHP) für das türkische Parlament, gemeinsam mit anderen Kollegen der pro-kurdischen Partei der Demokratie (DEP), die am 16. Juni 1994 verboten wurde. Zu ihrer Kandidatur sagte sie: Ich wollte keine Abgeordnete werden. Aber auf Verlangen der Bevölkerung hin hat man mich dann in die Kandidatenliste aufgenommen. Ich hatte mir eigentlich andere Bereiche der politischen Arbeit vorgestellt, zum Beispiel die Selbstorganisation der Frau. Es gab schon vor meiner Wahl ins Parlament Aktivitäten zur Gründung eines Frauenverbandes. Die wurden aber erst später in Istanbul und in Diyarbakir verwirklicht. Sie und ihr Kollege Hatip Dicle erzielten in Diyarbakir einen überwältigenden Wahlerfolg und zogen in die türkische Nationalversammlung nach Ankara. Weitere kurdische Abgeordnete waren Ahmet Türk, Sirri Sakik, Sedat Yurttas, Selim Sadak, Mahmut Alinak und Orhan Dogan - um nur einige zu nennen. In Ankara war Leyla Zana plötzlich wieder mit den alten patriarchalen und frauenfeindlichen Traditionen konfrontiert. Sie hatte in den vergangenen Jahren hinreichend bewiesen, dass sie eine unabhängige, selbstbewusste und intelligente Politikerin geworden war. Nun schlug ihr wieder männliche Ignoranz und Überheblichkeit entgegen. Ein Kollege aus der eigenen Fraktion befahl ihr Schweig Frau und bedeutete ihr, dass es üblich sei, zuerst die Männer zu Wort kommen zu lassen. Dazu schreibt Leyla Zana: Ich war fassungslos. Ich musste ihm also ganz ruhig erklären, dass ich mit fast doppelt soviel Stimmen wie er gewählt worden sei, dass die Wähler und Wählerinnen das getan hätten, damit ich rede, damit ich ihre Leiden und ihre Forderungen im Parlament, in den Medien und in der internationalen Öffentlichkeit zu Gehör bringen und dass ich deshalb genau soviel Recht wie jeder andere hätte, das Wort zu ergreifen. Er hat sich für sein Verhalten entschuldigt und niemand hat mehr versucht, mir das Wort abzuschneiden. Unter den 450 Abgeordneten gab es lediglich 8 Frauen, und Leyla Zana war die einzige Kurdin. Sie hatte sich vorgenommen, das Wort zu ergreifen, wann immer es ihr Wille war. Sie wartete damit nicht lange.

Ein Eid und seine Folgen Bei der Vereidigung zur Amtseinführung sollte ein Bekenntnis zur türkischen Verfassung abgelegt werden. Einer Verfassung, die nach dem Putsch der Militärs erarbeitet und 1982 erlassen wurde. Leyla Zana hierzu: Das war für mich um so fataler, als diese Verfassung einen außerordentlich repressiven Militärputsch legitimiert und den türkischen Nationalismus und die nicht weniger nationalistischen Ideen Atatürks zur offiziellen Staatsideologie erhebt. In ihr ist die Leugnung der Existenz des kurdischen Volkes kodifiziert, und jeder Anspruch auf eine kurdische Identität wird kriminalisiert. Das türkische politisch-militärische Establishment verlangte also von allen, die vom kurdischen Volk gewählt worden waren, einen Akt der Unterwerfung unter sein System. Dieser Unterwerfung wollte sich Leyla Zana nicht beugen. Ihren Auftritt, der für sie so folgenreich werden sollte, beschreibt sie in ihrem Buch: Um meine Bindung an die kurdische Identität hervorzuheben, trug ich an diesem Tag ein Stirnband in den kurdischen Farben. Als mein Name aufgerufen wurde, senkte sich Stille über das Halbrund des überfüllten Parlaments. Die wenigen Meter von meinem Sitz zum Podium schienen mir unendlich lang. Dort angekommen, sah ich auf den Zuhörerrängen ein imposantes Kontingent von Generälen, dekoriert mit Orden und Goldtressen, aber auch zahlreiche ausländische Diplomaten. Die Parteichefs und die Regierung waren vollzählig angetreten, um an der Zeremonie teilzunehmen, die vom Fernsehen direkt übertragen wurde. Jetzt kommt die Stunde der Wahrheit, sagte ich mir. Die kleine Kurdin vom Lande wird den Löwen vorgeworfen. Ich musste all meine Kraft aufbieten, um die Lage zu meistern. Zunächst habe ich die türkische Eidesformel, die mein Mandat formal in Kraft setzte, ganz ruhig vorgelesen. Und dann habe ich in Türkisch u n d in Kurdisch den folgenden Satz angefügt: Ich war gezwungen, die verlangten Formalitäten zu erfüllen. Ich kämpfe für das brüderliche Zusammenleben des kurdischen und des türkischen Volkes unter demokratischen Bedingungen.

Mit diesen zwei Sätzen und der Ungeheuerlichkeit, dass sie während dieser Zeremonie ein Stirnband in den kurdischen Farben rot-gelb-grün trug, hatte sie sich den abgrundtiefen Hass der Mehrheit der Parlamentarier zugezogen. Wütende Rufe Verräter!, Separatisten, Mörder oder Verhaftet sie. Sperrt sie ein! trommelten auf sie und Hatip Dicle ein, der sich ihr angeschlossen hatte. Im Protokoll dieser Sitzung wird später von einem unverständlichen Idiom die Rede sein, in dem gesprochen worden sei. Aufgrund dieses Ereignisses gab es allen Ernstes im Parlament Debatten um eine Veränderung der Ampelfarben! Erdal Inönü, der Vorsitzende der SHP, auf deren Liste Leyla und die anderen Kurden kandidiert hatten, forderte ihren und den Rücktritt von Hatip Dicle. Dieser Aufforderung kamen sie allerdings nicht nach. Ein Jahr später, am 21. März 1992: das Massaker von Cizre. Aus Anlass des kurdischen Neujahrsfestes Newroz fanden in vielen Städten Kundgebungen statt. So auch in Cizre. Das türkische Militär knüppelte über hundert Zivilisten brutal zusammen und die Parteiführung der SHP hatte dazu nichts zu sagen. Gemeinsam mit 20 kurdischen Abgeordneten trat Leyla Zana aus dieser Partei aus. Seither schlug ihr pure Verachtung entgegen; sie wurde zu einer der gefährdetsten Frauen in der Türkei und schreibt: Sie hassten mich wie die Pest. In den Schießständen der Polizei und der Spezialeinheiten benutzten sie mein Foto als Zielscheibe - die Inkarnation des Feindes, den es zu erledigen galt. Während man uns immer wieder verbal bedrohte, wurden etwa 60 führende Kader und aktive Mitglieder unserer "Partei der Demokratie" ermordet. Aber dann entschloss sich die Armee, die Führung zu zerschlagen und sich auch die Abgeordneten vorzunehmen. Es existierte eine schwarze Liste der Staatsfeinde. Leyla Zana entkam 1993 zwei Attentaten. Ihr Kollege Mehmet Sincar, Abgeordneter aus Mardin und der DEP-Kreisvorsitzende von Batman, Metin Özdemir, wurden am 4. September 1993 in Diyarbakir von Todesschwadronen ermordet, der Abgeordnete Nizamettin Toguc überlebte nur knapp, andere Funktionäre der DEP wurden verletzt. Sie alle wollten an der Beerdigung des DEP-Mitglieds Habib Kilic teilnehmen, der am 2. September in Batman bei einem Angriff der Konterguerilla getötet wurde. Auf einem DEP-Kongreß in Ankara hatte Leyla Zana die Hand von Esma Öcalan, der Mutter des PKK-Vorsitzenden, geküsst. Das führte in den türkischen Medien zu wütenden Leitartikeln, die den Hass gegen die Abgeordnete massiv schürten und die Bevölkerung gegen sie aufbrachte. Auf die Frage eines deutschen Journalisten, warum sie trotz dieser massiven Anfeindungen weiterhin ihre parlamentarische Arbeit fortsetzen wolle und wie sie die gesellschaftliche Situation der Frauen bewerte, antwortete ihm Leyla Zana: Mein Hauptpunkt sind die Menschenrechte und die Menschenrechtsverletzungen in Kurdistan. Die Armee genießt Immunität. Doch trotz Behinderungen und Einschränkungen erstellen wir von Zeit zu Zeit Berichte über die Lage und übergeben sie dem Ministerpräsidenten, obwohl er behauptet, dass das keine Rolle spielt. Was die Geschlechterfrage betrifft: Die Lösung des Frauenproblems kann nicht getrennt werden von den generellen gesellschaftlichen Problemen. Das heißt: Wir versuchen zuerst, die Veränderung der Gesellschaft voranzubringen, um überhaupt das Frauenproblem lösen zu können.

Das Ende einer Dienstreise Anschläge und stetig heftiger werdende tägliche Drohungen gegen ihre Familie, veranlassten Leyla Zana dennoch nicht zum Aufgeben, im Gegenteil: Das Ausland auf das Schicksal ihres Volkes, aber auch auf ihre persönliche Gefährdung aufmerksam zu machen, hatte sie sich vorgenommen. So reiste sie Anfang 1994 mit ihren Kollegen Ahmet Türk, Sirri Sakik und Orhan Dogan in die USA und nach Europa. Sie wurden überall mit großem Interesse empfangen und die Presse berichtete ausführlich über ihr Anliegen und die Situation der kurdischen Bevölkerung im Südosten der Türkei. Die kurdische Frage stand nunmehr auf der internationalen Tagesordnung. Nach ihrer Rückkehr in die Türkei, wollten die Abgeordneten eine weitere Rundreise in westliche Länder vorbereiten. Doch sollte es dazu nicht mehr kommen. Die Ereignisse überschlugen sich: Auf Befehl des damaligen Generalstabschefs Dogan Güres beschloss das türkische Parlament in einem Gewaltstreich am 2. März 1994 die Aufhebung der parlamentarischen Immunität aller Mitglieder der diplomatischen Delegation und zweier weiterer Abgeordneter. Unter tobendem Applaus wurden sie aus dem Parlament heraus festgenommen und kamen ins Gefängnis von Ankara. Die damalige Ministerpräsidentin Tansu Ciller jubelte: Wir haben die Terroristen mit einem Fußtritt aus dem Parlament geworfen. Leyla Zana schreibt: Man wollte uns ein für alle Mal zum Schweigen bringen. Statt in dem großen Gefängnis unter freiem Himmel, das die Türkei de facto für Kurden und türkische Demokraten ist, wurden wir nun für lange Jahre in vier Wände und hinter Gittern eingesperrt. Die noch nicht inhaftierten Abgeordneten Ali Yigit, Naif Günes, Remzi Kartal, Nizamettin Toguc, Zübeyir Aydar und Mahmut Kilinc flohen am Tag des DEP-Verbots (16. Juni 1994) nach Europa ins Exil. Die Abgeordneten Selim Sadak und Sedat Yurtdas wurden am 1. Juli 1994 verhaftet; somit waren acht Abgeordnete in Haft.

90 Gefängnisjahre für acht Abgeordnete Am 8. Dezember 1994 fand der Prozess gegen Leyla Zana und die anderen statt. Das Staatssicherheitsgericht forderte die Todesstrafe. Den internationalen Protesten und der Anwesenheit von zahlreichen ProzessbeobachterInnen aus aller Welt war es vielleicht zu verdanken, dass die Todesstrafe nicht verhängt wurde. Dennoch: das Strafmaß war und ist ein Skandal. Wegen Hochverrats und Separatismus erhielten Leyla Zana, Ahmet Türk, Hatip Dicle, Orhan Dogan und Selim Sadak 15 Jahre Haft. Sirri Sakik und Mahmut Alinak wurden wegen "schriftlicher und mündlicher Propaganda mit dem Ziel der Teilung der Türkischen Republik" zu drei Jahren und sechs Monaten Haft verurteilt und Sedat Yurtdas zu sieben Jahren und sechs Monaten Gefängnis. Mit diesen politischen Urteilen hat der türkische Staat deutlich gemacht, dass er an einer friedlichen und politischen Lösung der kurdischen Frage keinerlei Interesse hat.

Im Oktober 1995 bestätigte das Revisionsgericht die Urteile gegen Leyla Zana, Hatip Dicle, Orhan Dogan und Selim Sadak. Sie müssen demnach drei Viertel ihrer Haftstrafen absitzen. Im Juli 1996 wurde wegen dieser Gesinnungsurteile ein Klageverfahren gegen die Türkei beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg eingeleitet. 1997 konnte ein erster Erfolg erzielt werden: Der Gerichtshof verurteilte die Türkei wegen der Umstände der Festnahme von Leyla Zana und der fünf anderen Abgeordneten. Dies bezog sich darauf, dass die Betroffenen 14 Tage in Polizeigewahrsam gehalten wurden, ohne einem Haftrichter vorgeführt worden zu sein. Das Gericht forderte die Regierung in Ankara auf, eine Entschädigung in Höhe von insgesamt rund 84.000 DM zu zahlen.

Die Fraueninitiative Freiheit für Leyla Zana hat vor dem Europäischen Gerichtshof in Straßburg eine Aktion durchgeführt. Weitere noch nicht abgeschlossene Verfahren müssen klären, ob die Verurteilung der ehemaligen Abgeordneten deren Grundrecht auf freie Meinungsäußerung verletzt hat und ob die türkischen Staatssicherheitsgerichte überhaupt unabhängige Gerichte im Sinne der Menschenrechtskonvention sind.