Reportage über RechtsanwältInnen aus der Beilage Arti Gündem der Zeitung Yeni Gündem vom 20.1.01 von Evrim Alatas

Was die Träume preisgeben

Wenn wir ihnen begegnen, haben sie gesammelte Akten unter dem Arm, tragen Roben mit hohen Kragen, die das kalte Gesicht der Justiz widerspiegeln und jonglieren mit Begriffen wie Schuld und Unschuld, Tod und Freiheit.
Mit dem Todesfasten sind wieder einmal die Gefangenen, die entweder schon gestorben oder zum sterben bereit sind, auf unsere Tagesordnung getreten. In einer Zeit, in der alle Augen auf die Hungerstreikenden und ihre Familien gerichtet sind, haben wir sie nach den Spuren gefragt, die die Ereignisse bei ihnen hinterlassen haben - die Schläge, die sie für ihre MandantInnen eingesteckt haben, die Pflicht, Mütter über den Tod ihrer Kinder aufzuklären oder MandantInnen in der Leichenhalle zu identifizieren. Sie erzählten von Träumen, in denen ihre MandantInnen hingerichtet werden, in sie Leichen Treppen heruntertragen und in ihren Händen nach Folterspuren suchen ...

'Wenn ich auf die Istiklal Caddesi (Haupteinkaufstrasse in Istanbul, nahe beim IHD) komme, werde ich wütend'

Wir kennen sie als Vorsitzende der Istanbuler Zweigstelle des IHD und natürlich als Anwältin. Wir erinnern uns an die Schlagzeile 'Schon wieder diese Frau' in der Zeitung Hürriyet, als sie kürzlich in der Nacht der Operation vor das Gefängnis Bayrampasa kam. Die Rechtsanwältin Eren Keskin beginnt das Gespräch mit der Erklärung, dass sie sich aus politischen Gründen an politischen Prozessen beteiligt und deshalb sowohl den MandantInnen als auch deren Familien sehr nahekommt. Sie sagt: "Ich habe wenige MandantInnen, die ins Todesfasten getreten sind. Aber das ist auch nicht sehr wichtig. Es sind Menschen, die du kennst und liebst oder von denen du gehört hast im Todesfasten." Sie berichtet von Türen, die vor ihrem Gesicht zugeschlagen werden, von gebundenden Händen und der Hilflosigkeit angesichts der Erwartungen der Familien. "Als Riza Poyraz damals aus dem Fenster geworfen wurde, war ich sehr damit beschäftigt und bin seiner Familie sehr nahe gekommen. Bei dem jetzigen Angriff wurde Riza schwer verletzt. Da ich die Information darüber bekommen hatte, glaubte seine Mutter, dass ich ihn werde retten können. Sie sagte 'Du hast ihn letztes Mal gerettet, du wirst ihn auch jetzt wieder retten'. Sie vertraut dir, aber es gibt nichts, was du tun kannst. Mir wurde gesagt, dass sein Zustand sehr schlecht sei und wir der Familie keine Hoffnung machen sollten. 15 Minuten vor seinem Tod rief seine Mutter an und erzählte, dass sie mit einem Arzt gesprochen habe. Sie sagte: 'Wenn du kommst, werden sie uns mehr Informationen geben'. Ich teilte ihr mit, dass ich bei Gericht sei und später kommen werde. 15 Minuten später riefen Angehörige an und sagten, dass er gestorben sei. Ich fuhr zur Leichenhalle. Seine Mutter kam, aber sie war sehr ruhig. Sie sagte: 'Sie sollen ihn hierher gebracht haben, hier wirst du es ihnen zeigen, nicht wahr'. In dem Moment begriff ich, dass sie keine Ahnung vom Tod ihres Sohnes hatte und ich ihr das mitteilen musste. Als ein Verwandter kam und sagte: 'Das Kind ist von uns gegangen', begriff sie. Sie umarmte mich und sagte: 'Sag du, ist es wahr, konntest du meinen Sohn nicht retten?'. Sie schaute mir ins Gesicht und ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Danach gingen wir gemeinsam rein und identifizierten ihn. Eine Mutter, die ihren toten Sohn umarmt ... Dergleichen haben wir jahrelang erlebt. Wir sind zu Autopsien von Menschen gegangen, die wir sehr geliebt haben. Inzwischen können wir ja ohnehin nicht mehr an den Autopsien teilnehmen. Du fängst an zu denken, dies ist der Ort, an dem wir alle enden." Eren Keskin erzählt, dass viele AnwältInnen "sonderbare" Träume haben. "Ich zum Beispiel schleppe jede Nacht Menschen, denen Arme und Beine fehlen, die Treppe hinunter. Du kennst die Tatsachen genau, aber kannst sie niemandem erklären. In solchen Zeiten frage ich mich, ob dieses Volk das alles wert ist. Im Verein kommen Todesnachrichten an, du machst einen Bericht darüber, du lebst mit dem Schmerz. Dann kommst du auf die Istiklal Caddesi, die Bars und Cafes sind voller Menschen. Das geht auf die Nerven, macht mich wütend, aber das geht auch schnell wieder vorbei."

'Du erlebst grosse Verletzungen'

Die Anwältin Gülseren Yoleri ... sie beginnt das Gespräch, indem sie die Besonderheit hervorhebt, die es bedeutet, in politischen Prozessen tätig zu sein. Denn dabei geht es nicht nur ums Gewinnen oder Verlieren, sondern um die unmittelbare Zuständigkeit für das, was der Mandant erleben wird, wenn er ins Gefängnis kommt. Sie sagt: "Man wird zu Verwandten. Deshalb fühlst du dich, wenn ein Mandant oder eine Mandantin stirbt, als ob du eine Schwester oder einen Bruder verloren hättest." Sie erzählt, wie sie 1996 mitansehen musste, wie ihre MandantInnen langsam starben und fährt fort: "In Ankara hatte ich einen sehr jungen, voller Hoffnungen steckenden Mandanten. Sein Blick wurde langsam trübe und ich habe ihn verloren." Weiter klagt sie darüber, dass sie den Widerspruch zwischen dem Wunsch nach einem besseren Leben und der Wahl des Todes nicht bewerten können und gezwungen sind, das Sterben mit gebundenen Händen zu beobachten. Sie erzählt: "Du erlebst grosse Verletzungen. Z.B. war ich bei der Autopsie von Süleyman Yeter anwesend. Jeden Schmerz, den ich an seinem Körper gesehen habe, habe ich dort genauso erlebt. Als ob die Wunden dort, in jenem Moment entstanden wären. Als ob er die Schmerzen in dem Augenblick erleiden würde. Tagelang habe ich gedacht, wenn ich meine Hände angeguckt habe, dort die Spuren zu sehen, die er an Händen und Armen hatte. Du stürzt sozusagen ab für einen Moment, aber du musst dich zusammenreissen."

'Vor zwei Tagen habt ihr doch noch gemeinsam Tee getrunken'

Einer der Anwälte, der viele MandantInnen bei der Operation gegen die Gefängnisse verloren hat, ist Behiç Asçi. Er spricht von der Beziehung, die er zu seinen MandantInnen aufbaut, als von einer, die über die Anwalt-Mandant Beziehung hinaus eine menschliche Dimension gewinnt. Er sagt: "Sie sind Menschen, die wir kennen, und sie sterben ... sie lösen sich vor unseren Augen auf." Wir fragen ihn, wie es ist, einen Mandanten zu verlieren. "Es ist der Schmerz, den du fühlst, wenn du einen Menschen verlierst. Du verlierst einen Freund, eine Freundschaft, in der du vieles geteilt hast. Bei der Autopsie ... vor dir liegt eine Leiche, mit der du noch vor zwei Tagen Tee getrunken, dich unterhalten hast ... Du betrachtest die Autopsie nicht als gesetzliche Pflicht, sondern als Fortsetzung der Verantwortung, die es zu erledigen gilt, du für deinen Mandanten hast."

'Wenn ihm etwas zustösst ...'

Fatma Karatas ist seit zwei Jahren Anwältin. Im ersten Jahr ihrer Anwaltstätigkeit ist sie zur Gerichtsmedizin gegangen. Sie erzählt, dass es schwer war, das zu ertragen: "Es fiel mir sehr schwer, Menschen, die in mein Leben getreten waren, in einem solchen Zustand zu sehen. Ich habe einen Mandanten im Todesfasten. Wenn ich alleine bin, denke ich darüber nach, was ich mache, wenn ihm etwas zustösst. Ob ich stark genug sein werde, um etwas zu organisieren. Ich habe 125 Prozesse, die fortgesetzt werden und in die Urteilsphase kommen. Jede Nacht träume ich. Ich sehe Hinrichtungen durch erschiessen, durch erwürgen, durch erhängen. Manchmal in der Dunkelheit, manchmal im Halbdunkel, alle sprechen kurdisch, oder an einem ganz anderen Ort sprechen alle türkisch usw. ..."

'Wenn doch bloss nicht ...'

Gülizar Tuncer ... Sie nahm an einer Protestaktion gegen die Gefängnisoperation teil. Bei der Kundgebung am Taksim erlitt sie durch Schläge ein Schädeltrauma. Auch sie denkt zum Thema Beziehung zwischen Anwältin-Mandantin das gleiche wie die anderen. D.h., vor allem geht es um Menschen ... Sie sagt, dass es bei langandauernden Verhandlungen zu Freundschaften kommt, die das Ausmass der Anwalt-Mandant-Beziehung überschreiten. Auch sie hat bei der Operation MandantInnen, FreundInnen verloren. Auch sie fragen wir danach, wie es ist, eine Mandantin zu verlieren. "Das ist ein grosser Schmerz. Als ob du jemanden aus deiner Familie verlierst. Die Autopsie ist eine so schreckliche Sache, dass du - obwohl es sich um eine Notwendigkeit handelt - denkst, wenn es doch bloss nicht sein müsste. Du bist gezwungen, mitanzusehen, wie ein Mensch, den du gestern noch lebend gesehen hast, mit dem du dich unterhalten hast, von Schüssen durchlöchert oder verbrannt vor dir liegt und sein Körper aufgeschnitten, auseinandergenommen und wieder zugenäht wird. Das ist, mit einem einzigen Wort, beängstigend. Nach Autopsien sehe ich tagelang Leichen im Taum. Während der Zeit der Operation habe ich immer von den Gefängnissen geträumt. Du legst dich mit ihnen hin und stehst mit ihnen auf." (...)