Das Geschlecht der Menschenrechte

HANDAN ÇAGLAYAN

„Schon wieder eine Kolumne über Ehrenmorde?“ – Ich weiß nicht, ob Sie so denken, aber ich kann das nicht. Denn weiter sterben Frauen, werden Frauen ermordet. Letzte Woche wurde in Diyadin eine Frauenleiche gefunden, die ermordet und dann verbrannt worden war. Danach beging in Nusaybin eine siebenfache Mutter Selbstmord, indem sie Reinigungsmittel trank. Der Bruder der 35-jährigen Frau verdächtigt den Ehemann des Mordes an seiner Schwester Zerifa, die ständig von ihm verprügelt worden sei, als wolle er sie umbringen.

Zur gleichen Zeit wie Zerifa wird eine weitere Frau, die 15-jährige Meryem, von ihrem Bruder ermordet. Die Familie ist vor fünf Jahren von Suruç nach Antep gezogen und arbeitet auf Baumwollfeldern. Sie haben kein festes Einkommen und keine soziale Absicherung. Und als ich gerade schreiben will, dass dies die Bilanz der Frauenmorde für diese Woche ist, kommt eine weitere Todesnachricht aus Cizre. Die 30-jährige Gurbet ist von ihrer Familie „im Namen der Ehre“ ermordet worden.

Diyadin, Nusaybin, Suruç, Cizre. Wenn man diese Namen hört, kommen einem als erstes die Forderung nach Freiheit, Gleichheit und Frieden sowie der Kampf für Menschenrechte in den Kopf. Denn in all diesen Orten ist ein überzeugter Kampf für Gleichheit, Freiheit und ein menschenwürdiges Leben geführt worden, der viele Opfer gekostet hat.

Und wenn das so ist, dann stimmt da etwas nicht.

Denn es ist widersprüchlich, dass an Orten, an denen unter hohen Opfern für Gleichheit, Freiheit und ein menschenwürdiges Leben gekämpft wird, das Recht von Frauen auf Leben vollständig missachtet wird.

Sicherlich gibt es Frauenmorde nicht nur in diesen Gegenden, sondern überall dort, wo das Patriarchat in der einen oder anderen Form vorherrscht. Und es gibt auch kein anderes Gesellschaftsmodell, das bereit stehen würde.

Es ist nur zu richtig, dass Armut die Gewalt gegen Frauen verstärkt, dass Migration die Familien zerstört, dass der Kampf gegen Gewalt gegen Frauen gleichzeitig auch Kampf gegen die Armut bedeutet und auf staatlicher Ebene Maßnahmen getroffen werden müssen, um diesen Zustand zu beseitigen. Es ist auch richtig, dass Ehrenmorde dazu benutzt werden, um die Kurden in rassistischer Form abzustempeln. Und es stimmt, dass das Gerede der AKP-Abgeordneten aus Antep, Fatma Sahin, die gleichzeitig Vorsitzende der Kommission zur Untersuchung von Ehrenmorden ist, bei einem Besuch der Familie von Meryem den Gipfel der Unwissenheit darstellt: Sahin hatte eine Verbindung zwischen mangelnder Bildung und Ehrenmorden gezogen und diese These damit belegt, dass Meryems Mutter kein türkisch spricht (Mal davon abgesehen, dass 70 Prozent der Bürger der Republik Türkei als ungebildet betrachtet werden müssten, wenn man davon ausgeht, dass es ein Bildungsmangel ist, keine andere Sprache als die eigene Muttersprache zu können).

Gut, die oben genannten Feststellungen sind alle richtig, aber können sie Anlass dafür sein, die unmittelbar vor unserer Nase stattfindenden Frauenmassaker zu ignorieren? […]

Können wir wirklich einfach so sagen, „was können wir schon tun, diese Problematik betrifft die gesamte Welt, Armut, Migration und Vertreibung steigern das Problem, der Staat muss Frauenschutzhäuser einrichten…“? Gibt es wirklich nichts, was wir tun können?

Doch, gibt es, muss es geben. Oder haben wir, die wir uns seit Jahren für Menschenrechte, Gleichheit und Freiheit einsetzen, nichts zum Thema Ehrenmorde und einer Gewalt zu sagen, die alle Rechte von Frauen einschließlich des Rechts auf Leben verletzt?

Wäre es nicht notwendig, dass die DTP, die mit einem einzigen Satz Tausende Menschen in Cizre oder Nusaybin beeinflussen kann, dagegen eine aktive, vorbeugende Politik festlegt?

Müssen nicht die Demokratie-Plattformen, die sich in den Provinzen der [kurdischen] Region aus der crème de la crème der Zivilgesellschaft zusammensetzen, sich diesem Thema zuwenden?

Es ist ganz klar, dass weitere Dutzende Einrichtungen, die ich hier nicht alle aufzählen kann, dass wir alle eine aufrichtige und zu Resultaten führende Haltung gegen diese Massaker an Frauen einnehmen müssen. Aber aus unseren Institutionen – außer den Frauenräten und -Plattformen – ist kein Laut zu vernehmen. Betrachten unsere Institutionen, die sich mit „hoher Politik“ beschäftigen, Ehrenmorde lediglich als Problem der Frauenräte? Wenn das so ist, dann läuft etwas mächtig schief. Wir kämpfen für Menschenrechte und betrachten gleichzeitig die Ermordung von Meryem und Zerifa als Kurzmeldung auf der dritten Seite in der Zeitung. Die Absicht dahinter kenne ich nicht, aber das ist die offen sichtbare Praxis.

Entweder der Terminus Menschenrechte umfasst keine Frauenrechte oder er tut es, aber Zerifa und Meryem waren keine Menschen. Entweder unsere Auffassung von Menschenrechten ist nicht ganzheitlich oder Menschenrechte haben ein Geschlecht. Ich beende dieses Schreiben mit dem Wunsch, dass alle in der Region tätigen Institutionen die Ehrenmorde auf ihre Tagesordnung setzen, dazu Stellung beziehen und Zweifel dieser Art beseitigt werden.

caglayanhandan@yahoo.com

Quelle: Gündem, 11.07.2006, ISKU