Die Geschichte einer Reise...

Es meldet sich eine Stimme aus Adana:

“Dein Schicksal hängt mit meinem zusammen. Meine Gefangenschaft betrifft auch dich. Die Ketten an deinen Händen würgen meinen Hals. Wenn ich von meinem Mann geschlagen werde, stößt du Schreie aus. Wenn du vergewaltigt wirst, blutet auch mein Herz. Die Armut von Ayse, die Hilflosigkeit Mehtaps, die Repression gegen Gülay, meine Sprachlosigkeit und deine Ängste machen aus allen Frauen Gefangene.“

Die Frauen aus Istanbul antworten:
„Wir sind Gefangene. Die Werbung, Fernsehserien und Filme erzählen Lügen. Wir sind die ältesten Sklaven der Geschichte. Wir sind Frauen.“
Dann mischen sich Frauen aus Batman ins Gespräch.
“Wenn meine Ketten auch euch fesseln, wenn der Schmerz uns völlig unbekannter Frauen auch uns weh tut, warum tauschen wir uns dann nicht aus über unser Leid? Warum sind wir uns so fern?“

Und die Frauen aus Ankara fangen an zu sprechen:
„Es können sich nur die Frauen treffen, die auch die entsprechenden Möglichkeiten dazu haben. Sie verfügen über alle Informationen. Aber die meisten Frauen sind sich fremd.“

Auch Frauen aus Konya haben unsere Stimmen gehört:
„Lasst uns zusammen kommen und uns austauschen. Lasst uns ein Treffen machen, an dem nicht nur wir teilnehmen, sondern auch Frauen, die nicht aus dem Haus können, die nicht über die eigene Straße hinaus kommen, die keinen Schritt aus dem Dorf heraus machen können.“

„Wie soll das gehen?“ dachten wir. Die Antwort haben wir gemeinsam gefunden.
„Wir machen uns zu Botinnen. Wir sammeln die Worte aller Frauen, die wir erreichen können und leiten sie an die anderen weiter. Es gibt keinen anderen Weg. Es reden immer nur die Frauen aus den großen Städten. Sie können das. Aber es sollen alle sprechen. Alle sollen übereinander Bescheid wissen. Die Worte aller Frauen sollen an einem Ort zusammen getragen werden.“
Damit zu beginnen, aufeinander zuzugehen, war gar nicht so leicht. Unsere Aufgabe war es, unsere Farben, die an den schattigen Orten des unbarmherzig verlaufenden Lebens verborgen sind, zu anderen Orten, anderen Farben, anderen Frauen zu bringen.
Wir wollten etwas rebellisches machen. Wir wollten sogar mehr als eine Rebellion, wir suchten die Revolution. Wir hatten Vertrauen in uns selbst, trotz unserer Bedrängtheit innerhalb eines entfremdeten Lebens und trotz unserer Schwäche gegenüber der Macht der patriarchalen Institutionalisierung.
Wir gingen davon aus, dass das Hauptmerkmal des Patriarchats über alle Zeitalter hinweg die Institutionalisierung der Entfremdung von Wissen und Politik vom gesellschaftlichen Leben ist. Die Aneignung, Weitergabe, Verbreitung und Nutzung von Wissen sowie die Formen des Eingriffs in die Gesellschaftsstruktur durch dieses Wissen, also die Art und Weise, Politik zu machen, fördern die Reproduktion der herrschenden Verhältnisse. Auch diejenigen, die gegen die bestehenden Herrschaftsformen für Befreiung kämpfen, können sich nicht von dieser institutionalisierten Tradition lösen. Wir Frauen sehnten eine solche Loslösung herbei. Wir wollten die Vergangenheit des Kampfes, aus dem wir Kraft geschöpft hatten, überwinden.
Wir hatten uns daran gewöhnt, dass eine Handvoll Frauen im Namen der anderen oder für sie Aktionen machten. Und daran, dass Frauen gemäß einer festgelegten Tagesordnung über ihre jeweiligen Organisationen an bestimmten Tagen auf die Straße gingen. Schließlich verspürten wir das Bedürfnis nach einem Denk- und Aktionsprozess, der in uns selbst entstanden war. Wir hatten den Wunsch, unsere Probleme, die in der politischen Agenda keinen Platz fanden und in den Zeitungen höchsten auf den letzten Seiten behandelt wurden, mit lauter Stimme zum Ausdruck zu bringen und daraus Forderungen eines Aufstandes zu machen. Dafür war es notwendig, dass so viele Frauen wie möglich damit anfangen, neu zu denken, sich kennen zu lernen und gemeinsam zu handeln. Wir wollten einen Wandlungsprozess einleiten, an dem sich jede Frau gemäß ihrer eigenen Möglichkeiten beteiligen kann.
Andererseits bestand die Möglichkeit, kaputt zu gehen bei der Aufgabe, schnellstens unsere Seelen zueinander zu bringen, an denen die Unterdrückung Spuren hinterlassen hat und deren Ketten Gift aussprühen. Es war keine einfache Angelegenheit. Aber wenn wir die Briefe, in denen wir alles losgeworden waren, und die Stoffstücke, die verschiedene Bedeutungen hatten, zusammenfügten, könnten wir damit zumindest die Sprünge in unserem Inneren kitten.
Wir fällten die Entscheidung.

Als wir mit der Arbeit begannen, war unsere größte Angst das Desinteresse, das aus Hoffnungslosigkeit entsteht. Und so war es dann auch, dass sich unsere Herzen zusammenzogen, als wir bei den ersten Wohnungsversammlungen lediglich zu hören bekamen: „Ich habe kein Problem...“ Aber als dann später die gleichen Frauen uns ins Hinterzimmer zogen und mit den Worten „Wenn ich vor den Nachbarinnen gesprochen hätte, hätten sie mich ins Gerede gebracht...“ begannen, ihr Herz auszuschütten, da entstand bei uns langsam eine Arbeitsmethode. Über was wurde nicht alles gesprochen in den Hinterzimmern... „Ich kann nicht schreiben und lesen, schreib du an meiner Stelle: wenn ich nicht will, dann soll diese Sache nicht laufen, verstehst du, egal ob ich müde bin oder krank, der Kerl hört mir einfach nicht zu, er greift mich an wie ein Tier... das kannst du sagen in Konya. Schreib aber nicht meinen Nachnamen auf, schreib einfach nur Tülay.“
Wir haben nur Tülay aufgeschrieben. Ohnehin ist nicht einmal ihr Nachname ihr eigener.

Am Samstag, dem 6. Juli 2002, haben wir uns von Adana, Antakya, Ankara, Batman, Bursa, Istanbul und Mersin auf den Weg zu einander gemacht. Auf den Weg nach Konya. Von Dorf zu Dorf, von Stadt zu Stadt haben wir unsere Sorgen mit allen Frauen ausgetauscht, die wir angetroffen haben; haben ihre Probleme unseren eigenen zugefügt und zum Treffen in Konya getragen.
In Adalioglu, Aksaray, Antep, Beyagil, Bozhöyük, Cihanbeyli, Cumalikizik, Çiftehan, Çerkesliköy, Demirciler, Denizliköy, Dilovasi, Diyarbakir, Eregli, Eskisehir, Gaziler, Gebze, Gemlik, Gölcük, Güzeltepe, Hacivat, Hasangazi, Haymana, Inegöl, Izmit, Kayseri, Kazanli, Kestel, Küçükdikili, Maras, Orhangazi, Osmangazi, Özgürler, Pelitliköy, Pozanti, Sehitler, Tarsus, Tepecik, Ulastepe, Ulukisla, Urfa, Yenice und schließlich in Konya haben Frauen Botendienste füreinander geleistet. In den Briefen, die wie ein wertvoller Schatz gehütet wurden, brachten die Frauen die erlebte Gewalt zur Sprache. Es kamen nicht nur Worte zusammen, sondern auch die Herzen. Jede Frau lud den Botinnen eine Erinnerung aus Stoff auf den Rücken. Handarbeiten, Kopftücher, Spitze oder einfach ein Stück Stoff... In Konya wurde alles zusammengefügt. Wir nähten die Stoffe zusammen und verwandelten sie in ein Werk, das uns allen gehört.
Wir kamen unter Schmerzen vorwärts... unter der Erschütterung der Dunkelheit in unserem Inneren mit jedem neuen Brief. Die verkrusteten Entzündungen in unseren Seelen brachen auf, begannen zu fließen und zwangen uns zu einer Reise der furchtbaren Begegnungen. In unseren Händen befanden sich Briefe, in denen Tausende von Frauen ihre größten Geheimnisse anvertraut hatten. Die Wahlmöglichkeit, dieses Vertrauen, diese kraftvolle Hoffnung ins Leere laufen zu lassen, gab es nicht. Je schwerer die Last auf unseren Rücken wurde, desto unmöglicher wurde eine Rückkehr. Bei jedem Schritt erhoben sich in unseren Seelen Ungeheuer, die Tausende von Jahren gewartet hatten. Sie kamen in den Worten anderer Frauen auf uns zu. Wie Bälle schnellten unsere eigenen Schmerzen, die wir nicht hatten definieren können, in ihren Worten auf uns zu. Wir hatten ja keine Ahnung davon gehabt, dass wir vor unserer eigenen Wirklichkeit weglaufen würden; wir hatten nicht gewusst, wie stark unsere Verteidigungsmechanismen sind. Der Spiegel, die unserem Ich vorgehalten wurden, waren zum Verrücktwerden. Unsere Hilflosigkeit, unsere Beteiligung an Schuld und Verbrechen, unsere Masken, unsere Ängste, unsere Eifersucht, unsere Abhängigkeit, unsere Träume, unsere Liebe...

Die Frauen von Konya empfingen die Botinnen am 12. Juli mit Begeisterung. Aufgeregt öffneten wir unsere Bündel mit den Briefen. Jetzt war die Zeit für die Versammlung gekommen, auf der wir die gesammelten Briefe gemeinsam auswerten, unsere privatesten Gefühle und Geheimnisse teilen und einen gemeinsamen Text dazu verfassen wollten. Aber wir konnten die Versammlung nicht durchführen. Als wir nach der langen und schlaflosen Reise im Versammlungsraum zusammen kamen, waren wir trotz der Müdigkeit entschlossen, uns gegenseitig unsere Herzen auszuschütten. Aber in dem Moment, in dem wir den Mund öffneten, um die gesammelten Geheimnisse zum Ausdruck zu bringen, sahen wir sie. Sie lachten hinter ihren Schnauzbärten. Ihre abschätzigen und spöttischen Ausdrücke verbargen nicht ihre Augen, aus denen Bedrückung sprach. In aller Ruhe bauten sie drei Kameras auf und ließen sich mit gespreizten Beinen nieder. Wir taten alles, was in unserer Macht stand, um die Versammlung doch noch stattfinden zu lassen, wir machten eine Pause, telefonierten, warteten... aber nein, sie hatten nicht die Absicht, den Raum zu verlassen.
Dann gingen wir. Wir packten unsere Bündel und versammelten uns trotz der männlichen Blicke erneut unter freiem Himmel. Es gelang uns, die Reise bis zum Ende fortzusetzen und die uns von den Frauen anvertrauten Briefe und Stoffstücke zusammen zu setzen. Die Versammlung, auf der wir alle Probleme und Forderungen in eine gemeinsame Deklaration bringen wollten, konnten wir auf einen anderen Zeitpunkt verschieben. Und das taten wir auch. In Adana haben wir uns später wieder getroffen und eine gemeinsame Deklaration aus den Briefen verfasst.
Wie bei den Sufis, die in ihren Konventen verschiedene Stufen durchlaufen müssen, fing unsere eigentliche Aufgabe als Botinnen damit erst an. Allerdings auf vorhandenen Wegen...

Die Botinnen

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