Özgür Politika, 15.09.2001

Auch wir haben einen Tanz

Von Evrim ALATAS

(Anmerkung: Vor kurzem sind Frauen aus Kurdistan nach Istanbul gefahren, um dort mit Frauen, grösstenteils Intellektuellen, Schriftstellerinnen, Künstlerinnen etc,, zusammenzutreffen. Es war bereits das dritte Treffen dieser Art. Die ersten beiden Treffen fanden in Batman und Diyarbakir statt. Initiiert wurde die Aktion von der Soziologin Pinar Selek, die vor ein paar Monaten aus dem Gefängnis entlassen wurde. Sie war zwei Jahre inhaftiert, weil ihr die Schuld an einer Explosion im gedeckten Basar in Istanbul zugeschoben wurde, bei der mehrere Menschen getötet wurden. Gutachten belegen, dass es sich bei der Explosion nicht um einen Bombenanschlag handelte, sondern um eine Gasexplosion. Der Hintergrund des Komplottes gegen Pinar Selek, deren Verfahren weiter läuft, wird in ihrem soziologischen Interesse für die PKK vermutet. Im gleichen Verfahren Mitangeklagte befinden sich nach wie vor in Haft.)

Während ich diesen Text schreibe oder Sie diesen Text lesen, wird aufgrund des Angriffs auf die USA auf der Welt Kriegshetze betrieben. Jeder denkt dort, wo er sich gerade befindet, darüber nach, was die Welt erwartet und dass nichts mehr so sein wird wie früher.

Und zweifellos wird die Kriegshetze oder die daraus entstehenden Entwicklungen Einfluss auf uns alle haben. Aber ich möchte möchte im Namen der Hoffnung auf Frieden, im Namen der Unverschiebbarkeit der Erwartungen und Sehnsüchte von den Frauen erzählen, die sich in Istanbul getroffen haben. Denn dieses Treffen ähnelt einem Ast, der mitten im Feuer ergrünt. Ich bin voller Hoffnung...

Gehen wir eine Woche zurück. Sogar noch weiter und nach Diyarbakir. Es ist einer dieser strahlenden Herbstmorgen. Frauen warten mit Blumen. Es kommen Frauen aus Batman dazu, gemeinsam machen wir uns auf den Weg. Es ist in meinen Augen wie eine Reise durch einen Zeittunnel. Denn eine alte Frau nimmt das Mikrofon in die Hand und singt eine Melodie in diesem Bus, der an trockenem, leerem Gelände und Militärkontrollpunkten vorbeifährt. Ich denke, dass eine Landschaft, eine Stimme und eine Frau nur genau so sehr eins werden kann. Während sie mit hoher und zittriger Stimme dieses Lied vorträgt, in dem Schwermut, Erwartungen, Schmerz und alle damit verbundenen Begriffe Platz haben, werde auch ich ein bisschen zu der Erde dieser Gegend. Ich werde zu den kleinen Ziegelhäusern, zur Armut und Einsamkeit, die sich auf beiden Seiten der Strasse erstrecken.

Es sind Frauen im Alter von 17 bis 80 Jahren im Bus. Die Witze und Geschichten, die gesungenen Lieder, die Tänze, die getanzt werden, alle haben den gleichen Geruch, den gleichen Geschmack. Wie ich gesagt habe, Schwermut, Sehnsucht, Erwartung, Schmerz... Alles in einem Bus. Und dann Istanbul, das Treffen... Triller, Beifall, Nelken, Kennenlernen... Bald darauf tritt an die Stelle aller Begriffe das gegenseitige Erzählen und die Suche nach einer Lösung.

Die Frau aus Cizre, die im Bus gesungen hat, sitzt neben einer CHP-Frau. Erst singt die Frau aus Cizre ein langes Lied, dann die Gastgeberin. Um die beiden herum bildet sich ein Kreis. Und der Moment ähnelt einem mystischen Ritus. Später beginnen die Ansprachen. Und dieser Moment ähnelt einer internationalen Konferenz von Menschen, die in völlig verschiedenen Gegenden leben, von den entgegengesetzten Enden der Welt zusammen gekommen sind, sich über eine Dolmetscherin verständigen und bei denen alles verschieden ist, nur ihre Gefühle gleich.

Eine traditionell gekleidete kurdische Frau übernimmt das Mikrofon. Sie beginnt ihre Ansprache mit den Worten "Ez dayika Kurdane" und erzählt, was eine Frau oder Mutter in einer von Schmerz geprägten Gegend alles erleben kann. Alle männlichen und fremden Blicke liegen auf dieser Frau. Danach übersetzt eine junge Frau aus Batman vom Kurdischen ins Türkische. Die Köpfe blicken mal zur Übersetzerin, mal zu der sprechenden Frau. Es wird auf Lippen gebissen, die erste Reaktion wird der neben einem sitzenden Frau weitergegeben, die Augen werden gross. Die khakifarbenen Peiniger, von denen die kurdische Frau erzählt, wechseln ihr Aussehen in der Geschichte der vom Erdbeben betroffenen Frau, die danach das Wort ergreift und mit tränengefüllten Augen zu erzählen beginnt.

Diese Frau hat beim Erdbeben ihre Kinder verloren. Ihr Ehemann hat sie verlassen, von ihrer Familie wird sie ausgeschlossen. Sie wollte sich umbringen, aber aufgrund der Unterstützung ihrer Geschlechtsgenossinnen hat sie ihr Vorhaben aufgegeben. Die Frau erzählt, es wird von türkisch ins Kurdische übersetzt und die nebeneinander aufgereihten Frauen wischen sich mit ihren weissen Kopftüchern die Tränen aus den Augen. Dieser Schmerz hat den gleichen Geschmack.

Und dann beginnen die Vorschläge. Durch das Erzählen sind aus allen Problemen gemeinsame Fragen geworden. Als ob die Frau aus Cizre erlebt hätte, was die Frau aus Gölcük (Anm.: Stadt im Erdbebengebiet) erzählt hat. Und die Vorschläge gehen über die Landschaften, aus denen die Frauen stammen, hinaus. Es wird vorgeschlagen, dass die Erdbebenfrau in der kurdischen Gegend Rehabilitätion erhält. Die kurdische Frau fragt die Erdbebenfrau, wie sie ihr helfen können. Die Sprache kommt auf die Frauen aus Sirnak, die nicht dabei sein können. Es wird gefordert, das vierte Treffen in Sirnak stattfinden zu lassen.

Der letzte Tag... Inzwischen kennt jede jede. Zu griechischer Musik wird ein Rundtanz getanzt. Eine traditionell gekleidete kurdische Frau kommt dazu und steigt ein in den Sirtaki. Sie tanzen auch zu dem flotten lasischen (Anm.: LasInnen stammen vom östlichen schwarzen Meer in der Türkei) Stück "Oy Nurcanim Nurcanim", die kurdischen Frauen. Woanders wird den Erdbebenfrauen Bablekan beigebracht. Telefone werden genommen und gegeben. Die Erdbebenfrauen sagen: "So eine Begegnung habe ich das erste Mal erlebt". Auf dem Rückweg fahren die kurdischen Frauen durch Izmit und betrachten die zerstörten Häuser. Einen Teil ihrer Herzen lassen sie dort. Und die Schriftstellerinnen und Künstlerinnen sagen, "Wir haben Hoffnung bekommen, das ist es, was wir brauchen".

Die Welt wirft sich mitten in einen neuen Krieg. Von Mesopotamien aus, das schwerste Verwüstungen durch Krieg erlebt habt, erstreckt sich eine Hand bis ans Meer. Jetzt ist ein Tanz begonnen worden von Istanbul bis nach Cizre, in dem es Sirtaki gibt, Bablekan und Ciftetelli (Anm.: eine Art Bauchtanz).

Wenn es so ist, warum sollten wir uns unsere Hoffnungen nicht bewahren?

evrimevrim@hotmail.com