Separatismusgefahr wird relativiert, "islamische Gefahr" aufgewertet

Der 28. Februar 1997 ging als Tag des unblutigen postmodernen Putsches in die Geschichte der Türkei ein. An diesem Tag machten die Militärs gegen den damaligen Ministerpräsidenten Necmettin Erbakan von der islamischen Wohlfahrtspartei (Refah) mobil und unterbreiteten der Regierung einen Maßnahmenkatalog gegen die islamischen Kräfte.
Im Juni 1997 schließlich jagten die Militärs die Wohlfahrtspartei von Erbakan, die aus den Wahlen Ende 1995 mit 6 Mio. Stimmen als stärkste Partei hervorgegangen war, aus der Regierung.
Dieses Beispiel verdeutlicht, dass das Land in Wirklichkeit vom Militär regiert wird, und zwar auf der Basis von dessen eigener "Verfassung". In diesem Dokument mit der Bezeichnung "Politikdokument der Nationalen Sicherheit - Milli Güvenlik Siyaset Belgesi", werden die Grenzen der offiziellen Verfassung definiert und festgelegt, welche Tabus im Staat herrschen und wer als Feind zu gelten hat.
Das "Politikdokument der Nationalen Sicherheit" gilt in der Türkei als 'Geheime Verfassung' des wahren Machtzentrums des Staates. Es wurde während des Kalten Krieges Mitte der 60er Jahre formuliert und nach dem Militärputsch vom 12. September 1980 sowie erneut 1992 geändert. Zu seiner bisher letzten Überarbeitung kam der Nationale Sicherheitsrat am 31. Oktober 1997 zusammen.
In dem genannten Dokument haben die Generäle als die wahren Machthaber, als der unsichtbare "Staat im Staate", dem Volk zwei Hauptfeinde und vorrangige Angriffsziele genannt. Das erste und allgemein bekannte ist der "Separatismus", also der Kampf der Kurden um Gleichberechtigung, das zweite hingegen sind islamische Strömungen, die als "Fundamentalismus" und religiöser Fanatismus bezeichnet werden. Wenn man das Dokument genau studiert, fällt auf, dass die "islamische Gefahr" mit an erster Stelle genannt und besonders hervorgehoben wird. Wir lesen:
1. Separatistische und fundamentalistische Aktionen bilden eine Gefahr für den Staat und sollen vorrangig bekämpft werden.
2. Der politische Islam ist weiterhin eine Bedrohung für die Türkei.
3. Einige Kreise wollen den türkischen Nationalismus zum Rassismus umfunktionieren. Die faschistische Mafia will daraus profitieren. Dies ist auch eine Bedrohung für den Staat.
An dieser Stelle wird zum ersten Mal von einer faschistischen Mafia gesprochen! Bemerkenswert und wichtig ist auch Punkt 9:
9. Es sollen Neustrukturierungen bezüglich der Pflege der kulturellen und regionalen Besonderheiten vorgenommen werden. Die öffentliche Verwaltung ist von dieser Maßnahme ausgeschlossen.
Und schließlich wird der außenpolitische Richtungskurs bestimmt:
11. Die Ausrichtung der Türkei nach Westen darf nicht verändert werden. Das Ziel der Türkei bezüglich der Mitgliedschaft in der EU muss beibehalten werden. *1
Die Generäle haben durch die Änderungen in der "Geheimen Verfassung" den politischen Islam zu einer Gefahr ersten Ranges aufgewertet und die Gefahr des "Separatismus" damit quasi relativiert. Und außerdem haben die wahren Machthaber zum ersten Mal in der Geschichte der Türkei von "Neustrukturierungen bezüglich der Pflege der kulturellen und regionalen Besonderheiten" gesprochen. Dies bedeutet nichts anderes, als dass es in der Türkei außer der türkischen auch andere Kulturen und Ethnien gibt und dass sie durch Umstrukturierung des Staates berücksichtigt werden müssen.
Kann man von einem Staat wie dem türkischen, der angeblich einen Krieg gewonnen hat, erwarten, dass er von sich aus gegenüber den Besiegten Zugeständnisse macht? Ist es nicht viel naheliegender, dass hier auch von außen Druck ausgeübt wurde?
Die Tatsache, dass die USA aus wirtschaftlichen, aber auch militärstrategischen Gründen ein herausragendes Interesse an einer dauerhaften Befriedung des Bündnispartners Türkei haben mussten, macht es wahrscheinlich, dass sie die Militärs in Ankara zur Änderung der "Geheimen Verfassung" und weiteren Reformschritten drängten und im Gegenzug ihre Unterstützung für die "Operation Öcalan" signalisierten, die dann ein Jahr danach, im Herbst 1998 mit dessen Vertreibung aus Syrien begann und mit seiner Auslieferung in die Türkei im Februar 1999 endete.


*1 Hürriyet (H), 5.11.97; Özgür Politika (ÖP), 6.11.97; Nützliche Nachrichten (NN) 4/97

Die USA als alleinige Hegemonialmacht in einer monopolaren Welt