Aus: Marxistische Blätter 1/00
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ENGIN ERKINER,
DIE TÜRKEI - EINE MILITARISTISCHE, SUBIMPERIALISTISCHE MACHT

Auf dem OSZE-Gipfel von Istanbul im November 1999 wurden zwei wichtige Abkommen über den Bau von Pipelines, durch die Erdgas aus Turkmenistan und Erdöl aus Aserbaidschan über die Türkei in den Westen geleitet werden soll, unterzeichnet. Die nun vereinbarte Erdölleitung von Baku zu dem türkischen Mittelmeerhafen Ceyhan, deren Planung jahrelang unter Einmischung der USA Anlass für Konflikte zwischen den Ländern dieser Region gab, ist zwar sehr viel länger (und damit teurer) als Leitungen, die über russisches oder iranisches Gebiet führen, doch ist deren Trassenführung politisch genehm. Die Russische Föderation und der Iran - beide von den USA und der NATO als Konkurrenten bzw. als nicht vertrauenswürdig eingeschätzt - konnten umgangen werden. Unmittelbar nach dem Gipfel kamen türkische Waffenkäufe großen Stils ins Gespräch. Tausend deutsche Leopardpanzer und 400 Kriegshubschrauber aus französisch-deutscher Produktion sollen angeschafft werden. Die seit etwa zehn Jahren anhaltenden Bestrebungen, durch Aufrüstung und militärische Modernisierung die Türkei angriffsfähig zu machen, sind offenbar in eine besonders intensive Phase getreten. Gekauft wurden nicht nur leichte Waffen, sondern auch Panzer, Kriegsflugzeuge, Hubschrauber, Raketen (zuletzt Patriot-Raketen in den USA); in den nächsten fünf Jahren soll eine eigene Rüstungsindustrie aufgebaut werden. Schon heute ist die Türkei militärisch sehr viel weiter entwickelt als alle ihre Nachbarstaaten außer der Russischen Föderation; durch den seit 15 Jahren andauernden Krieg niedriger Intensität gegen die PKK verfügt sie über eine der erfahrensten Armeen der Welt, und zusammen mit den Spezialeinheiten und den Milizen (den sogenannten Dorfschützern) stehen in der Türkei heute rund eine Million Mann permanent unter Waffen. Im Ergebnis des Militärabkommens mit Israel werden die Piloten der türkischen Luftwaffe dort ausgebildet; im Mittelmeer finden türkisch-israelisch-amerikanische Manöver zusammen mit Jordanien statt. Die massive Aufrüstung der Türkei wäre nicht möglich ohne das Einverständnis der USA und der westeuropäischen NATO-Staaten. Sie richtet sich, anders als vielfach angenommen, in erster Linie nicht gegen den "inneren Feind" - der Krieg gegen die PKK ist weitgehend zum Stillstand gekommen -, und auch nicht gegen den Irak, Syrien, den Iran und Griechenland, sondern gegen die Russische Föderation.

Dazu einige Thesen:

o Ziel der USA und der NATO ist die Einkreisung, Schwächung und Zerstückelung der Russischen Föderation. Zum einen sollen die heute selbständigen ehemaligen Sowjetrepubliken, die zur Russischen Föderation nach wie vor enge wirtschaftliche Kontakte unterhalten, auf Distanz zu Russland gebracht, zum andern sollen Sezessionsbestrebungen der autonomen Republiken und Regionen innerhalb der Russischen Föderation gefördert werden. Durch die "Balkanisierung" der Welt, nämlich die Zerschlagung jener großen Staaten, die er zu seinen potentiellen Gegnern zählt, will der Westen seine Hegemonie stärken. Heute heißt das Opfer noch Russland, es sollte aber niemand überrascht sein, wenn morgen die Volksrepublik China oder Indien an die Reihe kommen.

o In dem Plan, den wirtschaftlichen und politischen Einfluss Russlands im Kaukasus und in Mittelasien zu beseitigen, kommt der Türkei noch größere Bedeutung zu als zur Zeit des Kalten Krieges. Da ein großer Teil der Völker Mittelasiens und des Kaukasus turkstämmige Muslime sind, ist die Türkei für Kontakte dorthin weit besser geeignet als die USA und andere westliche Länder. Dies gilt besonders für Aserbaidschan, Turkmenistan und Tschetschenien, trifft aber auch auf Usbekistan, Kasachstan, Kirgisien und sogar die Uiguren, ein Turkvolk in der Volksrepublik China, zu. Nach Aserbaidschan, Turkmenistan, Kasachstan, Usbekistan und Kirgisien - alles selbständige Staaten mit einer dem Türkischen ähnlichen Staatssprache - strahlt die Türkei bereits Fernsehprogramme aus. Diese fünf Länder und die Türkei haben auch beschlossen, ihr Alphabet zu vereinheitlichen. Darüber hinaus hat der Ordensführer Fetullah Hodscha, dessen Islaminterpretation in den Augen der türkischen Fundamentalisten als laizistisch gilt, zahlreiche halbreligiöse Schulen mit der Unterstützung der Türkei in den Turkrepubliken Mittelasiens eröffnet. Dabei hat die Türkei die volle Unterstützung der USA und der NATO, d. h. des imperialistischen Lagers. Als dessen ökonomischer Konkurrent in der Region scheidet sie aus, da ihr das Kapital fehlt, um die notwendigen Großprojekte bei der Erschließung der dortigen riesigen Erdöl- und Erdgasvorkommen zu finanzieren. Die Türkei kann hier nur Handlanger für die Monopole der USA und der übrigen westlichen Länder sein.

o Die Rolle, welche die Türkei als antirussischer Vorposten spielt, wurde ihr jedoch keineswegs von den USA und der NATO aufoktroyiert. Die diesbezüglichen Anforderungen des Westens passen bestens zusammen mit den eigenen Orientierungen. Die "große türkische Welt vom Mittelmeer bis zur chinesischen Mauer" hat bereits 1991, sofort nach der Auflösung der UdSSR, der damalige türkische Staatspräsident Özal beschworen; er brachte mit diesen Worten die Absicht zum Ausdruck, in das Vakuum, das der Zerfall der Sowjetunion hinterlassen hatte, als künftige neue Vormacht in der von Turkvölkern besiedelten Region vorzustoßen. Ein großer Teil der "Türken" außerhalb der Türkei leben in den mittelasiatischen Republiken und in der Russischen Föderation; "Türken" gibt es aber auch in der Volksrepublik China, im Irak, in Bulgarien, in Griechenland und auf Zypern. Da es illusorisch wäre, die "türkische Welt" mit ca. 200 Millionen Menschen in einem Staat organisieren zu wollen, bescheidet sich die Türkei mit dem Ziel, unter ihrer Führerschaft eine türkische Welt verschiedener Staaten mit sehr engen Beziehungen untereinander zu schaffen. Das Stadium bloßer Absichtserklärungen ist dabei längst verlassen. So hat die Türkei in den Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan um Berg-Karabach für Aserbaidschan Partei ergriffen, hat dessen Armee ausgebildet und mit Waffen versorgt; als "Freiwillige" kämpften türkische Faschisten in ihren Reihen. Die Türkei war an zwei - misslungenen - Putschversuchen beteiligt, durch die an die Spitze von Aserbaidschan und Usbekistan von ihr abhängige Regierungen gebracht werden sollten. Und zumindest während des ersten Kriegs der russischen Zentralmacht gegen die islamistischen Tschetschenen hat die Türkei den Tschetschenen Waffen geliefert, haben türkische Faschisten und Islamisten auf Seite der Tschetschenen gekämpft. Das erklärte Ziel der türkischen Faschisten, die "Befreiung der versklavten Türken und die Vereinigung aller Türken", war (und ist) offenkundig auch Ziel einflussreicher Teile des türkischen Staatsapparats.

o Die Türkei fungiert im Kaukasus, im Nahen Osten und im Balkan, ungeachtet ihrer mangelnden Wirtschaftskraft, als militaristischer subimperialistischer Staat. Das heißt, sie ist an den militärischen Interventionen der USA, der NATO und der westlich dominierten "Internationalen Gemeinschaft" in diesem äußerst konfliktträchtigen Gebiet aktiv beteiligt. Spätestens seit dem Golfkrieg. Die amerikanischen Flugzeuge, die den Irak bombardierten, sind von der Militärbasis Incirlik in der Nähe von Adana gestartet. Bis heute starten von dort aus die "Kontroll"-Flugzeuge der USA und Großbritanniens bzw. die Flugzeuge, die den Irak angreifen. Mit der Begründung, es gehe um die Verfolgung der PKK, ist die Türkei in der jüngsten Vergangenheit immer wieder in den Nord-Irak eingedrungen - sie hat dabei versucht, die demografischen Strukturen dieses Gebiets zu verändern, nämlich die dort lebenden Kurden zur Auswanderung zu zwingen und so den Turkmenen, die in der Region Kirkuk mit ihren reichen Erdölvorkommen leben, zu mehr Einfluss zu verhelfen. Nicht nur im Nord-Irak hat die Türkei, ohne die offiziellen Grenzen zu verändern, ihren Einflussbereich weit vorgeschoben. Nord-Zypern ist faktisch eine türkische Kolonie; in der gesamten "großen türkischen Welt vom Mittelmeer bis zur chinesischen Mauer" ist der türkische Geheimdienst aktiv, sei es bei Anschlägen, bei Putschversuchen, oder, wie vor wenigen Monaten, bei der Entführung eines PKK-Mitgliedes in Moldawien.

o Der militaristische Subimperialismus der Türkei dient in erster Linie den Interessen der USA. Mit dem Militärabkommen zwischen der Türkei und Israel haben die USA für ihre Politik in dieser Region, deren Bedeutung in den kommenden Jahren noch zunehmen wird, eine sichere Basis geschaffen. Darüber hinaus hat Ministerpräsident Ecevit während seines USA-Besuches vor einigen Monaten ein wichtiges Abkommen beider Länder unterzeichnet. Danach soll in Südostanatolien, wo besonders viele Kurden leben, eine "Freihandelszone" entstehen; US-Unternehmen, insbesondere Textilunternehmen, sollen dort investieren und die dort produzierten Waren zollfrei in die USA exportieren können. Die Türkei ist einerseits Kandidatin für einen EU-Beitritt, andererseits ist sie bestrebt, nicht nur die militärischen, sondern auch die wirtschaftlichen Beziehungen zu den USA zu intensivieren. Wahrscheinlich werden die USA versuchen, mit Hilfe der Türkei die Bemühungen Deutschlands, seinen Einfluss im Nahen Osten und im Kaukasus auszuweiten, zu hintertreiben. Dies dürfte auch ein Grund dafür sein, dass die USA so auf die Aufnahme der Türkei in die EU drängen. Die rot-grüne BRD-Regierung hat die wichtige und vielfältige Rolle der Türkei begriffen. Deshalb möchte sie, anders als ihre Vorgängerin, die Beziehungen zur Türkei enger gestalten und diese in die EU aufnehmen. (Die CDU/CSU ist anscheinend in dieser Hinsicht rückständiger.) Die Türkei wird in den nächsten Jahren ein wichtiger Schauplatz des Machtkampfes zwischen den USA und der BRD werden.

Aus dem Türkischen übersetzt von Gisela Blomberg.