Treffen von Wahlbeobachterinnen und Beobachtern unterstützt den Parlamentsboykott der kurdischen Abgeordneten

Am 27.06.11 fand im Bundestag eine Veranstaltung zur Bewertung der Situation nach den Wahlen in der Türkei statt. Auf Einladung des MdBs und Mitglieds der parlamentarischen Versammlung des Europarates (PACE) Andrej Hunko (Die Linke), der ebenfalls die Wahlen in der Türkei beobachtet hatte, kamen weitere Wahlbeobachterinnen und Beobachter, unter ihnen MdB Heidrun Dittrich (Die Linke), MdB Harald Weinberg (Die Linke), Dr. Nick Brauns (Kurdistan Solidaritätskomitee Berlin), der Soziologe Martin Dolzer und etliche weitere Teilnehmerinnen von Wahldelegationen und Interessierte.
Zunächst fand ein Erfahrungsaustausch über die unterschiedlichen Erfahrungen während der Wahlen in den kurdischen Gebieten statt. In den meisten besuchten Regionen waren Unregelmäßigkeiten, sowie undemokratische und repressive Vorgehensweisen an der Tagesordnung. Konkret schilderten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Delegationen massive Betrugsversuche und Einschüchterungsversuche von Seiten des Staates. Andrej Hunko erklärte, dass schon allein der Rahmen der Wahlen u.a. aufgrund der 10% Hürde und fehlender Medienfreiheit problematisch sei. Die Journalistinnen und Journalisten würden in einem Klima der Angst und Einschüchterung leben. Insbesondere die Massenverhaftungen im Rahmen des KCK-Verfahrens auch im Vorfeld der Wahlen problematisieren die Situation weiter.

Delegationsteilnehmerinnen und Teilnehmer berichten von flächendeckenden massiven Wahlbetrugsversuchen
Während der Wahlen kam es zu verschiedenen Benachteiligungen und Formen von Wahlbetrug gegen den Wahlblock für Arbeit, Freiheit und Demokratie, dem auch die linke prokurdische BDP angehört. Der Soziologe Martin Dolzer fasste seine Beobachtungen und die Berichte weiterer 140 DelegationsteilnehmerInnen aus aller Welt zusammen: „Aufgrund der Vielzahl von beobachteten Verstößen gegen türkisches und internationales Recht kann die Parlamentswahl 2011 keinesfalls als rechtsgemäße, allgemeine, freie, geheime und demokratische Wahl bezeichnet werden. Gravierende Verstöße gegen türkische Gesetze und Verordnungen sowie internationale Standards waren kein Einzelfall, sondern eine systematische und flächendeckende Praxis der versuchten Einschüchterung, Bedrohung und Wahlfälschung.“
So wurde vor den Wahlen der Bereich, in dem sich Sicherheitskräfte nicht aufhalten dürfen von 100m auf 15m Entfernung von der Wahlurne verringert. Nach Aussage der Beobachtungsgruppen wurde aber selbst dieser Abstand flächendeckend nicht eingehalten, die Menschen wählten stellenweise unter Gewehrläufen. Dies alleine stellt schon einen massiven Eingriff dar. M. Dolzer schilderte jedoch, dass die Menschen bereits im Vorfeld der Wahlen systematisch von Sicherheitsbehörden u.a dadurch eingeschüchtert wurden, dass ihnen mit dem Entzug von Holzlieferungen, Weiderechten, Krankenversorgung und anderem gedroht worden war. Auch die Bundestagsabgeordnete Heidrun Dittrich (Die Linke), berichtete aus der von ihr zu den Wahlen besuchten Region Ardahan, von einer Bedrohungssituation der Wählerinnen und Wähler durch Polizei und Militär. Vor dem Hintergrund dieser Repressionen und Wahlbetrugsversuchen bewerteten alle Anwesenden, das an sich schon sehr positive errungene Ergebnis von 36 Sitzen des Blocks für Arbeit, Demokratie und Freiheit als besonderen Erfolg.

MdB Harald Weinberg: „Die Türen für eine politische Lösung sollten zugebombt werden“
Leider begann am Abend der Wahl schon vielerorts weitere Repression gegen die Bevölkerung. Der Abgeordnete der Partei „Die Linke“ Harald Weinberg, der sich zu den Wahlen in der kurdischen Region Şırnak befand, berichtete von einem Sprengstoffanschlag auf feiernde Kurdinnen und Kurden in seiner unmittelbaren Nähe. Da der Wahlblock ein sehr gutes Ergebnis in der extrem militarisierten Region Şırnak erreichen konnte, feierten viele tausend Menschen den Wahlsieg in der Provinzhauptstadt Şırnak. Bereits am frühen Abend erklärte einer der drei gewählten unabhängigen Kandidaten aus der Region, Hasip Kaplan, die Menschen sollten sich zerstreuen, da Provokationen zu befürchten seien. Als die Menschen sich daraufhin zerstreuten und auch die Delegation auf dem Weg zum Hotel war, detonierte ein Sprengkörper in 10m bis 15m Entfernung von der Delegation des MdB, der in eine Gruppe Feiernder geworfen worden war. Es gab mindestens drei schwer Verletzte, unter anderem eine junge Frau, der ein Splitter aus der Bombe im Kopf stecken blieb. Sie musste daraufhin in ein künstliches Koma versetzt werden, da soweit die Delegation um Harald Weinberg informiert war, die Verletzung inoperabel war. Es gab viele weitere Verletzte. Krankenwagen kamen mit massiver Verzögerung an, so dass die Verletzten mit Privatwagen ins Krankenhaus gebracht werden mussten. Anstatt dass die Kriminalpolizei zur Sicherung und forensischen Untersuchung des Tatortes gekommen wäre, begannen Jandarma (Militärpolizei) mit Gasgranaten in die flüchtende Menschenmenge zu schießen.
Erst nach Intervention von Verantwortlichen des Wahlblocks und der Delegation konnte die Jandarma dazu bewegt werden auf Distanz zu gehen, sie schoss jedoch weiter mit Gas. Zu einem besonders drastischen Vorfall kam es im örtlichen Krankenhaus, in dem sich Angehörige der Verletzten befanden und aufgrund Personalmangels die Erstversorgung unterstützten. Die Jandarma definierte dies als Versammlung, umstellte das Krankenhaus und schoss Tränengasgranaten durch die Fenster. MdB Harald Weinberg erklärte dazu: „Dieses unglaubliche Angriff auf ein Krankenhaus ist jenseits der Genfer Konvention. Er stellt einen Versuch dar, die Tür, die für eine friedliche Lösung aufgegangen war, zuzubomben.“ Er kritisierte weiter scharf, dass sich die deutsche Presse kaum für den Vorfall interessierte, während eine ähnliche Detonation in der Nähe eines MdB in anderen Ländern zu tagelangen Schlagzeilen in den deutschen Medien geführt hätte. Weitere schwere Übergriffe wurden Berichten des Soziologen Martin Dolzer zufolge in Van und nach Berichten von Andrej Hunko in Diyarbakır von Delegationen beobachtet.

MdB Andrej Hunko: „Das Vorgehen des Staates nach den Wahlen ist als kalter Putsch zu charakterisieren“
Auch das Vorgehen des türkischen Staates nach den Wahlen, insbesondere die fortgesetzte Inhaftierung von fünf kurdischen gewählten Vertreterinnen und Vertretern und Aberkennung des Mandats des mit ca. 80.000 Stimmen gewählten Kandidaten des Wahlblocks Hatip Dicle wurde von allen Anwesenden scharf kritisiert. Der Regierungspartei AKP fehlten nach dem Wahlergebnis (326 Sitze) vier Sitze zur einer 3/5 Mehrheit (330 Sitze), mit der ein Verfassungsreferendum über einen Verfassungsentwurf ohne Einbeziehung der Opposition möglich wäre. Anstelle von Hatip Dicle wurde nun schon eine AKP-Abgeordnete ernannt, so dass die AKP nun über 327 Sitze in der Großen Nationalversammlung verfügt. Die Aberkennung dieses und weiterer Mandate stellen deswegen aus Sicht der Anwesenden einen Versuch dar diese Mehrheit doch noch zu erreichen. MdB Andrej Hunko kritisierte dieses Vorgehen als „kalten Putsch.“ Er forderte weiterhin in einem Gespräch den Staatsminister im Auswärtigen Amt Werner Hoyer auf, „die Beitrittsverhandlungen der Türkei zur EU sofort einzufrieren, bis die Situation geklärt ist.“

In einer gemeinsamen Erklärung wird sich mit dem Wahlblock solidarisiert
Aus Protest gegen den Entzug der Mandate und die fortgesetzten Inhaftierung kurdischer gewählter Vertreterinnen und Vertreter hat der Wahlblock entschlossen die Teilnahme an den Parlamentssitzungen zu boykottieren. Die Anwesenden beschlossen den Wahlblock, Hatip Dicle und die fünf inhaftierten Abgeordneten u.a. durch eine gemeinsame Erklärung zu unterstützen. Aufgrund des Vorgehens der türkischen Regierung, wird die Gefahr eines Bürgerkrieges immer realer, da die Geduld und Leidensfähigkeit der kurdischen Bevölkerung in allen beobachteten Regionen nach jahrelangen aufrichtigen, aber einseitigen Friedensbemühungen von kurdischer Seite, nicht mehr strapazierfähig sind. Insbesondere vor diesem Hintergrund, ist nach Ansicht sämtlicher TeilnehmerInnen die Reaktion der internationalen Politik und Öffentlichkeit mitentscheidend, um die türkische Regierung von ihrer Eskalationspolitik abzubringen. Die europäischen und insbesondere die deutschen Medien werden dieser Verantwortung jedoch keineswegs gerecht, sie schweigen bis auf wenige Ausnahmen den Konflikt tot oder behandeln ihn als Terrorproblem.

Michael Knapp Juni 2011


ISKU | Informationsstelle Kurdistan