Wahlen im Polizei- und Militärstaat Türkei

Am 12.06.2011 fanden Parlamentswahlen in der Türkei statt. Während die Regierungspartei AKP versucht, die Wahlen im Ausland als frei und demokratisch darzustellen, wird immer deutlicher, dass es sich hierbei um Wahlen handelt, deren Umstände und Ablauf eher an Militärdiktaturen oder Polizeistaaten erinnern als an einen demokratischen Rechtsstaat. Insbesondere die kurdischen Provinzen, in denen seit mehr als 30 Jahren Krieg gegen die kurdische Bevölkerung und ihre Guerilla geführt wird, wurden zum Schauplatz aller nur erdenklichen Formen von Wahlbetrug, Erpressung und staatlicher Gewalt. Aufgrund der Vielzahl von beobachteten Verstößen gegen türkisches und internationales Recht, kann die Parlamentswahl 2011 keinesfalls als rechtsgemäße, allgemeine, freie, geheime und demokratische Wahl bezeichnet werden. Gravierende Verstöße gegen türkische Gesetze und Verordnungen sowie internationale Standards waren kein Einzelfall, sondern eine systematische und flächendeckende Praxis der versuchten Einschüchterung und Wahlfälschung.
Dieses Bild ergibt sich, wenn man die Berichte von den mehr als hundert Wahlbeobachter_innen aus verschiedensten Ländern und verschiedensten gesellschaftlichen Positionen analysiert und mit der Berichterstattung in kurdischer und türkischer Presse abgleicht.

DAS VORFELD DER WAHLEN
Während im Vorfeld der Wahlen schon die Repressionsschraube angezogen worden war, und erneut tausende kurdische Politker_innen, Aktivist_innen und Mitarbeiter_innen der linken, prokurdischen BDP oder ihrer Stadtverwaltungen festgenommen worden waren, setzte die Regierungspartei AKP gleichzeitig auf Bestechung der verarmten Bevölkerung durch Geld- und Sach- „Geschenke“, die gegen einen Schwur auf den Koran für die AKP zu wählen, ausgehändigt worden sind. Daneben setzte der Staat auf Einschüchterung und Bedrohung der Bevölkerung insbesondere in ländlichen Gebieten, sowohl mit Hilfe der Polizei, des Militärs oder aber auch mit den über 70.000 paramilitärischen Dorfschützern, die in den kurdischen Provinzen stationiert sind. Weiterhin wurde das Wahlgesetz geändert und ermöglicht, dass sich Sicherheitskräfte in einem Umkreis um die Wahlurne von 15 Meter aufhalten konnten. Dies führte zu einer Militarisierung der Wahlen und der türkische Staat präsentierte sich auf diese Weise unter schweren Waffen erneut als Besatzungsmacht in Nordkurdistan.

DER WAHLTAG
Der Wahltag war, wie es bereits die martialische Rhetorik der Provinzgouverneure und des Ministerpräsidenten Erdoğan und die Wahlgesetzänderung erwarten ließen, geprägt von Einschüchterung, Betrugsversuchen und Übergriffen auf die Bevölkerung. Diese Widrigkeiten waren so breit und massiv, dass hier nur einige der von unterschiedlichen Delegationen beobachteten Angriffe aufs Wahlrecht dargestellt werden können.
So waren die Wahllokale häufig massiv mit Militär oder Polizei besetzt, die sich bewaffnet, direkt an den Urnen, innerhalb der verbotenen 15-Meter-Zone aufhielten und durch Präsenz die Bevölkerung einschüchterten. Es konnten Aussagen von Mitgliedern von Wahlkommissionen aufgenommen werden, in denen bestätigt wird, dass diese von den Sicherheitskräften dazu gezwungen worden waren, zu behaupten, sie hätten diese zu Hilfe in die 15-Meter-Zone gerufen.
In einigen Fällen wurde die Bevölkerung von den staatlichen Kräften darauf „hingewiesen“, die AKP zu wählen, Soldaten schauten in die Wahlkabinen und kreierten so ein Bedrohungsszenario, das nach Augenzeug_innenberichten dafür sorgte, dass für viele schon allein aus Angst keine freie Wahl möglich war. Wahlbeobachter der BDP, denen gesetzlich zustehen die Wahlen beobachten zu können, wurden häufig festgenommen, geschlagen oder aus dem Wahllokal entfernt. In Bîsmîl, in der Region Amed (Diyarbakır), wurde ein Wahlbeobachter der BDP so heftig von Dorfschützern misshandelt, dass er schwer verletzt ins Krankenhaus von Amed (Diyarbakır)aufgenommen werden musste. Dieses Vorgehen ist kein Einzelfall. Berichte hierüber gibt es aus den gesamten kurdischen Provinzen. Die Sicherheitskräfte versuchten systematisch Auseinandersetzungen in den Wahllokalen zu provozieren, um einerseits die Beobachter_innen der BDP auszuschließen und damit ungestört in den Wahllokalen Vorgehen zu können.
Weiterhin wurde über Fälle berichtet, in denen die Jandarma anstelle der Dorfbevölkerung die Wahlzettel ausfüllten.
Häufig wurden systematische Verstöße wie unversiegelte oder unzureichend versiegelte Wahlurnen festgestellt. Frauen wurde in manchen Dorfschützerdörfern das Wahlrecht verweigert, Männer und Söhne konnten die Stimme an ihrer Stelle abgeben.
Diese Liste mit Verstößen lässt sich nahezu unbegrenzt weiter fortführen, soll jedoch nur einen Einblick bieten. (zur weiteren Lektüre Empfehlen wir die gesammelten Berichte der Wahldelegationen auf der Extraseite von www.isku.org). Eine Delegation, die sich in der kurdischen Stadt Panos (Patnos) befand, ermittelte, dass mindestens die Hälfte aller abgegebenen Stimmen aufgrund von Wahlmanipulation durch der AKP nahe stehende Kräfte (Sicherheitskräfte, Wahlkommissionen, Dorfschützer etc.) mehr als zweifelhaft sind. Kurz nach den Wahlen wurde der Bürgermeister der Stadt, Yusuf Yilmaz, zu 6 Jahren und 3 Monaten Haft im Rahmen des KCK-Verfahrens verurteilt.

ÜBERGRIFFE IM ANSCHLUSS AN DIE WAHLEN
Nach dem überwältigenden Sieg des linken Blocks für Demokratie, Arbeit und Freiheit (36 unabhängige Kandidat_innen, zuvor 20) kam es vielerorts zu schweren staatlichen Übergriffe auf die feiernde kurdische Bevölkerung. Einer der schwersten Übergriffe geschah in der kurdischen Stadt Şirnex (Şırnak), als eine Handgranate in eine Menge feiernder Menschen geworfen wurde. Etwa 20 Personen wurden dabei verletzt eine davon schwer. Dieses Vorgehen entspricht der typischen Praxis türkischer Geheimdienstkräfte. Statt der Bevölkerung zu helfen griffen in Folge türkische Sicherheitskräfte die Menschenmenge an und Verletzte weitere Teilnehmer_innen. Dabei wurden auch die Scheiben des Krankenhauses, in dem sich die Verletzten des Anschlags befanden, zerstört und Tränengas in die Innenräume geschossen.
Auch in der kurdischen Stadt Sêrt (Siirt) wurde eine Feier über den Wahlsieg der kurdischen unabhängigen Kandidat_innen heftig von der Polizei mit Panzern, Knüppeln und Gasgranaten angegriffen. Dabei wurden mindestens drei Personen schwer verletzt. Insbesondere viele der Kinder, die an der Feier teilgenommen hatten liefen Gefahr von Panzern zerquetscht zu werden. Auch mehrere hundert im BDP-Gebäude anwesende Personen wurden verletzt, als die Polizei Gas durch die Fenster hineinschoss. Dutzende wurden festgenommen.
Auch in der kurdischen Großstadt Wan (Van) griff die Polizei Feiernde an und verletzte viele. Eine dort vor Ort befindliche Delegation beobachte z.B. folgenden Übergriff: „In einem Fall wurde ein passierender Kleinbus und deren Insassen von ca. 10 behelmten Polizist_innen angegriffen. Die Türen wurden aufgerissen, es wurde brutal mit Schlagstöcken auf die Insassen eingeprügelt, die Fenster wurden zerschlagen. Schließlich wurde der blutüberströmte Fahrer aus dem Fahrzeug gezerrt und unter weiteren Prügeln zum Gebäude des Gouverneurs geschleppt.“ Übergriffe dieser Art fanden in vielen kurdischen Städten statt.

FAZIT – TÜRKISCHER STAAT SETZT AUF KRIEG
Es ist offensichtlich, dass diese Wahl unter Bedingungen abgehalten wurde, die es der Bevölkerung massiv erschwerten ihren politischen Willen auf diese Weise kund zu tun. Es war deutlich wie offen und ohne jegliche Scheu der türkische Staat auch vor den Augen internationaler Wahlbeobachterdelegationen seine Betrugsversuche fortsetzte. Der Erfolg des kurdischen Wahlblocks um die BDP kann besonders in diesem Kontext nicht hoch genug eingeschätzt werden. Die Bevölkerung ließ sich nicht bestechen, bedrohen oder einschüchtern, sondern hielt an ihrer politischen Entscheidung für die kurdische Freiheitsbewegung fest. Dies zeigt deren starke Verankerung und dass ihr Kampf um den Aufbau eines Lebens jenseits von Patriarchat und Feudalismus, ein Kampf gegen Nationalismus und Rassismus und für ein Leben in basisdemokratischen Strukturen von der Bevölkerung als der eigene angesehen wird. Während der türkischen Regierung offensichtlich an der Herbeiführung eines Bürgerkriegs gelegen zu sein scheint. Sie eskaliert trotz ständiger Friedensangebote die Lage durch Kriegsverbrechen, Inhaftierungen, hohe Haftstrafen für kurdische Politiker und Politikerinnen und nur als faschistisch zu bezeichnende Rhetorik, den Konflikt immer weiter. Sie will scheinbar weiterhin die kurdische Freiheitsbewegung politisch, militärisch und juristisch vernichten – ein Vorhaben an dem seit über 30 Jahren jede türkische Regierung gescheitert ist. Auch die Herrschenden in Europa und den USA unterstützen diese Politik mit Repression gegen die kurdische Bewegung in Europa, Waffenlieferungen, Geheimdienstzusammenarbeit etc. Die AKP soll der neoliberale Bündnispartner der westlichen Mächte sein und dient in diesem Zusammenhang als „Rolemodel“ für einen „gemäßigtem“ Islam, der Märkte und Strukturen marktradikalen sowie imperialistischen Interessen unterordnet. Die kurdische Freiheitsbewegung wird aufgrund ihres großen emanzipatorischen Potentials und ihres Beispielcharakters, wie auch ihrer Resistenz gegenüber Instrumentalisierungsversuchen auch von den europäischen Staaten und den USA als Feindin angesehen.
Eine friedliche Lösung der kurdischen Frage wäre einfach. Gespräche mit BDP, PKK und dem von der kurdischen Bevölkerung als ihre politische Vertretung gesehenen Abdullah Öcalan stellen die einzige Chance auf ein Ende des Konflikts dar. Weiterhin bietet eine solche Lösung der kurdischen Frage die Möglichkeit einer emanzipatorischen Entwicklung in der Türkei und die Entwicklung einer linken Alternative im mittleren Osten.

Delegation aus Hamburg und Berlin, 15.06.2011