Delegationsbericht „Ziviler Freitag“ in Wan

Während es auf die Wahlen am 12.06. zugeht, steigert sich die Militarisierung der Großstadt Wan. An vielen Ecken stehen größere Gruppen von Polizeieinheiten und Wasserwerfer, Räumpanzer und Schützenpanzer der Polizei und von Spezialeinheiten. Zivilpolizisten und Geheimdienstmitarbeiter filmen alle „auffälligen“ Bewegungen in der Stadt und beschatten schon in den Morgenstunden das Hotel in dem unsere Delegation wohnt.

Am 21.03.2011, dem kurdischen Widerstandsfest Newroz, begann eine Kampagne zivilen Ungehorsams, die breite Teile der kurdischen Gesellschaft erfasste. Neben Friedenszelten, die immer wieder zum Ziel schwerer Polizeiübergriffe geworden waren, spricht die Kampagne auch Menschen in ihrer Religionsausübung an. Der sunnitische Islam ist in der Türkei Staatsreligion und wird von der Regierungspartei AKP über das Religionsministerium, dem alle Imame angehören müssen, geprägt. Nicht-sunnitische Personen werden vom türkischen Staatsislam systematisch diskriminiert und die türkische Staatspolitik umgesetzt. Getöteten Guerillas beispielsweise wurde häufig eine Beerdigung mit der Begründung verweigert, es handele sich um Terroristen.

So gehört es ebenfalls zur politischen Praxis des zivilen Ungehorsams, den Staatsimamen den Boden zu entziehen und eine Art linke „Theologie der Befreiung“ zu entwickeln, die sich auch gegen sexistische und rassistische Unterdrückung richten soll.

Im Rahmen dieser Kampagne werden beispielsweise zivile Freitagsgebete außerhalb der staatlich kontrollierten Moscheen durchgeführt, an denen sich häufig auch die Frauenbewegung beteiligt. Da der religiöse Konservatismus eines der wichtigsten Standbeine der AKP ist, sieht sie in diesen Aktionen einen direkten Angriff auf ihre Machtbasis. So fanden mehrfach Polizeiangriffe auf die Veranstaltungen statt.
Am Freitag, dem 10.06.11, beobachteten wir als Delegation das zivile Freitagsgebet in Wan und nahmen an der anschließenden Kundgebung und Demonstration teil. Zum Gebet fanden sich etwa 1500 Menschen ein. Polizei und Geheimdienst waren massiv mit bewaffneten zivilen und uniformierten Kräften präsent, Räumpanzer, Wasserwerfer, Schützenpanzer und anderes schweres Gerät standen in Sichtweite.
Insbesondere die zivilen staatlichen Einheiten provozierten die Anwesenden durch ständiges Filmen und Anfertigen von Porträtfotografien von TeilnehmerInnen. Hier fiel insbesondere auf, dass jeder der mit unserer Delegation sprach, danach vernommen, massiv abfotografiert und abgefilmt wurde. Wir werten dies als Versuch des türkischen Staates, die Bevölkerung von den Menschenrechtsdelegationen fernzuhalten und einzuschüchtern. Im Anschluss an das Gebet fand eine Kundgebung statt, auf der unter anderem die unabhängige Kandidatin und Anwältin Aysel Tuğluk sprach. Es war eine sehr kraftvolle Versammlung, auf der Parolen gegen Repression und für die PKK und Abdullah Öcalan gerufen wurden. Für große Freude sorgte die Nachricht vom Übertritt eines einflussreichen Stammes zur Unterstützung der unabhängigen Kandidaten des Wahlblocks für Arbeit, Demokratie und Freiheit. Der Wahlblock setzt sich maßgeblich aus den Reihen der BDP sowie türkischen linken und linksradikalen Parteien und Gruppierungen zusammensetzt. In einer Rede thematisierten die anwesenden Wahlbeobachtungsdelegationen aus Frankreich und Deutschland die Angriffe auf Guerilla und Zivilbevölkerung und erklärten, dass für eine politische Lösung der kurdischen Frage Gespräche mit allen Parteien, PKK und Herrn Abdullah Öcalan eingeschlossen notwendig seien. Sie forderten Freilassung sämtlicher politischer Gefangener einschließlich Abdullah Öcalan.
Diese Rede wurde von der Bevölkerung stark begrüßt.

Anschließend demonstrierten wir mit einer großen Menschenmenge, die sich spontan anschloss und sicherlich mehrere Tausend TeilnehmerInnen betrug durch die Stadt Wan. Im Anschluss versuchten staatliche Kräfte, anscheinend von unserer Rede gestört, die DelegationsteilnehmerInnen einzuschüchtern, indem sie ihnen auf Schritt folgten, alles was sie sprachen notierten und sie verbal attackierten. Seit dem stehen Delegationen unter Dauerbeobachtung. Dies ist eine typische Praxis um Delegationen einzuschüchtern, zu demoralisieren und ihre Arbeit zu behindern, der wir nicht bereit sind nachzugeben. Dies gibt den TeilnehmerInnen an den Delegationen einen kleinen Eindruck von dem, was die kurdische Bevölkerung alltäglich zu erleben hat und erlebt. Selbst wenn Menschen die Delegationen im Hotel aufsuchen, werden sie registriert und bedroht.

Insgesamt ist die Stimmung der Bevölkerung in Wan trotz der fortschreitenden Militarisierung gut und entschlossen. Seit Jahren ist die Hand der kurdischen Bewegung zum Frieden ausgestreckt, beantwortet wurde diese bis jetzt nur mit Kriegsdrohungen, Massakern und Verhaftungen. Sollte die Regierung diese Politik der gewaltförmigen Eskalation auch nach den Wahlen fortsetzen, wurde in vielen Gesprächen deutlich, dass die Geduld der Bevölkerung sehr bald ein Ende haben könnte und Bürgerkrieg eine naheliegende Zukunftsperspektive ist.